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1 Wandlungen der Unterwelt bei Thomas Mann und James Joyce Inauguraldissertation zur Erlangung der Doktorwürde der ...

Wandlungen der Unterwelt bei Thomas Mann und James Joyce

Inauguraldissertation zur Erlangung der Doktorwürde der Philosophischen Fakultät der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Bonn

vorgelegt von

Lena Sundheimer aus Adenau

Bonn 2013

Erstgutachter: Prof. Dr. Eva Geulen Zweitgutachter: Prof. Dr. Véronique Gély

Tag der mündlichen Prüfung: 30 November 2012

Inhaltsverzeichnis Einleitung …....................................................................................................................... S. 7 Forschungsstand …............................................................................................................. S. 8 1. Literarische Vorläufer …..................................................................................... S.16 1.1 Unterwelten in der antiken Literatur …............................................... S.16 1.1.1 Die Nekyia in der homerischen Odyssee …........................... S.16 1.1.2 Aeneas' Reise in den Orkus..................................................... S.19 1.2. Christliche Höllenfahrten …................................................................. S.22 1.2.1 Die Hölle in der Bibel …....................................................... S.22 1.2.2 La Divina Commedia.......…................................................... S.26 1.2.3 Die Historia von D. Johann Fausti ........................................ S.29 1.3 Mythologische Figuren ….................................................................... S.33 1.3.1 Hermes …............................................................................... S.33 1.3.2 Dionysos …............................................................................ S.36 2. Hölle und Hades im Werk Thomas Manns …..................................................... S.38 2.1 Der Tod in Venedig …............................................................................S.38 2.1.1 Todesboten …......................................................................... S.39 2.1.2 Stadt des Todes – Venedig …................................................. S.48 2.1.3 Erkenntnis als Folge der Hadesfahrt Aschenbachs …............ S.51 2.1.4 Der Traum als Zugang zur Katabasis in das Unbewusste .…. S.53 2.1.5 Tadzio – Prisma mythologischer Figuren …...........................S.55 2.1.6 Aschenbach – Leistungsethiker im dionysischen Rausch …. S.57 2.1.7 Mythisierung und Entmythisierung …................................... S.60 2.2 Wagners Walküre als Gefilde des Hades …........................................... S.62 2.2.1 Wendelin als Hermes Psychopompos …................................ S.62 2.2.2 Erkenntnis im Rahmen der Kunst …...................................... S.63 2.2.3 Der Inzest – Schöpfertum aus Leidenschaft …...................... S.68 2.3 Höllenmotivik in Mario und der Zauberer …................................. S.70 2.3.1 Torre di Venere – Topographie der Hölle …........................... S.70 2.3.2 Cipollas Zauber – Teuflische Magie ….................................. S.72 2.3.3 Cipolla als Allegorie des faschistischen Machtanspruchs …. S.75 2.4 Unterweltliche Motive in Die Betrogene …......................................... S.78 2.4.1 Anna – eine teuflische Figur? ….............................................S.78 2.4.2 Der Ausflug nach Schloss Holterhof …...…...........................S.80 2.4.3 Der Tod als großes Mittel des Lebens …............................... S.82 2.4.4 Mythisierung und Entmythisierung …................................... S.83 2.5 Hölle und Hades im Zauberberg ….......................................................S.84 2.5.1 Vertreter der Unterwelt ..…..................................................... S.86 2.5.2 Hans Castorp – ein „Sorgenkind des Lebens“....................... S.97 2.5.3 Die Reise zur Schattenwelt des Berghofes ….........................S.99 2.5.4 Der Traum als Zugang zur internalisierten Unterwelt.............S.101 2.5.5 Ausleuchtung des Inneren ….................................................. S.108 2.5.6 „Versuchung der Hölle“ - Spiritistische Sitzungen …............ S.110 2.5.7 Inferno des Schlachtfeldes …................................................. S.112 2.6 Die Hölle auf Erden – Doktor Faustus …............................................. S.116 2.6.1 Prädestination Adrians …....................................................... S.116 2.6.2 Lehrjahre Adrians – Dämonologie statt Theologie …............ S.118 2.6.3 Esmeralda – Erste Berührung mit dem Teufel …................... S.120 2.6.4 Teufelsgespräch ….................................................................. S.121

2.6.5 Niederfahrt in die Hellen – Nachtmeerfahrt ….......................S.126 2.6.6 Versuche des Durchbruchs zur Welt und zum Leben.............. S.128 2.6.7 Das Werk Adrian Leverkühns – Zeugnis der Hoffnung ….....S.132 2.6.8 Höllenfahrt Deutschlands – eine Allegorie …........................ S.136 2.7 Die Unterwelt im Werk Thomas Manns – ein Resumée ....................... S.139 3. Hölle und Hades im Werk James Joyces …........................................................ S.142 3.1 „Grace“ - Umkehrung der Divina Commedia ….................................. S.143 3.1.1 Die Trunksucht Kernans – Ignoble Inferno............................ S.145 3.1.2 Katerstimmung – Lähmung oder Läuterung? ….................... S.148 3.1.3 Paradoxes Paradies – ein Himmel voller Heuchler …........... S.151 3.2 „The Dead“ - Schattenreich der Nostalgie …....................................... S.155 3.2.1 Nostalgie, Trunksucht, Nationalismus – ein ewiger Teufelskreis ....................................................................... S.155 3.2.2 Gabriels Rede ….................................................................... S.159 3.2.3 Drifting Apart – Divergenzen zwischen Gabriel und Gretta... S.163 3.2.4 Fading out – Gabriels Eingang in das Reich der Toten …...... S.167 3.3 Internalisierung einer jesuitischen Hölle – A Portrait of the Artist as a Young Man …..........…................................................. S.171 3.3.1 Intertexte und Selbstmythisierung Stephens....…........…....... S.171 3.3.2 Father Dolan – Priester oder Peiniger …................................ S.174 3.3.3 Sexualität als Stachel der Sünde ….........................................S.176 3.3.4 „Besinnung“ auf die Grausamkeit der Hölle …......................S.181 3.3.5 Der Ruf zum Leben und zur Kunst ….................................... S.187 3.3.6 Mannwerdung und Exil …..................................................... S.193 3.3.7 Mythische Rollen Stephens …............................................... S.196 3.4 Totengespräche und Phantasmagorie – Ulysses …............................... S.199 3.4.1 Mock Mass und proteischer Hund – Katabatische Motive in der Telemachie ................................................................ S.200 3.4.2 „Hades“ - Parallelen zur antiken Tradition der Unterweltfahrt …................................................................. S.207 3.4.3 Auf den Spuren Dantes – Karikatur Father Coffeys und der kirchlichen Riten …...................................................... S.212 3.4.4 Missglückte Totengespräche …............................................. S.215 3.4.5 „Circe“ - A heaven and hell show …..................................... S.218 3.4.6 „Snakes of river fog“ - Infernalisches Setting …................... S.219 3.4.7 Prüde und Prostituierte – Blooms Geleiter in die Hölle Circes ….............................................................................. S.221 3.4.8 Bella Cohen – ein Teufelsweib ….......................................... S.226 3.4.9 Geister der Vergangenheit – Stephens marternde Gewissensbisse …............................................................... S.230 3.4.10 Satanistische Messe und Vision Rudys …............................ S.233 3.5 Schattenwelt und Gruselkabinett – Die Unterwelt im Werk James Joyces …................................................................... S.244 4. Die Höllen der Moderne – Katabatische Motive in den Werken von Thomas Mann und James Joyce ....................................................... S.247 4.1 Waisen, Vereinzelung, Einsamkeit …................................................... S.250 4.2 Tod und Wiedergeburt …...................................................................... S.254 4.3 Dionysische Klänge – Gesang der Sirenen …...................................... S.257

4.4 Der Traum – Pforte ins Jenseits …....................................................... S.260 4.5 Die Krankheit als Stimulans und Mittel zur Steigerung …................... S.264 4.6 Eros und Thanatos …............................................................................ S.267 4.7 Une déstruction organique – Leben heißt Sterben …........................... S.268 4.8 Humanistische Mentoren – Settembrini und Bloom …........................ S.271 4.9 Der Jesuitenorden – Teuflische Pädagogen …...................................... S.272 4.10 Cavaliere meets Femme Fatale – Cipolla und Bella Cohen …........... S.274 4.11 Hermetische Motive …........................................................................ S.276 4.12 Der Pakt mit dem Teufel …................................................................. S.279 4.13 Die Stadt als Topos für die Unterwelt …............................................. S.283 4.14 Humanität als Quintessenz moderner Höllen.…................................. S.286 4.15 Lebensfreundschaft …......................................................................... S.288 4.16 Montage, Ironie und Parodie als Strukturmerkmale …....................... S.290 4.17 Der Mythos und die Geschichtsauffassung..................................…... S.299 Schlußbetrachtung ….............................................................................................. S.308 Abkürzungsverzeichnis……………………………………………………………S.313 Literaturverzeichnis …............................................................................................ S.314

Danksagung Den Abschluss meiner Dissertation möchte ich zum Anlass nehmen, all jenen zu danken, die mich während der Durchführung und Fertigstellung dieser Forschungsarbeit unterstützt haben. Ein besonderer Dank gilt meiner Doktormutter Prof. Dr. Eva Geulen für die intensive Betreuung der Dissertation, für ihre Hinweise und Anregungen und den von ihr gewährten gedanklichen Freiraum. Auch meinen Zweit- und Drittkorrektorinnen, Prof. Dr. Véronique Gély und Prof. Dr. Lucia Borghese, möchte ich von Herzen für ihre Mühen danken. Ebenfalls bedanken möchte ich mich für die ideelle und finanzielle Unterstützung durch die Konrad-Adenauer-Stiftung, deren Referenten und Betreuer während der Zeit meines Studiums und meiner Promotion sehr hilfsbereit waren und die mich stets in meinen Entscheidungsprozessen begleitet haben. Mein Dank gilt zudem Herrn Dr. Wolfgang Schlepper für die stetige Durchsicht meiner Arbeit sowie für seine hilfreichen Denkanstöße. Ein ganz besonderer Dank gilt meinen Eltern, die mich in meinem beruflichen Werdegang begleiten und bestärken und ohne deren moralische Unterstützung diese Dissertation sicher nicht möglich gewesen wäre.

Einleitung

Per me si va nella citta dolente, Per me si va nell'etterno dolore, Per me si va tra la perduta gente, Giustizia mosse il mio alto fattore: Fecemi la divina potestate, La somma sapienza e l'primo amore. Dinanzi a me non fuor cose create Se non etterne, e io etterna duro. Laciate ogni speranza, voi ch'entrate. 1

Dante Alighieri beschreibt hier das Tor des Infernos, welches er zusammen mit seinem Führer Vergil durchschreitet. Die von ihm entworfene Hölle entspricht einer Stadt des ewigen Schmerzes, in welcher die Verdammten alle Hoffnung fahren lassen sollen. Hoffnung ist einzig Dante selber beschieden, da er aus dem tiefen Höllenschlund hinausfindet. Dass ein Sterblicher, der sich in einer „selva oscura“ befindet und dessen gerader Weg versperrt ist, hoffen darf, geläutert zu werden und Gott zu schauen, verleiht dem Motiv der Hölle ein positives und transzendentes Moment, welches Erkenntnis der Welt und des Selbst verheißt. In dieser Dissertation wird eine Analyse des katabatischen Topos in den Werken Thomas Manns und James Joyces vorgenommen, wobei eine der zentralen Thesen das Festhalten an der bereits von Dante evozierten „Hoffnung jenseits der Hoffnungslosigkeit“ (DF, S.712) darstellt. Die Begegnung der Figuren mit der Unterwelt zeitigt bei beiden Autoren eine tiefgreifende Selbsterkenntnis der Protagonisten, welche sie infolge der Läuterung und Steigerung, die sie erfahren, zu einer Selbstfindung befähigt. Diese Selbstfindung ermöglicht es ihnen, ihren Platz in der Gesellschaft zu finden und ein Stück Menschlichkeit in die Welt zu tragen. Ein zentrales Moment der literarischen Katabasis ist dabei die Darstellbarkeit der Hölle, welche in frühen Zeugnissen europäischer Kultur als topographisch existent erachtet wird, im Zuge der Romantik jedoch eine Verinnerlichung erfährt. Sowohl Dante als auch die Autoren der Moderne bemühen sich, ein Bild der Hölle zu entwerfen, welches eine mögliche Antwort auf die Frage nach einem jenseitigen Leben gibt. Wichtiger als der Versuch, die Hölle darzustellen und sie somit begreiflich und faßbar zu machen, ist allerdings die Überwindung derselben. Erst im Durchgang durch die Unterwelt finden die Protagonisten in das diesseitige Leben, zu dessen Bewältigung die Texte anleiten. Der literarische Topos der Hölle in der Moderne entspricht somit der MythosKonzeption Hans Blumenbergs, da er als eine Form der Wirklichkeitsbewältigung fungiert. Dante Alighieri. Capolavori 24. La Divina Commedia. Commento e Parafrasi di Carlo Dragone. 18. Auflage. Edizioni Paoline. Cinisello Balsamo. Mailand. 1992. Canto III, 1-9. S.30. 1

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Forschungsstand Der katabatische Topos findet sich seit frühester Zeit in den schriftlichen Zeugnissen abendländischer Kultur. Homer, Aristophanes, Lukian, Vergil und Cicero haben über die Reise in das Jenseits berichtet. Bis in die Gegenwart hinein fühlen sich Künstler und Schriftsteller zu dem Motiv der Hölle und der Frage nach ihrer Darstellbarkeit hingezogen. Diese Abundanz an literarischen wie auch künstlerischen Zeugnissen hat zu einem regen Interesse der anthropologischen als auch der kulturwissenschaftlichen Disziplinen in der Auseinandersetzung mit dem Thema der Höllen- und Hadesvorstellungen geführt. Die Ansätze sind dabei recht unterschiedlicher Art und sollen im Folgenden kurz dargestellt werden. Hierbei wird zunächst auf die Studien eingegangen, die einen umfassenden theologisch-anthropologischen Überblick zu der unterweltlichen

Motivgeschichte

entwerfen,

um

sich

dann

im

Folgenden

den

literaturwissenschaftlichen Einzeldarstellungen zuzuwenden. Eine äußerst ausführliche und vielschichtige Studie mit dem Titel Die Jenseitsmythen der Menschheit legten im Jahre 2005 Dietrich Steinwede und Dietmar Först vor. 2 Sie verbinden den Topos der Höllenfahrt mit der Frage nach einem Leben nach dem Tod. Diese Frage habe nahezu alle Völker und Kulturen beschäftigt, und die meisten sähen in dem Tod keinen Endpunkt, sondern einen Neuanfang. Der Tod wird somit zu einem Durchgang, der Wandel und Erneuerung symbolisiert. Dieser Ansatz ist für die vorliegende Arbeit von besonderem Interesse, da sie die These aufstellt, dass die unterweltliche Reise in den Werken Thomas Manns und James Joyces Veränderung und sogar Läuterung der Protagonisten zeitigt. Der Tod und die Hölle werden im Sinne einer Lebensbejahung überwunden, was jedoch nicht heißt, dass sie tabuisiert würden. Im Gegenteil: Der Mensch bleibt ihrer eingedenk und begreift sie als notwendige Kehrseiten des Lebens. Darüber hinaus zeichnen Steinwede und Först die Vorstellungen jener Kulturen nach, welche die Totenwelt als einen Strafort verstehen. Darunter fallen vor allem die jüdische Gehenna ebenso wie die im Zeichen des Christentums propagierte Hölle. Neben weiteren umfasst ihre Analyse klassische Texte wie Platons Phaidon, Ciceros Somnium Scipionis, Vergils Aeneis, Homers Odyssee und Dante Alighieris Divina Commedia. Auch die Passagen der Bibel, welche sich mit dem Niederstieg Jesu und dem Endgericht befassen, vor allem die Paulusbriefe und die Offenbarung des Johannes, werden näher beleuchtet. Auf einige dieser Texte wird im Folgenden noch näher eingegangen werden, da Thomas Mann und James Joyce in ihren Werken immer wieder auf sie 2

Dietmar Först; Dietrich Steinwede. Die Jenseitsmythen der Menschheit. Patmos Verlag. Düsseldorf. 2005.

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rekurrieren. Eine ähnlich umfangreiche Analyse des Topos lieferte der französische Historiker Georges Minois im Jahre 1994 mit seiner Studie Die Hölle. Zur Geschichte einer Fiktion. Minois verfolgt in dieser Abhandlung einen anthropologischen Ansatz, wenn er behauptet, dass der Glaube an die Hölle ein allgemeinmenschlicher Glaube sei, der in nahezu allen Kulturen auftrete. Ihm zufolge rührt dieser kulturübergreifende Glaube an einen jenseitigen Strafort vor allem daher, dass er die Frage nach dem Bösen überhaupt und dessen Ursprung stelle. Der Topos behandele somit das „problème fondamental du mal moral“. 3 Von Interesse ist darüber hinaus Minois' Ansatz, dass künstlerisch gestaltete Höllenfahrten das Leben einer Epoche, insbesondere aber ihre Ängste, darstellten. Wie die Künste überhaupt, so spiegelte auch die Katabasis die Kultur einer Epoche, im Besonderen die Kultur der Lebenden, wider. Was zunächst paradox wirkt, ließe sich unter anderem mit dem Inferno Dantes belegen, wo die toten und gemarterten Sünder den lebenden Dante zum einen um sein Leben, zum anderen aber auch um sein Wissen bezüglich der irdischen Gegenwart, welches ihnen selber verwehrt ist, beneiden. In seiner chronologisch aufgebauten Studie beschreibt auch Minois die christliche Hölle als Strafort und stellt dieser die antiken Höllen- bzw. Hadesvorstellungen gegenüber, in denen ihm zufolge das Moment der Strafe fehle. Hier jedoch irrt er, da das Moment der Strafe ebenso wie das des Totengerichtes sowohl bei Vergil als auch bei Homer schon in Ansätzen zu finden sind. Von Bedeutung ist zudem die im Jahre 2006 von Markwart Herzog herausgegebene Aufsatzsammlung Höllen-Fahrten. Geschichte und Aktualität eines Mythos. Diese eklektische Zusammenstellung von Forschungsbeiträgen schlägt einen weiten Bogen, indem sie den Topos zunächst religionshistorisch beleuchtet, um im Weiteren auf seine Rezeption in Kunst und Literatur einzugehen. Dabei berücksichtigt sie nicht nur die klassischen Künste, sondern auch jüngere Kunstformen wie etwa den Film oder den Comic. Für die vorliegende Dissertation ist besonders der Aufsatz Marion Giebels über die „Mythenliteratur in Europa“ bedeutsam, da sie sich mit dem Motiv der Katabasis in der vorchristlichen Antike auseinandersetzt. Darüber hinaus wird der Aufsatz Andrea Bartls zur Unterweltmotivik im Werke Thomas Mann berücksichtigt, in welchem sie unter anderem darlegt, dass Hans Castorps Erkenntnis im „Schnee“-Kapitel einer Überwindung der romantischen Todessehnsucht gleichkomme und somit Ausdruck der Lebensfreundschaft Manns

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Georges Minois. Histoire des enfers. Librairie Arthème Fayard. Paris. 1991. S.9.

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sei.4 An diesen Punkt knüpft die vorliegende Dissertation an, indem sie die These formuliert, dass der Topos der Unterwelt im Werke Manns eine Entwicklung erfährt, die von der beschriebenen Todessehnsucht, der romantisch konnotierten Faszination für den Tod, zu einer Überwindung dieses Denkens findet und in einer human geprägten Lebensfreundschaft resultiert.

Einen rein literaturwissenschaftlichen Ansatz hingegen verfolgt Rachel Falconer mit ihrer Studie Hell in Contemporary Western Literature aus dem Jahr 2005. Die Abhandlung befasst sich in ihrem Hauptteil vor allem mit der Katabasis in der westlichen Literatur nach dem Jahr 1945. Die allgemeine Einführung in die Thematik ist hier von großem Interesse, da Falconer die gattungstechnischen Erkennungsmerkmale klassischer katabatischer Erzählungen analysiert und somit eine Art Raster für die Analyse literarischer Jenseitsfahrten an die Hand gibt. Zu diesen zählt unter anderem die Motivation des Protagonisten, welche dreierlei Art sein kann, da er entweder nach Weisheit oder Liebe oder Macht strebe.5 Odysseus etwa sucht Wissen über die Zukunft zu erlangen, Orpheus steigt in den Hades, um seine Geliebte Eurydike zurückzuholen, und Herkules beweist seine Stärke, wenn er Cerberus aus der Unterwelt entführt. Ein zweites Merkmal sei der „turning point“, der sowohl für den Plot als auch für die Entwicklung des Helden entscheidend sei. Mit dieser Peripetie nämlich gehe ein Wandel des Weltverständnisses einher, das fortan nicht mehr historisch, sondern mythisch geprägt sei. Durch diese Verschiebung der Paradigmen ergebe sich eine neue Wahrnehmung der Zeitkategorie. Diese werde nicht mehr chronologisch und geschichtlich verstanden, sondern erfahre ebenfalls eine Mythisierung. Wie Falconer am Beispiel von vier Romanen aus dem Jahr 1947, unter anderem Manns Doktor Faustus, zeigt, wird die Hölle „historically and materially specific“ dargestellt, „yet it has also become inescapably intrinsic to the modern human condition.“ 6 Die vorliegende Arbeit knüpft an diese Überlegungen an, wenn sie die These entwickelt, dass sich anhand der Werke Thomas Manns und James Joyces eine Internalisierung des katabatischen Topos aufzeigen lässt, die Unterwelt aber gleichwohl historische als auch geographische Realität besitzt. Unter anderem auf den italienischen Faschismus Bezug nehmend ist die Hölle im Werk Thomas Manns, etwa in Mario und der Zauberer, in südlichen Ländern, vornehmlich in Italien, verortet. Der Doktor Faustus hingegen beschreibt die „Höllenfahrt Deutschlands“, weshalb das Leben des Tonsetzers Adrian Leverkühn als Allegorie auf die deutsche Katastrophe gelten darf. Auch James Joyce verknüpft mit der in seinem Andrea Bartl. „Von geschminkten Greisen und schwarzen Schwänen. Das Motiv der Unterweltfahrt bei Thomas Mann“ In: Markwart Herzog. Höllen-Fahrten. Geschichte und Aktualität eines Mythos. Kohlhammer Verlag. Stuttgart. 1996. S.158. 5 Vgl. Rachel Falconer. Hell in Contemporary Literature. Western Descent Narratives since 1945. Edinburgh University Press. Edinburgh. 2005. S.44. 6 Ebd. S.29. 4

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Werk beschriebenen Unterwelt reale Orte und Begebenheiten. Vor allem Dublin erscheint als eine Nekropole, deren nostalgische, nationalistische und heuchlerische Bewohner den homerischen Schatten in der Nekyia gleichen. Seine Protagonisten tragen die Hölle aber ebenso in ihrem Inneren, wenn sie von Traumata, Ängsten und Selbstzweifeln gequält werden. In seiner Analyse Passage through Hell. Modernist Descents, Medieval Underworlds stellt David L. Pike die These auf, dass die moderne Literatur etwa Walter Benjamins, Peter Weiss', Virginia Woolfs oder Seamus Heaneys durchaus Elemente früherer literarischer Vorläufer übernehme. Sie rekurrierten dabei unter anderem auf die Commedia Dantes, welche die Umkehrung der Kategorien im Rahmen des Infernos schildere. Die Hoffnungslosigkeit der Hölle Dantes erzeuge im Protagonisten selber Hoffnung, die Falschheit der Sünder führe Dante zur Wahrheit und zur Schau Gottes. Im Überschreiten der innersten Hölle finde Dante zum Läuterungsberg und somit zu einer Reinigung von den Sünden. Die narrative Struktur sei vor allem von Umkehrung bestimmt, weshalb der Umweg über die Hölle Dante zum Himmel gelangen lasse. In der antiken Tradition Homers sei der Schwerpunkt etwas anders gelagert, da die Fahrt in die Unterwelt einen Initiationsritus darstelle, welcher eine Abwendung von der Vergangenheit und eine Hinwendung zur Zukunft und zum Leben bedeute. Die Aeneis sei insofern von maßgeblicher Bedeutung, als die in der Unterwelt verortete Prophezeiung letztlich Erfüllung in der Realität finde und folglich eine Symmetrie erzeuge, die in modernen katabatischen Erzählungen noch immer nachhalle und die nahelege, dass der Mythos Geschichte erzeuge ebenso wie umgekehrt. Die Prophezeiung Anchises' leite Aeneas in seinem weiteren Handeln an und nehme folglich Einfluss auf den Gang der römischen Geschichte. Die Nekyia Homers sei daher noch weitgehend mythisch, nicht aber geschichtlich zu verstehen, während die Aeneis geschichtliche Relevanz habe, da sie die Gründung Roms erzähle und motiviere. Insofern berichte das Epos Vergils auch von seinem eigenen Ursprung: „Aeneas's katabasis writes itself as that origin, while using its intertexts to provide a mythic foil, converging at the moment of Anchises' prophetic speech. (…) The heritage is a foundation myth of Vergil's own Rome, the historical intervention a mythification of the peace of Augustus.“7 Die Aeneis bestimme den Lauf der Geschichte, da die Prophezeiung des Anchises nicht nur die persönliche Zukunft Aeneas', sondern ebenso die Zukunft Roms betreffe. Dass Dante sich in der Commedia von seinem literarischen Vorläufer Vergil durch das Inferno führen lässt, zeigt, wie groß der Einfluss des römischen Dichters auf ihn gewesen sein muss. Tatsächlich ähneln sich die beiden David L. Pike. Passage through Hell. Modernist Descents, Medieval Underworlds. Cornell University Press. Ithaca; London. 1997. S.7. 7

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Jenseitsfahren in vieler Hinsicht. Pike betont vor allem, dass beide Texte von einem autobiographischen, geschichtlichen Moment gekennzeichnet seien, welches immer auch als Spiegel der jeweiligen Epoche und der Kultur zu werten sei. Diese „autobiographical allegory of conversion“, welche das Schicksal des Jenseitsreisenden mit dem Schicksal seiner Nation bzw. seiner Heimatstadt in eins setze, werde von den Autoren der Moderne stark rezipiert, da sie ihnen als Quelle und Intertext diene.8 Dass Pike hier von einer „conversion“ anstelle einer „inversion“ spricht, ist von großer Bedeutung, da der Begriff „Bekehrung“ die heilsgeschichtliche, humanistische Dimension des Topos unterstreicht. Die vorliegende Arbeit baut auf dieser These auf, wenn sie behauptet, dass die Unterweltmotivik im Werke Manns und Joyces von einem humanistischen, fortschrittlichen Moment geprägt ist. In den Kapiteln 2.5 und 3.4 wird dargelegt werden, dass die Katabasen der Protagonisten Hans Castorp, Leopold Bloom und Stephen Dedalus letztlich zu einer Selbsterkenntnis führen, die es ihnen ermöglicht, sich in die Gesellschaft einzufügen.

Eine der bedeutendsten Studien über literarische Höllenfahrten ist die 2004 erschienene Arbeit Höllenfahrten. Die epische katábasis und die Unterwelten der Moderne der deutschen Literaturwissenschaftlerin Isabel Platthaus. Die Autorin befasst sich vor allem mit der epischen Tradition der Jenseitsfahrt, insbesondere mit Homer, Vergil und Dante, gewährt darüber hinaus aber auch einen Einblick in die psychoanalytische Verwendung des Motivs bei Carl Gustav Jung und Sigmund Freud. Diese Vorbetrachtungen führen Platthaus zu einer eingehenden Analyse des Topos in der Literatur der Moderne, wobei sie primär einen metapoetischen Ansatz verfolgt, da ihr zufolge die Hadesfahrt immer auch einen Einblick in die Erzählweise und Erzähltradition abendländischer Literatur offenlege. In mehreren Kapiteln setzt sie sich mit James Joyces Ulysses auseinander, wobei sie vor allem die Episoden „Hades“ und „Circe“ näher bespricht. Ihrer Analyse folgend stelle ersteres dabei eine Travestie der literarischen Tradition des Unterweltabstieges dar, da der Besuch auf dem Glasnevin Friedhof für Bloom folgenlos und daher auch nicht sinnstiftend sei. Die vorliegende Dissertation hingegen stellt die These auf, dass der Besuch auf dem Glasnevin Cemetery Bloom nicht lediglich „trübe Gedanken“ beschert, sondern ihm neuen Willen zum Leben eingibt und daher durchaus sinnstiftend ist. Zwar stimmt Platthaus' Feststellung, dass „Blooms Libido-Ökonomie von einer Logik des Ersatzes bestimmt wird“, aber dennoch hält er am Leben ebenso wie an der Liebe zu seiner Frau fest. Das den Roman beschließende „Yes“ Marion Blooms darf zudem als Ausdruck dafür gelten, dass auch sie ihrem Ehemann noch in Liebe verbunden ist. 8

Ebd. S.15.

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Platthaus zufolge komme das Kapitel „Hades“ einer Travestie der Tradition epischen Erzählens gleich, welche Joyce in den folgenden Kapiteln immer mehr aufbreche, um in „Circe“ eine gänzlich neue Erzählweise zu begründen. In „Circe“ handele es sich um eine Katabasis in das Unbewusste des Textes, welche eine metapoetische Initiation zugunsten einer neuen Erzählweise veranschauliche. Das Kapitel verweise damit über die narratologische Struktur des Romans hinaus, da diese sich erst in Joyces Folgewerk Finnegans Wake zur Gänze entfalten soll. Die Beobachtung, welche Platthaus für die Erzählweise des Textes nachvollzieht, ließe sich ebensogut auf inhaltlicher Ebene anstellen. Denn auch Leopold Bloom und Stephen Dedalus werden Teil einer rituellen Initiation, da sie durch die Erkenntnis ihrer selbst in einen neuen Seinszustand gelangen. Die vorliegende Arbeit geht folglich nicht konform mit der erzähltechnischen Analyse Platthaus', in der sie die Zelebrierung des Alltäglichen bei Joyce als Profanisierung des mythologischen Stoffes deutet und die Vielheit der Motive und der Mythologeme als eine Abundanz, welche zu einer Sinnentleerung führe. „Circe“ sei eher eine „mock katabasis“ als dass sie einer tatsächlichen Katabasis gleichkäme. Platthaus bezeichnet das Kapitel daher als eine Art narrativen Exodus, „einen Tod, der nicht als Heimkehr begriffen werden kann und nicht als das sinnstiftende Ende einer Erzählung firmiert. (…) Die erzählende Erinnerung findet keine (Unter-)Welt, sondern läuft ins Leere.“9 Diese These jedoch scheint fragwürdig, da „Circe“ mit ihrer Vielfältigkeit an Motiven und Referenzen gerade die Koinzidenz der Gegensätze veranschaulicht, welche auch den Gegensatz zwischen Tod und Leben aufhebt. Zwar hat Platthaus insofern recht, als das Kapitel nicht teleologisch motiviert ist und die Erzählung keinem geschlossenen Ende zuzuführen scheint, aber gerade die Vielfalt der Möglichkeiten, die veranschaulichte Pluralität des Realitätsbegriffes, spricht gegen eine nihilistische Deutung. Im Übrigen macht sich Joyce nicht gänzlich von seinen literarischen Vorläufern frei, da diese Ungewissheit des Ausgangs in nuce schon bei Homer angelegt ist. Auch Teiresias nennt Odysseus lediglich einen möglichen Ausgang der Irrfahrten. Letztlich hängt dieser jedoch von dem Protagonisten selber ab. Neben Autoren wie Borges, Thomas Pynchon oder T.S. Eliot nimmt Platthaus zudem eine Analyse der Joseph-Romane von Thomas Mann vor. Diese knüpften an die romantische Tradition Friedrich Schlegels an, da Thomas Mann die Anfänge des Erzählens zu ergründen versuche und mit ihnen auch die ursprüngliche Einheit von Mythos und Geschichte in der Narration. Der Topos der Unterwelt sei in diesem Kontext emblematisch für die Vorstellung von mythischen Grundmustern und diene als Allegorie des Erzählens ebenso wie des Ursprungs des Menschen.10 Das Hauptanliegen Manns liege dabei aber weit weniger in der textinternen Funktion des Topos, als Isabel Platthaus. Höllenfahrten. Die epische katábasis und die Unterwelten der Moderne. Fink Verlag. München. 2004. S.199. 10 Ebd. S.212ff. 9

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darin, den „Status und die Funktion des Erzählens überhaupt“ zu veranschaulichen. Platthaus spricht hier von einer „Ontologisierung des Erzählens“, die auf die Welt, auf das Diesseits verweise, welche „immer schon die Gestalt einer (Wieder-)Erzählung“ besitze.11 Diese Deutung der JosephRomane ist durchaus stringent vorgenommen und ließe sich in Teilen auch auf den Zauberberg und den Doktor Faustus anwenden, wenn hier die Frage nach den Anfängen des Mythos und den Anfängen des Erzählens auch deutlich weniger explizit gestellt wird. Die vorliegende Arbeit folgt Platthaus' Ansatz insofern, als auch sie behauptet, dass der Topos der Unterweltfahrt im Werke Manns immer wieder in das diesseitige Leben führt. Thomas Mann bedient sich mythologischer, historischer und literarischer Quellen, um das Leben des Einzelnen in einer bestimmten Epoche darzustellen. Die Protagonisten fungieren aber anders als ihre literarischen Vorbilder als Repräsentanten ihrer Generation, und die Unterwelt, welche sie durchwandern, hat Auswirkungen auf ihr diesseitiges Leben. Nach 7-jährigem Aufenthalt auf dem Berghof kehrt Hans Castorp in das Flachland zurück, um in den Krieg zu ziehen. Auf dem Schlachtfeld wehen ihn die mythischen Träume von Liebe und Humanität, welche ihm während der Fastnacht mit Madame Chauchat und im Rahmen des „Schnee“-Kapitels aufgegangen waren, wieder an. Er behält sie im Herzen, auch wenn sein Ende ein ungewisses ist.

Im Gegensatz zu Platthaus verfolgt die vorliegende Dissertation keinen erzähltechnischen, sondern einen motivgeschichtlichen Ansatz, der sich auf eine langjährige komparatistische Tradition gründet. Ihren Ursprung hat die Motiv- ebenso wie die Stoffgeschichte mit der Sammlung von Märchen und Volksliedern durch die Brüder Grimm zu Anfang des 19. Jahrhunderts. Mit der Sichtung und Zusammenstellung dieser Texte hofften diese, eine Art „Urmythos“ aufzudecken, der sich hinter den Märchen und Volksliedern ihrer Ansicht nach verbergen müsse. Diese synthetisierende

Betrachtungsweise

wich

im

weiteren

Verlauf

des

Jahrhunderts

einer

Ausdifferenzierung der Stoff- und Motivgeschichte, welche auch die historischen und geographischen Entstehungsbedingungen der Texte berücksichtigte. Zu Anfang des 20. Jahrhunderts jedoch wurde von einigen Komparatisten Kritik laut, dass der stoffgeschichtliche Ansatz eindimensional sei und ästhetische Aspekte des literarischen Kunstwerks ignoriere. Immer wieder sieht sich die Stoffgeschichte mit diesem Vorwurf konfrontiert. Dabei wäre einzuwenden, dass letztlich jeder literaturwissenschaftliche Ansatz selektiv sein muss, da er nie das Kunstwerk in seiner Ganzheit erfassen und beschreiben können wird. Auch der historische und topographische Blickwinkel des jeweiligen Exegeten muss zwangsläufig zu einer subjektiven und unvollständigen Darstellung des ausgewählten Textkorpus führen. Ebd. S.218.

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Aufgrund der erhobenen Kritik jedoch bemüht sich die Stoff- und Motivgeschichte seit einigen Jahrzehnten um einen breiteren Ansatz, der ideengeschichtliche Zusammenhänge berücksichtigt und aufzudecken versucht. Auch auf einen problemorientierten Umgang mit den jeweiligen Stoffen und Motiven wird größerer Wert gelegt als ehedem. Diese Neuausrichtung, welche nicht zuletzt kulturwissenschaftliche und internationale Verflechtungen berücksichtigt, spricht für die „insgesamt innovative Entwicklung des Forschungszweiges.“12 Auch die vorliegende Arbeit entspricht dieser Neuausrichtung, wenn sie die Texte Thomas Manns und James Joyces vor dem Hintergrund ihrer Entstehungszeit begreift und darüber hinaus ideengeschichtliche Zusammenhänge zwischen ihnen aufzudecken sucht. Dabei wird der ursprüngliche Ansatz der Stoff- und Motivgeschichte durchaus berücksichtigt, da es ihr auch darum geht, die Gemeinsamkeiten in der Darstellung des Höllentopos bei Thomas Mann und James Joyce nachzuweisen, um Rückschlüsse auf die philosophischen und gesellschaftspolitischen Ideen beider Autoren ziehen zu können. Im Laufe der Analyse wird sich zeigen, dass sich beide Autoren antiker und mittelalterlicher Mythen bedienen, um sich kritisch mit dem Humanitätsbegriff auseinanderzusetzen. Im Zauberberg findet Hans Castorp zu einer neuen Humanität, welcher selbst im letzten Satz des Romans Reverenz erwiesen wird. Der Doktor Faustus scheint zunächst eine Rücknahme dieser Humanität darzustellen, „das hohe g eines Cellos“ allerdings verheißt auch hier die Hoffnung auf Gnade und auf eine neue Menschlichkeit. In den Texten Joyces wird der Begriff der Humanität deutlich verhaltener aufgegriffen als dies bei Thomas Mann der Fall ist. Ihr glühendster Vertreter ist der Protagonist des Ulysses, Leopold Bloom, die Lichtgestalt des ansonsten einer Schattenwelt gleichenden Dublins, welche durch ihr Mitgefühl und ihre Wohltätigkeit auffällt. Ebenso wie im Werke Manns werden dieser Inkorporation der Menschlichkeit aber auch negative und egoistische Züge zugesprochen. Der (moderne) Mensch oszilliert zwischen den (konstruierten) Extremen Gut und Böse, Geist und Körper, Himmel und Hölle. Er ist ambivalent und gerade daher vollkommen wie die Schöpfung als solche es ist.

Ansgar Nünning. Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Dritte, aktualisierte und erweiterte Auflage. Verlag J.B. Metzler. Stuttgart. 2004. S.633. 12

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1. Literarische Vorläufer 1.2 Unterwelten in der antiken Literatur 1.1.1. Die Nekyia in der homerischen Odyssee Die Hadesfahrt, welche Odysseus in der homerischen Odyssee antritt, ist für diese Arbeit in mehrfacher Hinsicht von Interesse, da sowohl Thomas Mann als auch James Joyce häufig auf den Text rekurrieren. Bedeutsam ist etwa, dass der Aufenthalt bei der Zauberin Circe und die Hadesfahrt in einem engen Zusammenhang stehen, da Circe Odysseus und seine Gefährten in den Hades schickt, um die Seele des Sehers Teiresias zu befragen. Auch nach dem Besuch des Schattenreiches läuft Odysseus die Insel der Zauberin an, zum einen um den toten Gefährten Elpenor zu bestatten, zum anderen aber, um sich die Prophezeiung auch von Circe erläutern zu lassen. Circe dient damit als Wegbereiterin und Führerin Odysseus' in das Reich der Schatten. James Joyce wird diesen engen Zusammenhang wieder aufgreifen, wenn er eine Katabasis in das Reich der Träume, Ängste und Wünsche in dem 15. Kapitel seines Romans Ulysses ansiedelt. Das im Gorman Gilbert-Schema „Circe“ genannte Kapitel beschreibt einen Bordellbesuch Leopold Blooms und Stephen Dedalus'. Anders als Odysseus werden sich die beiden Protagonisten jedoch nicht über ihre Zukunft bewusst, sondern über ihre aufgewühlte Seelenlandschaft, ihre Traumata und Fetische. Joyce greift den literarischen Vorläufer auf, um die Signifikanz des Topos herauszustellen. Er verleiht ihm jedoch ein modernes Gewand, wenn er die Hölle als verinnerlichten, dem Menschen immanenten Ort vorstellt. Ein weiteres Moment, welches für die Rezeption des homerischen Textes von Bedeutung ist, stellt die Prophezeiung Teiresias' dar, da sie den Irrfahrten des Odysseus einen Sinn verleiht und ihn zur Weiterfahrt motiviert. Odysseus erfährt, dass er nach einem mühsamen Weg wieder nach Hause kehren wird, dass er sein Volk standesgemäß regieren und einen friedvollen Tod sterben wird. Die Verheißung des Nostos ermutigt den Helden, die beschwerliche Reise auf sich zu nehmen und schließlich nach Ithaka zu gelangen. Auch dieses Moment greift Joyce in seinem an die Odyssee angelehnten Roman wieder auf, wenn Leopold Bloom nach einem langen Tag zu seiner Frau Molly heimkehrt. Diese Heimkehr jedoch ist, anders als in der Odyssee, teils von Frustration geprägt, da Blooms Frau ihn mit ihrem Impresario Blazes Boylan betrügt und er selber nicht mehr in den Genuss des Beischlafs mit ihr kommt. Zudem wird die glückliche Heimkehr zurückgenommen, da offen bleibt, wo Stephen Dedalus nächtigt. 16

Obwohl Bloom ihm anbietet, in seinem Haus zu übernachten, zieht der junge Student es vor weiterzuziehen. Er scheint ein Heimatloser und Vagabund zu bleiben, da er sich in Irland als Diener zweier Herren fühlt und keine Seelenruhe finden kann. Für das Werk Thomas Manns ist die Zweiteilung der homerischen Unterwelt in den Hades und das Elysium von Bedeutung. Ersterer gleicht bei Homer einer Schattenwelt, deren Topographie von der Zauberin Circe sowie von der Mutter Odysseus' eine eingehende Beschreibung erfährt. Das von Persephone und Hades regierte Reich der Unterwelt liegt am Rand der Erde, hinter dem Strom Okeanos und wird von Pappeln und fruchtabwerfenden Weiden umgrenzt. Moser betont, dass der Weltrand im Epos, ebenso wie im neuzeitlichen Roman, deshalb aber keinen eskapistischen oder phantastischen Fluchtraum darstelle, sondern im Gegenteil einen metapoetischen Reflexionsraum, „einen privilegierten Ort der Welterkenntnis.“ Der Austausch zwischen Diesseits und Jenseits, der am Rande der Erde ermöglicht werde, fördere die Selbstbehauptung des Menschen, da er sich vom Göttlichen respektive Tierischen abgrenze.13 Die Konfrontation mit dem Anderen befähigt zu der Definition des Eigenen, des Selbst. Zu dieser Selbstfindung und der Erkenntnis der Welt trägt besonders die Prophezeiung des Teiresias bei, der Odysseus eine Art Anleitung an die Hand gibt, wie seine Heimreise am einfachsten zu bewältigen sei. Wenn er sich geschickt anstelle, blühe ihm eine glückliche Heimkehr und ein friedvoller Tod. Besonders dieser Ausblick, der dem Helden eine hoffnungsfrohe Zukunft und ein würdiges Ende offenbart, macht die Hadesfahrt Odysseus' zu einem Moment der Sinnstiftung, welche den scheinbar absurden Irrfahrten eine gewisse Zweckmäßigkeit zugesteht. Die Umwege des Odysseus, der Umweg über den Hades, führen den Protagonisten letztlich dem langersehnten Zielort zu. Auch von den Freiern berichtet der Seher, die Hab und Gut seines Königshauses aufzehren, er prophezeit aber zudem, dass Odysseus dieses Verhalten der Freier rächen werde, sei es durch offene Gewalt oder durch List. Bedeutend ist, dass die Prophezeiung des Teiresias in beiden Fällen keine absolute oder feststehende ist. Vielmehr liegt der Ausgang der Irrfahrt ebenso wie die Rache an den Freiern in der Hand des Odysseus selber. Teiresias weissagt, wie die Zukunft sich gestalten könnte, kann aber keine exakte Aussage über sie treffen, da Odysseus in seinem Handeln selbstbestimmt ist. Er verfügt über einen freien Willen und somit auch über ein Maß an Entscheidungsfreiheit. Wie schon Adorno und Horkheimer dies nahelegen, kann die Odyssee damit als entmyhtisierender Text gelten, da Odysseus zwar teilweise der Macht, der Ungunst und der Gunst der Götter ausgesetzt ist, aber dennoch Schmied seines eigenen Glückes ist. Den Göttern kommt keine Allmacht zu, sie 13

Christian Moser. „Der Weltrand als mythopoetischer Reflexionsraum. Epische Passagen an die Grenzen der Erde von »Gilgamesch« bis zu Mary Shelleys »Frankenstein« In: Zeitschrift für deutsche Philologie 129. Sonderband Grenzen im Raum – Grenzen in der Literatur. 2010. S.56ff.

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nehmen lediglich Einfluss auf das Leben des Helden. Dieser nämlich weiß, sich den Figuren und ihren Rechtsverhältnissen zu entziehen. 14 Der homerische Verweis auf die üppige Vegetation am Rande des Okeanos legt nahe, dass Persephone hier nicht nur als Unterweltgottheit, sondern ebenso als Göttin der Fruchtbarkeit fungiert, welche das scheinbare Paradox von Sterben und Werden symbolisiert. Sie kann somit auch als Ausdruck der Koinzidenz der Gegensätze gelten, welche sowohl im Werke Manns als auch Joyces ein maßgeblich mit der Unterwelt in Verbindung stehendes Motiv darstellt. Die Reiche des Hades werden des Weiteren als düster und farblos beschrieben. In ihnen weilen die toten Seelen wie flatterhafte Schatten, deren Körper Traumbildern gleichen. Dies wird besonders deutlich, als Odysseus versucht, seine Mutter Antikleia zu umarmen, was ihm misslingt, da „nicht mehr halten die Sehnen das Fleisch und die Knochen zusammen, sondern des lodernden Feuers mächtige Stärke vernichtet alles, sobald das Leben verläßt die weißen Gebeine, und die Seele entschwebt und fliegt umher als Traumbild.“15 Die Nachbarschaft von Unterwelt und dem Reich der Träume wird zudem im 24. Gesang der Odyssee deutlich, wenn Hermes Psychopompos die Seelen der toten Freier in die Unterwelt führt. Die Schar flatterhafter Seelen passiert dabei das „Land der Träume“ und unterstreicht somit die enge Verbundenheit von Tod und Schlaf, welche auch dadurch bekräftigt wird, dass Thanatos und Hypnos Zwillingssöhne der Göttin der Nacht, Nyx, sind.16 Thomas Mann greift beide Motive im Zauberberg auf, wenn er den Berghof als eine Schattenwelt darstellt, deren Bewohner einer Entwicklung nicht fähig sind, und die Katabasen Hans Castorps im Rahmen des Traumes ansiedelt. Er verknüpft somit die Reiche, welche in der Odyssee noch als getrennt vorgestellt werden. Ähnlich Joyce verdichtet Mann somit die literarische Tradition und reichert sie an, indem er im Rahmen der Hadesfahrt die Träume und Wünsche seiner Protagonisten darstellt. Vor allem zu Ende der homerischen Nekyia wird der Hades nicht nur als trostloser Ort der Schatten, sondern auch als ein wahrhafter Strafort vorgestellt, an dem Sünder und Frevler Buße tun. So muss Tityos erdulden, dass zwei Geier beständig seine Leber fressen. Tantalos dürstet und hungert, da Teich und Früchte von ihm weichen, sobald er sich ihnen mit dem Mund nähert. Sisyphos schiebt einen gewaltigen Stein den Hügel hinauf, dessen Gipfel er doch nie erreichen wird. Doch auch die paradiesisch anmutende Kehrseite des homerischen Hades, das Elysium, findet eingehende Beschreibung bei Homer. Im vierten Gesang schildert er, dass Menelaus eine Vgl. Theodor W. Adorno; Max Horkheimer. Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. Suhrkamp Verlag. Frankfurt a.M. 1981. S.77ff. 15 Homer. Odyssee. In: Ebd. Werke. Übersetzt von Johann Heinrich Voß. Herausgegeben von Peter Von der Mühll. Zweiter Band. Birkhäuser Verlag. Basel. 1946. S.179. 16 [Art.]'Somnus' In: Der Neue Pauly. Enzyklopädie der Antike. Band 11. Herausgegeben von Hubert Cancik; Helmuth Schneider. Metzler Verlag. Stuttgart. 1998. S.712f. 14

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geruhsame und erfüllte Zukunft inmitten der Seligen Felder erwarten darf, „wo der bräunliche Held Rhadamanthys wohnt, und ruhiges Leben die Menschen immer beseligt (Dort ist kein Schnee, kein Winterorkan, kein gießender Regen; Ewig wehn die Gesäusel des leiseatmenden Westes, welche der Ozean sendet, die Menschen sanft zu kühlen).“17 Analog dazu glaubt sich Gustav Aschenbach im vierten Kapitel des Tod in Venedig in das elysische Land Homers entrückt, da der Liebesrausch ihn gänzlich überkommen hat. In Wahrheit schreitet er unaufhaltsam einer Cholera-Infektion und somit seinem Tod entgegen. Tadzio selber, das Objekt seiner Begierde, nimmt am Ende der Erzählung die Züge des homerischen Hermes Psychopompos an, der die Seelen der Toten in das Jenseits geleitet.

1.1.2 Aeneas' Reise in den Orkus Thomas Mann und James Joyce rekurrieren jedoch nicht nur auf die Odyssee, sondern auch auf das römische Pendant des Epos, die Vergilische Aeneis. Das lateinische Heldengedicht ist stark an die Irrfahrten Odysseus' angelehnt, unterscheidet sich aber dadurch, dass es von der Gründung des Stadtstaates Rom berichtet, die Hanna Arendt zufolge als Neugründung Troyas aufzufassen ist, als Wiederaufnahme und Fortführung der griechischen Hochkultur. Der komplexe Zusammenhang der beiden Texte kann hier nur angedeutet werden, da er nicht Teil der weiteren Betrachtungen sein soll. Wie der literarische Vorläufer, so veranschaulicht auch Vergils Aeneis an mehrfacher Stelle die Nähe von Tod und Schlaf, so etwa noch vor dem eigentlichen Abstieg in den Orkus. Aeneas' Steuermann Palinurus wird nachts von dem Schlafgott Somnus überwältigt und stürzt daraufhin kopfüber in die See. Der Gott „trug todbringenden Traum dir Schuldlosem her; (…) Siehe da schüttelt der Gott einen Zweig, benetzt mit dem Tau aus Lethe, schwer von stygischer Macht, ihm über beide Schläfen, und bricht ihm, der sich noch wehrt, die verschwimmenden Blicke.“18 Die Lethe, Strom des Vergessens, ebenso wie die stygische Macht verweisen bereits auf die Unterwelt und tatsächlich greift Vergil die Motivik zum Ende des sechsten Kapitels wieder auf, wenn er die elysischen Felder beschreibt, auf denen Aeneas' Vater Anchises weilt. Nachdem er Aeneas und seiner Führerin Sybille das blühende römische Geschlecht gezeigt hat, begleitet er sie zum Ausgang aus dem Orkus, wo sich zwei Pforten des Traums befinden, eines aus Horn, welches die wahren Träume entschweben lässt, und eines aus Elfenbein, durch welches die falschen Träume, die Trugbilder, gehen. Traum, Schlaf und Unterwelt erfahren folglich bei Vergil eine noch engere Verknüpfung als dies bei Homer der Fall war. Palinurus findet durch den Schlaf den Tod und Aeneas verlässt die Unterwelt durch die Homer. Odyssee. S.55. Publius Vergilius Maro. Aeneis. In: Ebd. Sämtliche Werke. Herausgegeben und übersetzt von Johannes und Maria Götte. Heimeran Verlag. München. 1972. S.220. 17 18

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Pforte der falschen Träume. Der Orkus selber erfährt eine recht eingehende Beschreibung, da Aeneas und Sibylle ihn ganz durchschreiten müssen, ehe sie zu den elyischen Feldern gelangen. Er ist ebenso wie der homerische Hades von Dunkelheit und Farblosigkeit geprägt. Im Vorhof lauern die menschlichen Leiden wie Krankheit, Armut und Alter. In der Mitte dieses Vorhofes steht eine mächtige Ulme, an deren Blättern „nichtige Träume“ hängen. Charon, dessen Augen wie Feuer sprühen, setzt Aeneas und Sibylle über den Unterweltfluss, woraufhin Aeneas den Höllenhund Cerberus erblickt, dessen „dreifachen Schlund“ die Seherin mit einem mit magischen Kräutern und Honig getränkten Brocken zum Verstummen bringt. Auf den angrenzenden Feldern der Trauer wird Aeneas seiner ehemaligen Geliebten gewahr. Dido von Karthago, welche Aeneas verlassen hatte, um seinem Auftrag gerecht zu werden und die Stadt Rom zu gründen, schaut ihn zunächst zornig an, um ihn im Anschluss zu ignorieren. Aeneas richtet das Wort an sie, doch sie ist zu verbittert, um auf seinen Vorstoß zu reagieren. Der junge Unterweltreisende trifft in der Gestalt seiner ehemaligen Geliebten auf die Geister der Vergangenheit, die sein Gewissen martern. Er gibt sich die Schuld am Tod Didos, da diese sich nicht zuletzt aus Liebeskummer über seinen Aufbruch das Leben genommen hatte. Joyce greift diese Passage in der „Circe“-Episode wieder auf, wenn Stephens dem Grab entstiegene Mutter dem jungen Studenten erscheint, um ihm Vorwürfe bezüglich seines Atheismus und seines Ungehorsams zu machen. Ähnlich Dido fungiert sie als ein Geist der Vergangenheit, der Stephen martert und ihm ein schlechtes Gewissen eingibt. An ihrem Sterbebett hatte er ihren letzten Wunsch verweigert, für sie zu beten und ist daher ungütlich von ihr geschieden. Die Unterwelt Vergils ist in verschiedene Reiche unterteilt. An einer Weggabelung halten Aeneas und Sibylle sich rechts, da linkerhand der jenseitige Strafort liegt, wo diejenigen hausen, die sich schwere Vergehen haben zuschulden kommen lassen. Es handelt sich hierbei um eine Art dunklen Palast, dessen Tor von der einen blutigen Mantel tragenden Tisiphone beschützt wird und aus dessen Mauern Stöhnen sowie der Klang von Schlägen und Eisengerassel dringen. Unter diesem Palast befindet sich der Tartarus, in welchem die riesenhaften Titanen hausen, deren Geschlecht von der Erde verbannt wurde. Sibylle verdeutlicht Aeneas, dass es sich bei dem Schreckenspalast und dem ihm zugehörigen Tartarus um einen Strafort handelt, in dem „endlos viele“ Sünder zu ewiger Folter verdammt sind. Sie betont daher, dass die Menschen im Leben gerecht handeln sollen, um der Strafe im Jenseits zu entgehen: „Lernet Gerechtigkeit, laßt euch warnen, und achtet die Götter.“19 Dieser Lehrsatz, den die Sibylle ausspricht, verdeutlicht, dass Aeneas' Reise in den Orkus auch ein moralpadägogisches, instruktives Moment prägt. 19

Vergil. Aeneis. S.238.

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Nachdem Aeneas den Goldenen Zweig an die Pforte Proserpinas geheftet hat, gelangen Sibylle und er zu den Elysischen Feldern, den Hainen der Seligen, wo sein Vater Anchises voller Genugtuung seine Nachkommenschaft beäugt. Die Freude über das Wiedersehen von Vater und Sohn ist außerordentlich, doch gelingt es Aeneas nicht, seinen Vater in die Arme zu schließen, da die Seelen in Vergils Orkus Traum- oder Schattenbildern gleichen, die ihrer Körper verlustig gegangen sind. Anchises erklärt Aeneas sodann das Konzept der Seelenwanderung. Die Seele, welche anfangs einzig aus den vier Elementen besteht und somit die ganze Erde umfasst, ist zunächst frei und unbeschwert. Mit der Bindung an den (menschlichen) Körper jedoch erleidet sie Gram, Alter, Krankheit und andere Übel, die ihr auch nach dem Tode noch anhaften. Daher erfährt die Seele, wiederum durch eines der vier Elemente, eine Reinigung und Läuterung, um ein weiteres Mal frei und unbeschwert auf die Erde zurückkehren zu können. Die Hadesfahrt des Aeneas lässt sich ebenso wie die vergilische Unterwelt selber folglich in zwei Teile gliedern. Der erste Teil des Kapitels schildert den Tartarus als einen Strafort für die Ungerechten und dient dem Autor somit als moralpädagogisches Moment, das den Leser vor leichtsinnigen Sünden warnen soll und ihm eine Anleitung an die Hand gibt, wie er sich in seinem Leben zu verhalten habe. Der zweite Teil hingegen dient vor allem dem Impetus der Erzählung selber, da er von großer Bedeutung für den Helden des Epos ist. Das Gespräch mit dem Vater Anchises gewährt Aeneas Einsicht in die Funktionsweise der Welt und gibt ihm darüber hinaus eine Antwort auf die Frage, was mit der menschlichen Seele nach ihrem Tod geschehe. Im Laufe der Zeiten erfährt diese eine Läuterung, um erneut zur Erde zurückzukehren. Dem Tod und der Ungewissheit, die mit ihm einhergeht, werden somit ihre Schrecken genommen und Aeneas kann sich beruhigt der irdischen Zukunft zuwenden. Dies gilt umso mehr, da der Vater Anchises ihm sein eigenes blühendes Geschlecht vor Augen führt, welches die Stadt Rom gründen und friedlich beherrschen soll. Besonders James Joyce nimmt die katabatische Motivik der Aeneis in mehrfacher Hinsicht wieder auf. Dies schlägt sich zunächst strukturell nieder, da es im Ulysses zu einer Zweiteilung der Unterwelt kommt. Sowohl das Kapitel „Hades“ als auch das „Circe“-Kapitel scheinen eine Reise in das Jenseits zu beschreiben. Erstere ist vor allem von dem Gedenken an die Toten und an den Tod selber geprägt. Blooms Gedanken beschäftigen sich eingehend mit den verschiedenen Totenkulten und mit den verstorbenen Menschen, die ihm etwas bedeutet haben. Letztere hingegen beschreibt vor allem die Träume, Ängste und Wünsche beider Protagonisten. Besonders für Stephen stellt die Begegnung mit seiner verstorbenen Mutter, ebenso wie mit Father Dolan, eine schauerliche Szene dar, in welcher sich die Geister der Vergangenheit gegen ihn erheben. Auch Thomas Mann verweist in seinem Werk auf den vergilischen Orkus. So erinnert vor allem die 21

Topographie des Hofes Buchel, dessen Mitte von einer großen Ulme beschattet wird, an den von Vergil beschriebenen Vorhof der Unterwelt und lässt das frühe Umfeld Adrian Leverkühns in einem jenseitigen Licht erscheinen.

1.2 Christliche Höllenfahrten 1.2.1 Die Hölle in der Bibel Der Strafcharakter, welcher schon in den antiken und heidnischen Unterwelten vorzufinden ist, findet in vielen christlichen Texten eine Vertiefung. Diese verstehen sich vor allem als moralpädagogische Lehrgedichte, die eine Anleitung zum friedlichen Leben miteinander und für das daraus resultierende Seelenheil zu geben versuchen. Besonders im Mittelalter wurden die Höllenvorstellungen aber auch zu demagogischen Zwecken genutzt, um das Volk zu ängstigen und somit an den Glauben und an die Kirche zu binden. Im Rahmen der folgenden Analyse christlicher Descensi ad inferos wird zunächst auf die für den Topos maßgeblichen Bibelstellen eingegangen werden, da die Bibel auf die gesamte westliche Literatur entscheidenden Einfluss geübt hat. Auch Thomas Mann und James Joyce konnten sich diesem Einfluß nicht entziehen. Besonders in seinem Spätwerk, den Joseph-Romane etwa, rekurriert Mann auf den biblischen Text. Auch Joyces Portrait of the Artist as a Young Man ebenso wie der Ulysses legen von diesem Einfluss beredtes Zeugnis ab, wobei der irische Autor die entlehnten Passagen häufig ironisch verkehrt. Anders als Mann, dessen Umgang mit der biblischen Tradition als Hommage gewertet werden kann, scheint Joyce den Text zu hinterfragen und seine Vormachtstellung in der westlichen Welt anzugreifen, was einer Entmythisierung der Heiligen Schrift gleichkommt. Weder die Hölle noch der Niederstieg Jesu in dieselbe werden in der Bibel explizit beschrieben. Die Annahme, dass Jesus nach seinem Tode in die Hölle hinabgefahren sei, um die Christen aus ihr zu befreien und sie in das Himmelreich eingehen zu lassen, ist in der Bibel so nicht belegt. Sie basiert vor allem auf dem Glaubensbekenntnis, in dem es heißt, Jesus sei „gekreuzigt, gestorben und begraben, hinabgestiegen in das Reich des Todes, am dritten Tage auferstanden von den Toten.“ Eine Textstelle bei Matthäus (27,51) legt den Descensus ad inferos und die Befreiung der bereits verstorbenen Christen aus der Unterwelt jedoch nahe. Nach dem Tode Jesu wird die Region um den Berg Golgotha von einem Erdbeben erschüttert und die Toten steigen aus ihren Gräbern, um in den 22

Himmel zu fahren: „Und siehe, der Vorhang im Tempel zerriß in zwei Stücke von oben an bis unten aus. Und die Erde erbebte, und die Felsen zerrissen, und die Gräber taten sich auf, und viele Leiber der entschlafenen Heiligen standen auf und gingen aus den Gräbern nach seiner Auferstehung und kamen in die heilige Stadt und erschienen vielen.“ 20 Auch im Brief des Paulus an die Epheser wird angedeutet, dass Jesus, der aufgefahren ist in den Himmel, auch in der Erden Tiefen hinabgestiegen sei: „Darum heißt es (Psalm 68,19): »Er ist aufgefahren zur Höhe und hat Gefangene mit sich geführt und hat den Menschen Gaben gegeben.« Daß er aber aufgefahren ist, was heißt das anderes, als daß er auch hinabgefahren ist in die Tiefen der Erde? Der hinabgefahren ist, das ist derselbe, der aufgefahren ist über alle Himmel, damit er alles erfülle.“21 Besonders der Umstand, dass Jesus „Gefangene“ mit sich geführt habe, deutet darauf hin, dass er die Toten aus der Unterwelt befreit hat. Auffällig ist, dass der Aufstieg den Abstieg hier regelrecht bedingt. Da Jesus aufgefahren sei, müsse er auch hinabgefahren sein in das Erdinnere. Hier deutet sich eine Vertauschung der Kategorien und eine Gleichsetzung von Oben und Unten an, welche sich bei Dante und der sich anschließenden literarischen Tradition fortsetzen wird. Im Buch Hiob dann hat der Satan einen Auftritt expressis verbis, da er als ein Gottessohn vor den Schöpfer tritt, um mit ihm über dessen Knecht Hiob und seine Frömmigkeit zu diskutieren. Der Satan erhält von Gott daraufhin die Erlaubnis, Hiob in Versuchung zu führen, ihn mit großem Unglück zu schlagen und somit zu erproben, ob er auch in schlechten Zeiten seinen Gott nicht verleugne. Es handelt sich folglich um eine Prüfung Hiobs, die dieser auch mit Würde und Demut trägt, bis selbst seine Frau und Freunde an seinem göttlichen Beistand zweifeln. Hiob bricht sodann in Klagen aus und verflucht Gott und den Tag, an dem er geboren wurde. Gott ermahnt ihn, von den Klagen abzulassen, und gibt ihm zum Ende der Erzählung das Doppelte von dem, was er vorher gehabt hat. Die Figur Satans fungiert im Buch Hiob vor allem als Verführer, da sie versucht, den Menschen Gott abtrünnig zu machen. Der Beginn des Buches jedoch unterstreicht, dass Satan trotz allem Gott untersteht, dass er sogar zu den Söhnen Gottes gezählt wird. Gott wird hier als Erschaffer der gesamten Schöpfung einschließlich des Bösen in der Welt dargestellt, dessen Wege unergründlich sind, dessen Allmacht aber außer Zweifel steht. Die Parallele der Erzählung zu Goethes Faust und der Fausttradition im allgemeinen ist unumstritten. In den modernen Adaptionen des Stoffes fungiert Satan ebenfalls als der Erzverführer, welcher einen Keil zwischen Gott und den Menschen zu treiben sucht, aber dennoch Teil von dessen Schöpfung ist. Vor allem in Manns Doktor Faustus wird deutlich, dass Gutes und Böses Die Bibel. Nach der Übersetzung Martin Luthers. Bibeltext in der revidierten Fassung von 1984 herausgegeben von der Evangelischen Kirche in Deutschland. Deutsche Bibelgesellschaft. Stuttgart. 1991. S.41. 21 Ebd. S.230. 20

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gleichermaßen in der göttlichen Schöpfung vorkommen, dass sie jedem Menschen, jeder Nation innewohnen. Ja sogar, dass Gutes aus Bösem entspringen kann, dass es mit den Worten Baudelaires eine „fleur du mal“ ist. In der Genesis wird der Satan nicht wörtlich genannt, jedoch ist anzunehmen, dass die Schlange, welche Eva einflüstert, vom Baum der Erkenntnis zu essen, als das böse Prinzip in der Welt gelten kann. Auch die Schlange trägt nicht allein negative Züge, da ihre Behauptung, Adam und Eva könnten wie Gott werden, indem sie sowohl um das Gute als auch um das Böse wissen, sich am Ende der Erzählung bewahrheitet. Tatsächlich öffnet der Genuss von dem Baum der Erkenntnis Adam und Eva die Augen. Sie werden sich ihrer Scham respektive ihrer Sexualität bewusst und bedecken fortan ihre Nacktheit. Die Erlangung des allumfassenden Wissens, welches die Schlange ihnen verheißen hatte, erzürnt Gott, der Adam und Eva mit Mühsal und Leid straft und sie zudem aus dem Paradies verbannt. Das bisher behütete und unwissende Paar nimmt somit menschliche Züge an, da das Leben fortan von Schmerz und Gram geprägt ist und Adam und Eva zudem sterblich geworden sind. Auf der anderen Seite kann man von einer Apotheose des Paares sprechen, das Gott gleicht, indem es sowohl das Gute als auch das Böse in der göttlichen Schöpfung erkennt. Die ersten Menschen werden aus einem Zustand der Unmündigkeit und Naivität in einen wissenden, wenn auch leidvollen Zustand überführt. Da die Schlange Adam und Eva sehend werden lässt, kann sie als eine Art Führerin in das Reich der Sexualität gelten. Die Sphäre des Sexuellen aber wird häufig dem Teufel zugeschrieben, dem vor allem im Mittelalter nachgesagt wurde, den Menschen in Form von Succubi oder Incubi beizuwohnen. In dem Werke James Joyces tritt die Schlange daher als Metapher für den Phallus auf. Besonders im Portrait of the Artist as a Young Man trägt Stephen Dedalus einen regelrechten Kampf mit seiner erwachenden Libido aus. Er entwickelt daher ein ambivalentes, von Lust und Verachtung geprägtes Verhältnis zu seinem eigenen Körper. Eines der zentralen Motive des Romans ist folglich der scheinbar unvereinbare Widerspruch zwischen Körper und Geist, den der junge Student zu überwinden sucht. Dass die Schlange mit dem Satan in Verbindung steht, wird darüber hinaus vor allem in der Offenbarung des Johannes deutlich, wo sie in einer durchweg grotesk anmutenden Szenerie mit dem Höllentier und dem Höllendrachen in einem Atemzug genannt wird: „Und ich sah einen Engel vom Himmel herabfahren, der hatte den Schlüssel zum Abgrund und eine große Kette in seiner Hand. Und er ergriff den Drachen, die alte Schlange, das ist der Teufel und der Satan, und fesselte ihn für tausend Jahre.“ (Off. 20.1f.). Mehrfach wird die Schlange als Symbol des bösen Prinzips in 24

der Welt angeführt, das überdies aber auch in Form eines Drachens, eines Tieres und des Satans selber dargestellt wird. Der Text scheint unstrukturiert und konfus, verdeutlicht aber gerade die Unbestimmbarkeit des Bösen, die Fähigkeit des Teufels sich zu wandeln und seine Gestalt zu ändern. Die Vielgesichtigkeit des Teufels wird in den modernen Texten häufig aufgegriffen. Goethes Mephisto ebenso wie der Teufel in Thomas Manns Doktor Faustus vermögen es, ihr Aussehen zu verändern. Sie nähern sich ihren Opfern meist in einer Gestalt, die diesen angenehm und willkommen ist. Die Hölle selber wird in der Offenbarung als eine Art Pfuhl dargestellt, in welchen der Satan ebenso wie die Schlange und das Tier nach der Schlacht mit den Heiligen Heerscharen des Erzengels Michael geworfen werden. Der Höllenpfuhl der Offenbarung wird also von drei Vertretern des Bösen bewohnt. Das Tier, der falsche Prophet und Satan selber sitzen auf ewig in ihm fest, um Tag und Nacht gequält zu werden. Er dient also zunächst nicht als Strafort für die Menschen, sondern als Strafort und Sitz des Bösen, welches von Gott verstoßen wurde. Bedeutsam ist, dass an dieser Stelle der Begriff der Ewigkeit eingeführt wird, mit welchem die Hölle fortan in Verbindung gebracht wird. Sowohl im Werke Manns als auch in dem Joyces wird die Unterwelt mit einer Art kreisförmiger Ewigkeit assoziiert. Darüber hinaus schildert die Offenbarung des Johannes den Fall der „großen Hure Babylon“ und evoziert somit das Motiv der sündhaften Stadt, in welcher Laster und Hurerei vorherrschen. Der Text beschreibt eine mit edlen Stoffen und Steinen geschmückte Frau, die als Symbol für die materialistische und oberflächliche Stadt fungiert. Die Stadt als topographisches Merkmal der Unterwelt findet sich bereits bei Vergil und geht ebenfalls in die literarische Tradition der Moderne ein. So entwirft Thomas Mann im Tod in Venedig das Bild einer Nekropole, deren Besucher Gustav Aschenbach in einen libidinösen Rausch verfällt und sich zudem mit der in der Stadt umgehenden Cholera infiziert. Auch James Joyce greift dieses Motiv wieder auf, wenn er seine Heimatstadt Dublin als eine der Vergangenheit verhaftete und korrupte Schattenwelt zeichnet, deren Bewohner trunksüchtig, heuchlerisch und bigott auftreten. Zudem beschreibt Stephen Dedalus das Sündenviertel Paris', wobei die sexuelle Freizügigkeit, welche Fetische diverser Art toleriert, selbst die Dubliner Prostituierten überrascht und erheitert. Das katabatische Motiv der Stadt ist hierbei nicht allein negativ gezeichnet, da die sexuelle Freizügigkeit, welche in ihr vorherrscht, auch einer Befreiung der unterdrückten Libido der Protagonisten dient, wenn diese einen Teil ihrerselbst akzeptieren und lieben lernen. Die Erkenntnis der eigenen Sexualität als Teil der menschlichen Natur ist ein maßgeblicher Bestandteil der Selbsterkenntnis, welche Gustav Aschenbach, Leopold Bloom und Stephen Dedalus erfahren. 25

1.2.2 La Divina Commedia Im Mittelalter werden die Vorstellungen, die man sich von der Hölle macht, deutlich konkreter. Den Höhepunkt der christlichen und literarischen Höllendarstellungen stellt sicherlich Dante Alighieris Divina Commedia dar, welche im frühen 14. Jahrhundert entstanden ist. Dantes 100 Gesänge umfassendes Epos ist von einer dreiteiligen Gliederung geprägt. Der Autor selber fungiert als Protagonist, der unter Anleitung Vergils das Inferno und den Läuterungsberg besucht. Auf dessen Spitze wird Vergil, der Dante auch als poetisches Vorbild gilt, von Beatrice abgelöst. Diese führt ihn schließlich durch das Paradiso, in welchem Dante Gott offenbar wird. Die Hölle Dantes besteht aus einem spiralförmigen Trichter, der sich bis zum Erdmittelpunkt schraubt. Dieser Trichter entstand durch den Fall Luzifers, nachdem der einstige Engel aufgrund seines Hochmutes von Gott aus dem Himmel verstoßen wurde. Er ist unterteilt in neun Höllenkreise, die als Strafbezirke dienen und die jeweils für eine bestimmte Art der Sünde vorgesehen sind. Die Strafen, welche die Sünder hier erdulden müssen, richten sich folglich nach den Sünden, welche sie auf Erden begangen haben. In einer groben Einteilung umfassen diese Kreise vor allem die Sünden der Maßlosigkeit, der Bosheit und des Verrates, unterteilen sich aber in mehrere Unterkreise, in welchen die Laster der Menschen spezifiziert und an mythologischen und historischen Personen exemplifiziert werden. Wie schon Vergil beschreibt Dante die Unterwelt gleich zu Beginn des Poems als eine Stadt der Trauer oder auch der Schmerzerkorenen, in welcher die Verdammten ewige Qualen erwarten. Wiederum wird die Stadt also mit Übeln, Lastern und Frevel in Verbindung gebracht, in deren Mauern die Sünder ewiger Gefangenschaft entgegensehen. Zudem wird gleich zu Beginn deutlich gemacht, dass die Hölle ein von Gott geschaffener Ort ist. Der „alto fattore“, der große Schöpfer, hat den Trichter dadurch erzeugt, dass er Luzifer vom Himmel hinuntergestürzt hat. Dass die Eintretenden alle Hoffnung fahren lassen sollen, verweist auf den ewigen Charakter dieser Hölle, deren Kreisen die Sünder nicht entkommen können.22 Das Inferno Dantes ist Teil der göttlichen Schöpfung und wirkt dennoch wie eine eigene und abgeschlossene Welt in sich. Die Topographie weist Bäume, Flüsse, Schluchten, Berge, Täler und Städte auf und gleicht somit einer Parallelwelt, die vor allem von Extremen geprägt ist. Viele der Sünder werden durch das Wetter geplagt, durch Sturm, Regen, Hagel oder Feuerflocken. Besonders in den unteren Höllenkreisen mehren sich die Feuerstrafen, im tiefsten und letzten Kreis jedoch herrschen ewiges Eis und unvorstellbare Kälte. Die Beschreibungen des griechischen Hades und des römischen Orkus sind maßgeblich in die christlichen Vorstellungen der Hölle eingeflossen, weshalb es mitunter schwerfällt, eine scharfe 22

Vgl. Dante Alighieri. La Divina Commedia. Canto III, 1-9. S.30.

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Trennung zwischen den verschiedenen Formen der Unterwelt vorzunehmen. So lässt auch Dante mythologische Vorläufer wie Charon oder Minos auftreten. Letzterer bestimmt mithilfe seines langen Schweifes, in welchen Höllenkreis die Sünder herabsteigen müssen. In einem entscheidenden Punkt setzt sich die Divina Commedia jedoch von ihren literarischen Vorbildern ab, denn der Protagonist erhält keine Prophezeiung über seine Zukunft, sondern erfährt stattdessen vieles über die Beschaffenheit des Bösen und der Sünde. Dies wiederum inspiriert eine Umkehr in ihm, welche auch narrativ nachvollziehbar ist. Um aus dem Inferno hinaus zu gelangen, müssen Vergil und Dante sich am zottigen Fell Luzifers hinuntergleiten lassen. Da sie sich am Erdmittelpunkt bewegen, verkehren sich die Richtungen und nach einer Weile klettern sie nach oben, um der Hölle zu entkommen. Wie schon im achten Höllenkreis wird hier das Motiv der Umkehr und der Verkehrung aufgegriffen. Ost und West, Oben und Unten werden vertauscht. Diese Umkehr ist bei Dante als Peripetie der Handlung zu verstehen, aber auch als eine christliche Umkehr, da Dante von den Sünden ablässt, um sich den Tugenden zuzuwenden und eine Läuterung zu erfahren. Darüber hinaus prägt sie ein ironisches und kritisches Moment, da Dante in seinem Text mehrfach die Hierarchie der Kirche und des Staates anprangert und deren Vertreter als unwürdige und lasterhafte Sünder vorführt. Er fordert daher auch eine Umkehr der Machtverhältnisse. Die Divina Commedia verfolgt somit zugleich mehrere Ziele. Zum einen dient sie als christliches Lehrgedicht, welches eine Anleitung zu moralischem Handeln gibt. Zum anderen ist sie aber auch ein politisches Statement, eine Abrechnung mit dem verlogenen und korrupten Klerus und dem florentinischen Adel des frühen 14. Jahrhunderts. Die unterschwellige Rebellion gegen

Hierarchie

und

Oberschicht

wird

auch

in

Vergils

Verhalten

gegenüber

den

Unterweltgottheiten deutlich. Sowohl Charon als auch Minos gegenüber tritt er selbstsicher, ja geradezu frech auf. Da diese den lebenden Dante nicht passieren lassen wollen, fährt er ihnen regelrecht über den Mund und setzt sich über ihren Willen hinweg. Denn Gott wolle, so belehrt er sie, dass Dante die Hölle sehe, damit er aus ihr lerne und sich des rechten Weges besinne. Dass die Hölle somit für den lebenden Menschen zugänglich wird, kommt einer Humanisierung gleich, da sie dem Heil des Menschen und seinem sozialen Leben dient. Das übermäßige Selbstbewusstsein Vergils gegenüber den Vertretern der Hölle rührt aber auch daher, dass er (literarische) Erfahrung im Umgang mit der Unterwelt und ihren Insassen hat. Als Verfasser der Aeneis ist er des Ortes und seiner Regeln kundig. Die unterweltlichen Schwellengestalten und Ungeheuer verzwergen nachgerade vor der Größe, dem Ruhm und dem Wissen Vergils. Ein weiteres humanistisches Moment, welches die Commedia prägt, ist das Mitleid, welches sowohl Vergil als auch Dante für die Sünder empfinden. Gleich zu Beginn des Abstieges glaubt Dante Furcht im Gesicht Vergils zu lesen. Dieser beteuert jedoch, dass das Mitgefühl mit den Gequälten 27

und nicht die Angst vor den Schrecken der Hölle seine Miene derart verfinstere: Ed elli a me: »L'angoscia delle genti Che son qua giù, nel viso mi dipigne Quelle pietà che tu per tema senti.«23

Auch Dante selber zeigt sich häufig von Mitleid gerührt, leiht den Sündern ein verständnisvolles Ohr und fühlt mit ihnen in ihrem Leid. Teilweise vergießen sein Führer und er gar Tränen für die Gequälten, was sie als humane und christlich gesinnte Menschen auszeichnet. Auch hier wird der moralpädagogische Ton des Gedichtes deutlich, da Dante dem Leser vorlebt, dass man sich nicht über das Leid anderer zu freuen habe, sondern mitfühlen und wenn möglich helfen soll. Um die Verbindung zu veranschaulichen, welche zwischen dem Diesseits und dem Inferno Dantes, den Lebenden und den Toten besteht, dient die Begegnung Dantes mit zwei der Ketzerei bezichtigen Sündern. Im sechsten Höllenkreis trifft er gemeinsam mit seinem Führer Vergil auf die Ketzer, welche in brennenden Särgen Feuerqualen erleiden müssen. Unter ihnen erblickt Dante Farinata degli Uberi, dessen Stolz er bewundert. Erich Auerbach führt diesen Gesang als Beleg dafür an, dass die Toten in Dantes Inferno in ihrer eigentlichen Wesenheit erscheinen. Die Charakterzüge, welche sie schon zu Lebzeiten auszeichneten, treten nach ihrem Tod noch deutlicher hervor.24 Darüber hinaus lehrt uns die Passage, dass die Sünder zwar über eine Kenntnis der Vergangenheit und teils auch der Zukunft verfügen, nicht aber über eine Kenntnis der Gegenwart. Sie bitten Dante daher, ihnen von ihren Verwandten und Freunden zu berichten: «Noi veggiam, come quei c'ha mala luce, Le cose» disse «che ne son lontano; Cotanto ancor ne splende il sommo duce. Quando s'appressano o son, tutto è vano Nostro intelletto; e s'altri non ci apporta, Nulla sapem di vostro stato umano.»25

Da die Toten nur jene Dinge zu sehen vermögen, die in der Ferne liegen, der fernen Vergangenheit oder der fernen Zukunft, bedürfen sie der Auskunft durch die Lebenden, um über das derzeitige Treiben auf Erden zu erfahren. So ergänzen Tote und Lebende sich in ihrem Wissen gegenseitig und vermögen es, einander in Kenntnis zu setzen. Zwischen Dante und den Sündern findet ein geistiger Austausch statt, der nahe legt, dass Tod und Leben nicht als Gegensätze aufzufassen sind, sondern sich gegenseitig bedingen und bereichern können. Dante. La Divina Commedia. Canto IV. 19-21. S.42. Vgl. Erich Auerbach. Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur. Francke Verlag. Bern; München. 1967. (1946). S.183f. 25 Dante. La Divina Commedia. Canto X. 100-105. S.120. 23 24

28

Sowohl Thomas Mann als auch James Joyce verweisen explizit auf die Divina Commedia. Im Zauberberg etwa geriert sich Lodovico Settembrini als Vergil, der den jungen Hans Castorp durch das Schattenreich des Berghofes zu führen gedenkt. Er gleicht seinem literarischen Vorbild in seinen pädagogischen und humanistischen Bemühungen um die Bildung des Ingenieurs. Auch Joyce verweist mehrfach auf den italienischen Vorläufer. Die interessanteste Rezeption stellt hierbei die Erzählung „Grace“ dar, da sie, wie Kapitel 3.1 ausführlich darlegt, die Reise und Läuterung Dantes ironisch verkehrt, wenn sie den Niedergang des Teehändlers Tom Kernan nachzeichnet. Dieser findet im Gegensatz zu Dante nicht zurück auf den „rechten Weg“ und erfährt keine Anschauung Gottes, sondern bleibt dem Sumpf aus Eigennutz und Bigotterie, als der die Dubliner Geschäftswelt dargestellt wird, verhaftet.

1.2.3 Die Historia von D. Johann Fausti Ein zweiter christlicher Text mit moralpädagogischer Funktion, der sich sehr konkret mit der Höllenvorstellung auseinandersetzt, ist das 1587 von Johann Spies veröffentlichte Volksbuch. Die auch unter dem Titel Die Historia von D. Johann Fausti erschienene Schrift zeichnet ein sehr negatives Bild des historischen Faust, der einen Pakt mit dem Teufel eingeht und am Ende der Erzählung auf grausame Weise von ihm getötet wird. Die Figur Fausts dient „als ein schrecklich Exempel des Teuffelischen Betrugs Leibs und Seelen Mords allen Christen zur Warnung.“ Bei dem Text handelt es sich also ebenfalls um ein moralpädagogisches Lehrgedicht, welches zu einem gottesfürchtigen Leben ermahnt. Schon in der „Vorrede an den christlichen Leser“ brandmarkt der Autor die Zauberei und die Schwarzkunst, deren sich Faust bedient, als größtmögliche Sünde, da sie einer Hinwendung zum Teufel und einer Abwendung von Gott gleichkomme. Der Teufel aber sei „nicht allein für sich ein abtrünniger, verkehrter und verdampter Geist durch seinen Hoffart vnd Abfall von Gott worden, sondern ist auch ein abgünstiger, listiger vnd verfürerischer Geist Gottes“, 26 da er den Menschen versuche und ihn Gott abspenstig mache. So sei es auch der Teufel gewesen, der Adam und Eva im Garten Eden verführt und ihren Fall sowie die aus ihm resultierende Erbschuld der Menschheit zu verantworten habe.27 Bedeutend ist, dass Faustus selber die Begegnung mit dem Teufel herausfordert. Aufgrund seiner Neugier beschwört er den Teufel im Spesser Wald, sodass dieser ihm schließlich als Drache und als Die Historia von D. Johann Fausti. Kritische Ausgabe der jüngeren Version von 1589. Herausgegeben von Peter Philipp Riedl. Weidler Buchverlag. Berlin. 2006. S.7. 27 Vgl. ebd. S.8. 26

29

Greif erscheint. Der „Hellendrachen“ ist dem Leser schon aus der Bibel bekannt, der Greif jedoch, ein Mischwesen mit einem löwenartigen Körper und Adlerschwingen, wird nur selten mit dem Teufel in Verbindung gebracht. Zwar gilt er vor allem in der antiken Ikonographie als Symbol für Hoffart und Habgier ebenso wie als Todesbote und Totengeleiter,28 daneben findet er aber auch als christliche Schutzfigur Verwendung. Der Teufel tritt folglich in verschiedenen Gestalten auf, die sowohl positiv als auch negativ besetzt sind. Er ist Teil der göttlichen Schöpfung und trägt daher gute wie böse Elemente in sich. Er wird im Folgenden auch häufig als Geist oder Mephostophiles bezeichnet, ist Faustus gehorsam und kommt des Nachts wieder zu ihm. Bei dieser Gelegenheit stellt Faustus mit sechs Forderungen die Bedingungen für den Teufelspakt auf. Der Teufel willigt in diese Forderungen ein, stellt aber auch seinerseits Bedingungen an seinen Bündner. Den Pakt soll Faust sodann mit seinem eigenen Blut unterzeichnen, was dieser bereitwillig tut. Bezeichnenderweise dient das Blut seiner linken Hand zur Unterschrift: „Als diese beyde Partheyen sich mit einander verbunden name D. Faustus ein spitzig Messer sticht jhm eine Ader in der Lincken Hand auff vnd sagt man warhafftig das in solcher Hand ein gegrabene vnd Blutige Schrifft gesehen worden O hom*o fuge id est O Mensch fleuhe von jhm vnd thu recht etc.“ 29 Auf Fausti Geheiß berichtet der Teufel von der „Hell und jhrer Spelunck“. An diesem Ort hause der in Ketten geschlagene Luzifer in ewiger Finsternis, Nebel, Feuer, Schwefel, Pech und Gestank. Der Ort sei unermesslich groß, habe „weder End noch Grund“ und ließe sich in zehn Reiche unterteilen: Lacus mortis, Stagnum ignis, Terra tenebrosa, Tartarus, Terra obliuionis, Gehenna, Herebus, Barathrum, Styx und Acheron. „Jn dem regieren die Teuffel Diaboli genannt. Diese vier Regiment vnter jhnen sind Königliche Regirung als Lucifer in Oriente, Beelzebub in Septentrione, Belial in Meridie, Astaroth in Occidente, vnnd diese Regirung wird bleiben biß in das Gericht Gottes. Also hastu die Erzälung von vnserem Regiment.“30 Wie schon in der Divina Commedia, so werden auch hier verschiedene kulturelle Einflüsse deutlich, da die Bezeichnungen vor allem der antiken und der jüdischen Tradition entstammen. Die folgenden Beschreibungen der Hölle weichen teilweise stark von dieser ersten Darstellung ab. So beschreibt Mephostophiles die Hölle an späterer Stelle als brennenden Ort, der sich unterhalb Jerusalems befinde und wo es weder Erquickung noch Labung gebe. „Also wird die Seel des Verdampten jmmerdar brennen vnnd sie doch das Fewr nicht verzehren können sondern nur mehr Pein fühlen. So heist die Helle auch die ewige Pein die weder Anfang Hoffnung vnd Ende hat. Sie Vgl. Hugo Brandenburg. 'Greif' In: Reallexikon für Antike und Christentum Bd. 12. Hrsg. von Theodor Klauser; Carsten Colpe (u.a.). Anton Hiersemann Verlag. Stuttgart. 1983. S.958. 29 Historia. S.18. 30 Historia. S.26. 28

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heist auch ein Finsternus eines Thurns da man weder Herrligkeit Gottes als das Liecht Sonn vnd Mond sehen kan.“31 Darüber hinaus herrschen Gestank, Geschrei, Gezeter und Zähneknirschen in der Hölle, sodass alle Sinne der Sünder die Grausamkeit des Ortes erfahren. Neben diesen körperlichen Qualen jedoch leiden die Sünder vor allem, da Gott sie verlassen hat, weil es für Reue zu spät ist und ihnen die Gnade Gottes verwehrt bleibt. Diese Gottesferne, welche jegliche Hoffnung auf Erlösung ausschließt, ist vielleicht die größte der beschriebenen Qualen. Besonders in den Höllenpredigten des Portrait rekurriert Joyce auf die mittelalterliche Tradition, die Hölle als einen alle Sinne quälenden Ort zu beschreiben. Father Arnall entwirft während einer Besinnungswoche an Stephen Dedalus' Schule ein grausames Bild der Hölle, die sowohl alle Sinne als auch die Seele betrifft. So zählt die Gottesferne, welche die Historia explizit nennt, zu den vom Priester beschriebenen „spiritual pains“. Der zweite Teil des Volksbuches ist vor allem den Abenteuern Fausti gewidmet und seiner Erkenntnis über die Welt und den Kosmos. So lauscht er zunächst einem Bericht über die Schöpfung und den Himmelslauf. Einige Zeit später zeigt ihm Belial sieben weitere Teufelsgestalten. Unter ihnen erblickt Faust den haarigen und zottigen Lucifer, dessen Fell braunrot ist. Des Weiteren sieht er einen hundsköpfigen Teufel mit Namen Anubis, eigentlich ein ägyptischer Gott der Totenriten und der Bestattung, der in der Unterwelt auch bei der Wägung der Herzen beisitzt. Auch an dieser Stelle wird folglich deutlich, dass verschiedenste Kulturkreise auf die Historia gewirkt haben, ja dass sie ein regelrechtes Sammelsurium an unterweltlichen Mythologemen aufweist. Das Leben Fausti, und mit ihm die Erzählung, neigen sich dem Ende zu. In einer langen Schmährede verhöhnt der Teufel Faust, da dieser selber für sein Unglück verantwortlich sei. Sein Hochmut und sein Stolz hätten ihn veranlasst, den Teufel um seine Dienste zu bitten, obwohl er gewusst habe, dass er nach den Geboten Gottes hätte leben sollen. Der Teufel selber erkennt die Vormachtstellung Gottes an und versteht sich selber als dessen Abt, Mönch, Affe, Lügner und Mörder. Seine tierische Natur, die Nähe zum Affen, zu der Schlange, dem Drachen ebenso wie zu Insekten und Ungeziefer, verdeutlichen seine Erdgebundenheit und seine Zugehörigkeit zur Natur wie auch seine Körperlichkeit. Diese findet auch Ausdruck in der sexuellen Sphäre, die dem Teufel weitgehend zugerechnet wird. Am Abend vor seinem schauderhaften Tode, der dem Leser als abschreckendes Beispiel dienen soll, hatte Faust die Studenten versammelt und ihnen von seinem Bund mit dem Teufel und seinen Sünden erzählt. Er hatte betont, dass er als guter und als böser Christ sterbe, „ein guter Christ darumb das ich ein Herztliche Rew habe vnd im Hertzen jmmer vmb Gnade bitte damit meine Seele 31

Ebd. S.31.

31

errettet möchte werden. Ein böser Christ das ich weis das der Teuffel den Leib wil haben vnnd ich wil jhme den gerne lassen er lasse mir aber nur die Seele zufrieden.“ 32 Thomas Mann greift diese Rede Fausti wieder auf, wenn er im Doktor Faustus die Allegorie einer ambivalenten Nation entwirft, eines zu gleichen Teilen guten und bösen Deutschlands, eines Landes der Extreme, das die ganze Bandbreite der Schöpfung auf sich vereint. Scheint das Volksbuch auf den ersten Blick relativ einheitlich gehalten zu sein - es beginnt mit der Kindheit Fausti und zeichnet Episoden seines Lebens nach bis hin zu seinem Tode - so wird schnell deutlich, dass es sich um ein Konglomerat an Einflüssen und folglich auch an unterweltlichen Vorstellungen handelt. Zwar ist der Text stark christlich geprägt und schildert eine Strafhölle, in welcher Gejammer, Gezeter, Heulen und Zähneklappern sein wird, eine Hölle eisiger Kälte und glühenden Feuers. Doch besonders die Beschreibung der verschiedenen Höllenreiche und der Teufel belegen die Vielschichtigkeit des Textes. So teilt sich die Unterwelt einem Bericht Mephostophiles' zufolge in zehn Regionen und in vier Reiche. Betrachtet man jedoch die späteren Reisen Fausti, so erhält man einen anderen Eindruck. Dort wird die Hölle als Vulkanlandschaft entworfen, in deren Klüften und Schluchten vor allem die Reichen, Maßlosen sowie die Simonisten und Heuchler gestraft werden. Auch die unterschiedliche Herkunft der Teufel - sie stammen aus dem Alten Orient, aus Israel und aus Ägypten - verweist auf die Uneinheitlichkeit und Paradoxität des Textes. Es scheint, dass Spies die Höllenvorstellungen, die ihm bekannt waren, sei es aus mittelalterlichen Erzählungen oder antiken Überlieferungen, zusammengetragen hat, um ein möglich umfassendes und vollständiges Bild der Unterwelt zu entwerfen. Bedeutend ist sicherlich die Entwicklung Fausti, der zunächst als hoffärtiger und der Wissenschaft zugetaner, dem Glauben abtrünniger Teufelsbündner vorgestellt wird, der den Kontakt zur Schwarzkunst und den diabolischen Mächten durch seine Beschwörungen herausfordert. Im Laufe der 24 Jahre nämlich wird er sich dieser Verbindung durchaus unsicher und beginnt zu bereuen, dass er sich dem Teufel mit Leib und Seele verschrieben hat. Er muss der Liebe entbehren und beklagt kurz vor seinem Tod, dass er keine Hoffnung auf Gnade und Erlösung haben dürfe. Die moderne Vorstellung der Hölle, dass diese diesseitig und vor allem von den stetigen Gewissensbissen der Sünder geprägt sei, ist bei Spies folglich schon angelegt. Vor allem Thomas Mann hat sich der literarischen Vorlage beim Abfassen seines Doktor Faustus bedient. Sowohl in der Beschreibung einzelner Figuren als auch im Zusammenhang mit dem Teufelsgespräch finden sich wörtliche Übernahmen, welche den Einfluss der Historia auf Manns Werk belegen. Der Intertext verleiht dem Roman Manns eine mittelalterliche, grausame Note und spiegelt somit den Rückfall in Ästhetizismus und Barbarei, welchen der Autor in seiner Faust32

Historia. S.110.

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Adaption schildert. Der Aspekt der Innerlichkeit der Hölle, der persönlichen Hölle, die im Falle Adrians akustische und von Extremen geprägte Züge aufweist, wird hierbei noch vertieft. Mann weicht zudem in dem Punkt von der Historia ab, als sein Faust das Schicksal Deutschlands versinnbildlicht und der Roman folglich als Allegorie fungiert.

1.3 Mythologische Figuren 1.3.1 Hermes Ehe die Analyse der Jenseitsvorstellungen im Werke Thomas Manns und damit der Hauptteil der Dissertation erfolgt, sollen noch zwei mythologische Figuren eingeführt werden, welche eine große Nähe zu dem Motivkomplex der Unterwelt und des Hades aufweisen und auch in der Literatur der Moderne noch ihren Niederschlag finden, Hermes und Dionysos. Hermes, ein Sohn des Zeus, macht schon kurz nach seiner Geburt durch die Nymphe Maia auf sich aufmerksam, da er bereits als Säugling 50 Rinder aus der Herde Apollos geraubt haben soll. Um seinen Frevel zu verschleiern, bedient er sich einer List, er fertigt sich aus Zweigen ein Paar Schneeschuhe, die dazu angetan sind, seine Spuren zu verwischen. Der Verdacht fällt dennoch auf ihn. Als der junge Hermes sich für dieses Verbrechen verantworten soll, findet er allerlei Ausflüchte und scheut auch vor der Lüge nicht zurück. Er beharrt darauf, die Rinder zu behalten, entschädigt Apollo jedoch mit der von entworfenen Leier. Auch die Hirtenflöte soll dem Erfindungsgeist des jungen Hermes entsprungen sein, was eine Affinität zu Musik und Rhythmik nahelegt.33 Hermes' Vorliebe für Musik wiederum suggeriert eine gewisse Nähe zu dem Gott Dionysos und wird im Werk Thomas Manns wieder aufgegriffen. Vor allem im Tod in Venedig setzt dieser beide Gottheiten und den dionysischen Rausch mit der zum Träumen anregenden Musik zueinander in Beziehung. Am bekanntesten ist Hermes sicherlich in seiner Rolle als Götterbote, da er die Beschlüsse, die Zeus fasst, den übrigen Göttern sowie den Menschen überbringt. Da er die Kommunikation zwischen Gott und Mensch regelt, kann er als Mittlergottheit bezeichnet werden, der zwischen Gott und den Menschen eine Verbindung schafft und sie daher einander annähert. Auch dieses Moment greift Thomas Mann wieder auf, etwa wenn Hans Castorp auf dem Berghof zwischen Oben und Unten, Osten und Westen zu vermitteln scheint, wenn er die widerstreitenden Meinungen, welche [Art.] 'Hermes' In: Der Neue Pauly 5. Enzyklopädie der Antike. Herausgegeben von Hubert Cancik; Helmuth Schneider. Metzler Verlag. Stuttgart. 2002. S.428. 33

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im Hochgebirge vorherrschen, im „Schnee“-Kapitel einer Synthese zuführt. Um die ihm anvertrauten Botschaften adäquat wiederzugeben, wurde von Hermes zudem erwartet, dass er diese selber verstehe und interpretiere, weshalb die Lehre des Verstehens, die Hermeneutik, nach ihm benannt worden ist. Weithin wurde angenommen, dass Hermes geflügelte Schuhe, einen geflügelten Helm oder auch geflügelte Schultern habe, die seine Schnelligkeit im Überbringen der Botschaften ermöglichten. 34 In seiner Funktion als Bote tritt er auch in Vergils Aeneis auf, da er Aeneas, der sich sehr lange bei seiner geliebten Dido in Karthago aufhält, an dessen Auftrag erinnert, Rom zu gründen: Also sprach er. Merkur aber fügte sofort sich des großen Vaters Befehl: er band sich zunächst an die Füße die goldnen Schuhe, die hoch auf Flügeln dahin über Meer oder Land ihn tragen im reißenden Wehen der Luft; dann nimmt er die Rute, bleiche Seelen ruft er mit ihr empor aus dem Orkus, andere schickt er mit ihr hinab in des Tartarus Grauen, schenkt und nimmt den Schlaf, entsiegelt vom Tode die Augen. 35

Vergil lässt hier Merkur als Götterboten auftreten, was verdeutlicht, dass die römische Mythologie sich weitgehend an den griechischen Gottheiten orientiert hat. Der Göttervater Jupiter, der Merkur hier entsendet, entspricht dem griechischen Zeus. Ebenso entspricht Merkur dem Götterboten Hermes. Neben dessen Funktion als Boten verdeutlicht der Textauszug aber eine weitere Aufgabe der Figur. Hermes bzw. Merkur kommt es zu, mit seinem goldenen Heroldstab die Toten in die Unterwelt zu geleiten, ihre Augen zum Tod ebenso wie zum Schlaf zu schließen, aber auch sie nach einer geruhsamen Nacht wieder zu öffnen. Als Totengeleiter und Seelenführer kommen Hermes die Beinamen Psychopompos, Psychagogos oder auch Nekropompos zu. Am Ende der Odyssee, nach dem Freiermord, wird beschrieben, wie Hermes die Schar der Männer in den Hades geleitet, vorbei an den Toren des Helios und dem Land der Träume. Dort wird er auch als „Bringer des Heiles“ oder „Retter in Not“ bezeichnet, was zunächst paradox wirkt, da der Kyllenier die Seelen doch in das triste und dunkle Schattenreich des Hades führt. Kerényi gibt zu bedenken, dass die Stelle durchaus positiv aufzufassen sei, da der Tod nicht immer die schlechteste Gabe darstelle, da er auch als eine Erlösung kommen kann.36 Besonders im Werk Thomas Manns taucht die Figur des Totengeleiters auf. So wird etwa Tadzio zum Ende des Tod in Venedig als „lieblicher Psychagog“ bezeichnet, da es Aschenbach so erscheint, als geleite der Angebetete ihn in das Reich des Todes. Der Knabe fungiert als ein Mittler zwischen Lebenden und Toten, der die einen in das Reich der anderen überführt. Neben dem Beinamen Psychopompos trägt Hermes auch den Namen Trismegistos, der auf eine Ebd. S.430. Vergil. Aeneis. S.183. 36 Karl Kerényi. Hermes der Seelenführer. Das Mythologem vom männlichen Lebensursprung. Rhein-Verlag. Zürich.1944. S.53.f. 34 35

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weitere wichtige Funktion des Seelenführers hinweist. Dieser nämlich zeichnet ihn als Vertreter der Schriftkunst und der Eloquenz aus. Einigen Quellen zufolge ist Hermes gar der Verfasser alchemistischer und magischer Schriften, weshalb er auch als Gott des Schrifttums und der Magie verehrt wird. James Joyce verweist in seinem Werk mehrfach auf Hermes als Gott des Schrifttums und der Alchemie. Vor der Bibliothek erscheint es dem jungen Stephen Dedalus, dass der Gott sein Schutzherr sein müsse, zusammen mit dem griechischen Erfinder Daidalos. Sowohl die Verbindung zum Schrifttum als auch die Verbindung zur Totenwelt legen die Verwandtschaft Hermes' mit dem ägyptischen Gott Thot nahe, der ebenfalls als Gott der Schriftsteller und der Totenwelt gilt.37 Unter anderem fungiert Thot als Protokollant bei der Herzenswägung während des Totengerichts. Diese entscheidet, inwieweit sich der Verstorbene in seinem Leben an moralische Grundsätze gehalten hat. Thot wirft insofern ein zwiespältiges Licht auf Hermes, als er auch als eine Affen- und Mondgottheit galt, der auch den dunklen Trieb des Menschen verkörperte. Wie Vico betont, galt Thot den Ägyptern zudem als Erfinder technischer wie politischer Einrichtungen, weshalb ihm eine wichtige Funktion in der Gesellschaft zukam. 38 In der Vielfältigkeit seiner Funktionen wird Hermes daher zu einer ambivalenten Gestalt, die als Heilsbringer ebenso wie als Todesbote fungiert. Die Ambivalenz der Götter, aber Hermes' insbesondere wird auch von Donald F. Nelson beschrieben, der feststellt, dass die Figur jenseits von gut und böse ist, wenn sie sowohl den Gott der Diebe als auch einen Menschenfreund personifiziert.39 Auch Kerényi betont die Ambivalenz des Gottes und beschreibt seine Funktion als das „Hervorzaubern lichten Lebens aus dem dunklen Abgrund.“ Dies stelle eine Gemeinsamkeit des Hermes' mit Dionysos dar.40 Die Ambivalenz des Gottes ist sowohl im Werke Manns als auch in den Romanen Joyces von besonderer Bedeutung, da ihre Texte immer wieder auf die Zweideutigkeit des Menschen, der Natur und des Staates anspielen. Tadzio etwa erscheint Aschenbach als ein Liebesbote, bringt ihm aber letztlich den Tod. Im Werke Joyces stellt besonders das „Circe“-Kapitel jene Ambivalenz heraus, die schließlich in der Koinzidenz der Gegensätze resultiert. So wird Bloom zum „womanly man“, Mann und Frau, Herrscher und Beherrschten, Held und Aussätzigen. Das Kapitel folgt einer geradezu bachtinischen Logik, welche die Hierarchie aufhebt und die Einheit alles Seins und die Gleichheit der Menschen versinnbildlicht. Vgl. [Art.] 'Hermes' In: Der Neue Pauly Bd.5. S.430. Giovanni Battista Vico. Prinzipien einer neuen Wissenschaft über die gemeinschaftliche Natur der Völker. Bd. 1. Übersetzt von Vittorio Hösle und Christoph Jermann und mit Textverweisen von Christoph Jermann. Mit einer Einleitung »Vico und die Idee der Kulturwissenschaft« von Vittorio Hösle. Felix Meiner Verlag. Hamburg. 1990. S.56f. 39 Donald F. Nelson. Portrait of the Artist as Hermes. A Study of Myth and Psychology in Thomas Mann's Felix Krull. University of North Carolina Press. 1971. S.11. 40 Karl Kerényi. Hermes der Seelenführer. S.106. 37 38

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1.3.2. Dionysos Über den Hergang und den Ort von Dionysos' Geburt ist sich die Altertumsforschung uneinig. Übereinstimmung herrscht einzig darüber, dass es sich um eine zweifache Geburt handelt. Die gängigste Erzählung besagt, dass Zeus Semele geschwängert, sie aber während ihrer Schwangerschaft in Form eines Blitzes erschlagen habe. Daraufhin nimmt er das noch lebende Kind der toten Semele und näht es in seinen Schenkel ein, aus welchem es dann erneut hervorgeht. Dionysos erlebt folglich eine menschliche Geburt durch Semele und eine göttliche durch seinen Vater Zeus. Er verkörpert somit das Prinzip der Wiedergeburt als auch der Gottwerdung. Dieser Gang der Erzählung findet sich unter anderem bei Homer. In den Mysterien-Schriften, welche erst später aufgefunden wurden, wird allerdings Persephone, die Göttin der Unterwelt, als Mutter genannt. Dionysos ist einer der ältesten bekannten Götter und verfügt über zahlreiche Beinamen. Unter anderem ist er als Bakchus in seiner Funktion als Gott des Weines bekannt. Die Erfindung des Weines gilt den Griechen als großes Geschenk, da dieser eine lösende Wirkung zeitigt, die das Leben in seiner Komplexität erträglicher macht. Da dem Wein zudem nachgesagt wurde, die Inspiration der Künstler und Schriftsteller zu beflügeln, galt er als zivilisatorisches Kulturgut, welches dem Wohle der Gesellschaft dienlich war. Seiner Rolle als Weingott gemäß wird Dionysos häufig mit einem Efeukranz oder von Weinranken umgeben dargestellt. Weitere Attribute sind das Pantherfell und der Thyrsosstab. In Thomas Manns Zauberberg trägt vor allem Mynheer Peeperkorn stark dionysische Züge. Er geriert sich als Freund des Weines und des klaren Schnapses, ist darüber hinaus aber auch mit Opiaten aller Art vertraut. An einer Stelle betont der Holländer sogar, dass nur Völker, die Weinanbau betreiben, wahrlich zivilisierte Völker seien. Besonders bekannt ist darüber hinaus der Kult des Dionysos, bei dem sich eine Schar von Frauen und Verehrern um den Gott scharen, welche ihm mit Musik und Tanz huldigen. Diese in Felle gehüllten Frauen, die Mänaden, ehren ihren Gott vor allem mit dem Spiel von Blas- und Schlaginstrumenten. Der Aristotelischen Poetik zufolge ging aus den Kultliedern des Dionysos, den Dithyramben, die griechische Tragödie hervor. Zudem hat die rhythmische Musik auf die Teilnehmer des Kultes einen berauschenden Charakter. Den Mänaden wurde nachgesagt, dass sie rasend werden, Tiere schlachten und roh verschlingen, ja sogar, dass sie ihre eigenen Söhne töten. Holthaus betont, dass auch Dionysos selber in vielen Darstellungen weibliche Züge trage, was ihn zu einer hermaphroditischen Figur werden lässt.41 Sowohl im Werke Manns als auch in Joyces Ulysses wird diese Androgynität wieder aufgegriffen. Hans Castorp etwa hegt eine tiefe 41

Katrin Holthaus. Im Spiegel des Dionysos. Pier Paolo Pasolinis >Teorema< Verlag J.B. Metzler. Stuttgart. 2001. S.17.

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Leidenschaft für den weiblich anmutenden Pribislav Hippe, welcher Clawdia Chauchat so sehr ähnelt. Der Schulkamerad und die Berghof-Bewohnerin scheinen zu einer einzigen Figur zu verschmelzen, wenn Castorp seinen Träumereien nachgeht. In der „Circe“-Episode tritt Bloom selber als „new womanly man“ auf, der sowohl männliche als auch weibliche Züge trägt. Unter anderem bei Homer wird Dionysos auch als der „rasende Gott“ beschrieben, der in seinen Adepten nicht nur Rausch, sondern auch Wahnsinn inspiriert. 42 Der dionysische Kult bedeutet eine „ekstatische Erfahrung des Umschlags von einem Extrem ins andere und vor allem die Verfolgung dionysischer Frauen durch einen Mann.“43 Er gilt auch als der Gott der Grenzüberschreitung, zum einen wegen dieser Umkehrung der Extreme, aber auch da die ganze Polis während der dionysischen Feste, der Mysterien von Eleusis, zusammenkommt und die gesellschaftliche Hierarchie somit aufgehoben wird. Ähnlich fasst auch Nietzsche Dionysos auf, auch wenn seine Interpretation des Gottes teils auf anderen Annahmen gründet. So folgt Nietzsche der Version, dass Dionysos als Säugling von den Titanen zerstückelt worden sei und eine Metamorphose in die vier Elemente Luft, Wasser, Erde und Feuer erfahren habe. Der Zustand der Individuation sei daher der Ursprung allen Leidens und erst in der Synthese mit der Natur, und im übertragenen Sinne auch mit der Gesellschaft, finde der Mensch seine Bestimmung und Erfüllung. 44 Da die kultischen Feste für Dionysos lediglich alle drei Jahre stattfinden, wird er auch als der „kommende“ oder der „fremde“ Gott bezeichnet. Die Mänaden, welche auch Bakchai oder Lenai genannt werden, sind in steter Erwartung auf Dionysos und seine den Schmerz lösende, befreiende Wirkung. Den Mysterien zufolge kommt Dionysos deswegen nur alle drei Jahre, da er je zwei Jahre bei seiner Mutter Persephone in der Unterwelt weilt. Die enge Verbindung des Gottes zu seiner Mutter, zu seinen Ammen und zu seinen Anhängerinnen schlägt sich auch in einer späteren Effeminierung der Figur nieder, die immer häufiger mit weiblichen Zügen dargestellt wird.45 Die daraus resultierende Androgynität des Gottes verweist auf seine vermittelnde Funktion und seine Vieldeutigkeit. Für die vorliegende Dissertation von besonderer Bedeutung ist die Verbindung des Gottes mit der Initiation und der Jenseitshoffnung, da die dionysischen Mysterien die Hoffnung auf ein seliges Los im Jenseits ebenso wie auf Wiedergeburt und Gottwerdung nährten.46 Dionysos verkörpert somit Vgl. [Art.] 'Dionysos' In: Der Neue Pauly. Band 3. Herausgegeben von Hubert Cancik; Helmuth Schneider. Metzler Verlag. Stuttgart. 1997. S.655. 43 Ebd. S.659. 44 Friedrich Nietzsche. Werke in zehn Bänden. Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik. Mit einem Nachwort, einer Zeittafel zu Nietzsche, Anmerkungen und bibliographischen Hinweisen von Peter Pütz. Neuauflage. Vollständige Ausgabe nach dem Text der Ausgabe Leipzig 1895. Goldmann Verlag. München. 1999. S.73f. 45 Vgl. hierzu auch Erwin Rohde. Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Wissenschaftliche Buchgesellschaft. Darmstadt. 1961. S.298. 46 [Art.] 'Dionysos' In: Der Neue Pauly. Bd. 3. S.655. 42

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das Moment der Todesüberwindung, weshalb er auch mit Hades, dem Gott der Unterwelt, gleichgesetzt wurde.47 Diese auch Hermes innewohnende Ambivalenz des Gottes vermischt Schrecken mit Mildtätigkeit. Dionysos ist ein „Gott der Polyvalenzen und der Vermischung von göttlich und menschlich, Frau und Mann, Tier und Mensch.“ 48 In seiner Widersprüchlichkeit darf Dionysos als Ausdruck der Ganzheit der Schöpfung gelten, der eine Koinzidenz der Gegensätze evoziert. In dieser Funktion treten auch Hans Castorp und Leopold Bloom auf, da sie verschiedene Weltsichten, verschiedene Religionen und Kulturen in ihrem Geist miteinander verbinden. Auch sie können als polyvalente und versöhnende Mittler betrachtet werden, deren Anliegen nicht zuletzt der Fortschritt der Menschheit im Sinne einer zivilisatorischen Entwicklung ist.

2. Hölle und Hades im Werk Thomas Manns 2.1 Der Tod in Venedig „Es scheint, daß mir hier einmal etwas vollkommen geglückt ist (...). Es stimmt einmal Alles, es schießt zusammen, und der Kristall ist rein.“49 So beschreibt Thomas Mann in einem Brief die Erzählung Der Tod in Venedig, die ihn gänzlich von seiner Kunstfertigkeit zu überzeugen scheint. Die im Jahre 1912 entstandene Novelle sollte ursprünglich die Marienbader Liebe des bereits betagten Goethe zu Ulrike von Levetzow zum Thema haben, entwickelte aber, wie so viele Arbeiten Thomas Manns, einen ganz eigenen Charakter, der die ursprüngliche Konzeption nur noch zart spüren lässt. Mann selber formuliert den Inhalt wie folgt: „Das Leid und die tragische Verirrung eines Künstlers ist zu zeigen, der Phantasie und »Ernst im Spiel« genug hat, und an den ehrgeizigsten Ansprüchen, zu denen der Erfolg ihn verleitet und denen er zuletzt nicht gewachsen ist, zugrunde geht.“50 Die Reise Gustav Aschenbachs in das doppelgesichtige Venedig ist also als eine Reise der Entwürdigung und des Verfalls zu lesen, sogar als eine regelrechte Hadesfahrt in das Reich der Kunst.51 Vor allem die Gestalt des Hermes, welche in zahlreichen Figuren der Novelle Vgl. Jochen Schmidt (Hrsg.). Mythos Dionysos. Texte von Homer bis Thomas Mann. Reclam Verlag. Stuttgart. 2008. S.15. 48 [Art.] 'Dionysos' In: Der Neue Pauly Bd. 3. S.660. 49 Hans Wysling (Hrsg.). Dichter über ihre Dichtungen. Bd. 14. Thomas Mann. Teil I: 1889-1917. Heimeran Verlag. Passau. 1975. S.401. 50 Thomas Mann. Notizbücher in zwei Bänden. Herausgegeben von Hans Wysling und Yvonne Schmidlin. Fischer Verlag. Frankfurt a.M. 1992. S.120. 51 Vgl. Hans Wysling. 'Mythos und Psychologie bei Thomas Mann' Erweiterte Antrittsvorlesung. Gehalten am 17. Mai 1969. Polygraphischer Verlag. Zürich. 1969. S.12. 47

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anklingt, erinnert an den griechischen Hades, dessen Zuführer Hermes neben dem Fährmann Charon war. Die Inspiration für jene griechische Gestaltenwelt fand Thomas Mann in den wenigen Büchern mythologischen Charakters, die ihm schon von Kindheit an zur Verfügung standen. So entlehnte er Motive aus dem Mythologiebuch seiner Mutter, aus Homers Epen, Platons Phaidros, aber auch aus Erwin Rohdes Psyche sowie aus den Werken Bachofens. Wie Wysling ausführt, war Thomas Manns Interesse für Mythologie zu Anfang des Jahrhunderts nur sehr schwach ausgeprägt, und so wundert es, wie intensiv Der Tod in Venedig mit mythologischen Figuren aufwartet. Insbesondere wenn man bedenkt, dass dem noch jungen Autor mangels humanistischer Bildung nur sehr Weniges über antike Mythologie und das Hermes-Mythologem insbesondere bekannt war. Laut Manfred Dierks darf gar von einem Umgang mit den Mythen zu Anfang des Jahrhunderts noch keine Rede sein.52 Dennoch ist der Tod in Venedig als die erste Novelle Thomas Manns anzusehen, in der mythologische Anspielungen und antike Muster in den Vordergrund treten und somit den Beginn seiner Auseinandersetzung mit dem Mythos im allgemeinen und mit dem Motiv der Hadesfahrt insbesondere darstellt.

2.1.1. Todesboten Die Hadesmotivik im Tod in Venedig kündigt sich gleich auf der ersten Seite der Novelle an. Die gähnende Leere der Tramhaltestelle, vor allem aber die Steinmetzerei und Aussegnungshalle, welche „mit griechischen Kreuzen und hieratischen Schildereien in lichten Farben geschmückt“ ist (TiV, S.502),53 suggerieren die Omnipräsenz zahlreicher unterweltlicher Mythologeme. Auch die Inschriften aus Goldlettern, welche die Kreuze zieren, künden Sprichworte, welche das jenseitige Leben betreffen, und verweisen dergestalt schon auf Gustav Aschenbachs nahenden Tod. Die erste Figur, die eine ähnliche Funktion übernehmen soll, folgt auf dem Fuße. Der Wanderer auf dem Münchener Nordfriedhof erscheint im Portikus der Aussegnungshalle wie aus dem Nichts, doch seine außergewöhnliche Gestalt macht großen Eindruck auf den Protagonisten. „Mäßig hochgewachsen, mager, bartlos und auffallend stumpfnäsig, gehörte der Mann zum rothaarigen Typus und besaß dessen milchige und sommersprossige Haut.“ (TiV, S.502). Auch seine Augen sind rot bewimpert. Zwischen diesen zeigen sich zudem auffällige Furchen, welche eine Andeutung auf

Vgl. Manfred Dierks. Thomas Mann Studien Bd. 2. Studien zu Mythos und Psychologie bei Thomas Mann. Francke Verlag. Bern. 1972. S.36. 53 Die Werke Thomas Manns sind, sofern bereits erschienen, nach der Großen Kommentierten Frankfurter Ausgabe (GKFA) des Fischer Verlags aus den Jahren 2002ff. zitiert. 52

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Teufelshörner darstellen könnten.54 Der Adamsapfel des Fremden ist ungewöhnlich stark ausgeprägt und „seine Lippen schienen zu kurz, sie waren völlig von den Zähnen zurückgezogen, dergestalt, daß diese, bis zum Zahnfleisch bloßgelegt, weiß und lang dazwischen hervorbleckten.“ (TiV, S.503). Sein Basthut verleiht ihm ein eher fremdländisches Gepräge. Der Stock und die gekreuzten Füße wiederum erinnern an den Lessingschen Todesgenius, den Bruder des Schlafes, der wie dieser stets mit gekreuzten Beinen und einer nach unten gekehrten Fackel dargestellt wird. 55 Die Haltung dieses Wanderers ist entsprechend seinem Äußeren martialisch. Sie hat etwas „herrisch Überschauendes, Kühnes oder selbst Wildes“ (TiV, S.503), da er sein Gesicht zu einer unheimlich anmutenden Grimasse verzerrt und sein kriegerischer Blick verrät, dass er die Sache, wenn nötig, aufs Äußerste treibe. Der gelbe Anzug, den er trägt, verweist zudem auf den in der christlichen Ikonographie häufig ein gelbes Gewand tragenden Judas.56 Aufgrund zahlreicher Darstellungen wird die Farbe mit Neid, Gier, Verrat und somit auch Ächtung assoziiert. Im Falle des Wanderers deutet die gelbe Farbgebung folglich darauf hin, dass er Aschenbach fehlleiten und dem Tode zuführen wird. Die Hadesfahrt Aschenbachs soll sich aber noch vor dessen Hinscheiden zutragen. Mit der Reise in das verfallene Venedig und der Erkenntnis bei der Zisterne sowie mit dem Zusammentreffen zahlreicher Hadesgestalten schaut Gustav Aschenbach das Jenseits in Form der Abgründe seiner ihm innewohnenden Leidenschaften noch vor seinem Tode und vermag somit in Frieden mit sich selbst und der Welt zu sterben. Jener Fremde, der Aschenbachs erste Berührung mit der Unterwelt darstellt, ebenso wie die im folgenden zu behandelnden mythischen Gestalten der Novelle, wurden von der Thomas-MannForschung vielfach besprochen und gedeutet. In der Tat scheint die Figur Züge verschiedener mythischer Gestalten auf sich zu vereinen. So erinnert sie nicht nur an den Todesgenius, wie Lessing ihn beschreibt,57 sondern auch an Thanatos, den griechischen Gott des Todes, an Hermes, welcher die toten Seelen dem Fährmann Charon zuführt und somit als Totengeleiter fungiert, als auch an den Teufel höchstselbst, wie Petriconi eingehend ausführt und auch Walter Pabst andeutet.58 Schon hier also zeigt sich die Vielseitigkeit Thomas Manns im Umgang mit mythologischen Stoffen, welche er im Tod in Venedig, aber auch in späteren Werken, miteinander verwebt, um einen neuen Mythos zu erschaffen. Vgl. Walter Pabst. „Satan und die alten Götter in Venedig. Entwicklung einer literarischen Konstante“ In: Euphorion 59. 1955. S.347. 55 Vgl. Gotthold Ephraim Lessing. Wie die Alten den Tod gebildet. In: Ebd. Sämtliche Schriften 11. Herausgegeben von Karl Lachmann. Göschen'sche Verlagshandlung. Stuttgart. 1895. (1769). S.7ff. 56 Vgl. Kristiina Peltonen. „Easter Symbolism in the opening scene of Ulysses“ In: Clive Hart; Fritz Senn (Hrsg. u.a.). Images of Joyce Vol. II. 1998. S.579. 57 Vgl. hierzu Walter Jens. Statt einer Literaturgeschichte. Dichtung im 20. Jahrhundert. Artemis und Winkler Verlag. Düsseldorf. 2004. S.162. 58 Vgl. H. Petriconi. Das Reich des Untergangs. Bemerkungen über ein mythologisches Thema. Hoffmann und Campe. Hamburg. 1958. S.89ff. 54

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Der Wanderer verschwindet so plötzlich und unerklärlich, wie er erschienen ist, und Gustav Aschenbach vergisst ihn ebenso schnell wie Hans Castorp seinen „Schnee“-Traum. Ohne Einfluss auf ihn bleibt die sonderbare Gestalt jedoch nicht. In der Folge verspürt der Schriftsteller eine „Ausweitung seines Innern“ (TiV, S.504), eine schweifende Unruhe und ein Verlangen nach der Ferne, welches er zunächst als bloße Reiselust abtut. Die Sehnsucht aber lässt ihn nicht mehr los und eine von Begierde inspirierte Vision überkommt ihn: Er sah, sah eine Landschaft, ein tropisches Sumpfgebiet unter dickdunstigem Himmel, feucht, üppig und ungeheuer, eine Art Urweltwildnis aus Inseln, Morästen und Schlamm führenden Wasserarmen, - sah aus geilem Farrengewucher, aus Gründen von fettem, gequollenem und abenteuerlich blühendem Pflanzenwerk haarige Palmenschäfte nah und fern emporstreben, sah wunderlich ungestalte Bäume ihre Wurzeln durch die Luft in den Boden, in stockende, grünschattig spiegelnde Fluten versenken, wo zwischen schwimmenden Blumen, die milchweiß und groß wie Schüsseln waren, Vögel von fremder Art, hochschultrig, mit unförmigen Schnäbeln, im Seichten standen und unbeweglich zur Seite blickten, sah zwischen den knotigen Rohrstämmen des Bambusdickichts die Lichter eines kauernden Tigers funkeln – und fühlte sein Herz pochen vor Entsetzen und rätselhaftem Verlangen. (TiV, S.504).

Diese Vision nimmt nicht, wie der Münchener Nordfriedhof, den Tod Aschenbachs, sondern sein baldiges, sexuelles Verlangen nach dem Jüngling Tadzio, sowie seine Besessenheit von dem Gott Dionysos und die Erkrankung an der indischen Cholera vorweg, da sowohl der Gott als auch die todbringende Krankheit aus Indien stammen sollen.59 Die sexuelle, fast schon obszöne Kopulationsmetaphorik der asiatischen Pflanzenwelt schließt schon lange vor den Phaidros-Zitaten und der Erkenntnis bei der Zisterne die Möglichkeit jedweder platonischen (Knaben-)Liebe aus und verdeutlicht Aschenbachs Verlangen nach Körperlichkeit und Vereinigung. Dieser Wunsch Aschenbachs wird bei der Ankunft in Venedig mit dem Schiff besonders deutlich, während derer der Schriftsteller auf „ein letztes Abenteuer des Gefühls“ hofft und somit seinen Willen zu einer neuerlichen Liebe zu erkennen gibt. Wie Werner Frizen durchaus überzeugend feststellt, ist die Vision der Urwaldwelt also eine Art Wunschtraum, der die Begierde Aschenbachs in Form des Tigers enthüllt und der durch eine Schopenhauersche Somnambulie hervorgerufen wird. Ähnlich wie Hans Castorps „Schnee“-Traum handelt es sich hierbei um einen Initialtraum, der in die Tiefe der Persönlichkeit und der Zeit führt und somit mythische Dimensionen annimmt, da die Kategorien Zeit und Raum im Mythos zurückreichen bis zu den mythischen Urbildern und durch die Wiederholung der immer gleichen mythischen Ereignisse ein ewiges nunc stans entsteht.60 Zudem gleicht der Stil dieses Exzerpts auch dem einer biblischen Offenbarungsgeschichte,61 der Vgl. Benno von Wiese. Die deutsche Novelle von Goethe bis Kafka. Bagel Verlag. Düsseldorf. 1959. S.312. Vgl. hierzu auch Karl Kerényi (Hrsg.). Thomas Mann – Karl Kerényi. Gespräch in Briefen. Rhein-Verlag. Zürich. 1960. S.75f. 61 Vgl. Werner Frizen. Thomas Mann. Der Tod in Venedig. Oldenbourg Verlag. München. 1993. S.31. 59 60

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Inhalt allerdings konterkariert diesen Eindruck durch seine offenkundige Anzüglichkeit. Somit entzaubert Thomas Mann den Stil der Bibel und stellt die Apokalypse des Johannes gezielt in Frage. Durch den sexuell konnotierten Inhalt der Szene könnte man gar von einer Parodie des biblischen Textes sprechen. Der Autor fordert folglich den Leser auf, kanonische Texte und anerkannte Dogmen zu hinterfragen und kritisch zu reflektieren. Umgekehrt kann man auch von einer Mythisierung des sexuellen Verlangens Aschenbachs sprechen, da der biblische Duktus diesem letzten Liebesabenteuer ein rituelles und transzendentes Moment verleiht. Körper und Libido werden als Teil der göttlichen Schöpfung gedacht und stellen etwas Geheiligtes dar. Diese Auffassung findet ihren Ausdruck auch in der Gestalt Mynheer Peeperkorns im Zauberberg. Wie Willy R. Berger gezeigt hat, kann der Tiger, der Aschenbach aus dem Urwalddickicht anblitzt, zudem als Manifestation des Gottes Dionysos gelten, dessen Elternschaft unter anderen den Unterweltgottheiten Hades, Persephone und Lethe zugeschrieben werden. Der elysische Fluss Lethe scheint des weiteren in der Vision präsent zu sein, da Aschenbachs erwachender Fluchtdrang auch dem Vergessen, der Befreiung und der Entbürdung seiner gesellschaftlichen und schriftstellerischen Pflichten dient. „So tat denn eine Einschaltung not, etwas Stegreifdasein, Tagedieberei, Fernluft und Zufuhr neuen Blutes, (...) Reisen also.“ (TiV, S.507). Eine weitere Hadesgestalt begegnet Aschenbach auf dem Dampfer nach Venedig. Der Fahrscheinaussteller, ein ziegenbärtiger Mann, der einem Zirkusdirektor ähnelt, scheint mit dem Ausstellen der Fahrkarte nach Venedig und seinem seltsamen Gebaren einen Faustschen Pakt besiegeln zu wollen, bei welchem Aschenbach die Schifffahrtskarte für seine Hadesfahrt löst: 62 Er schrieb große Krähenfüße, streute aus einer Büchse blauen Sand auf die Schrift, ließ ihn in eine tönerne Schale ablaufen, faltete das Papier mit gelben und knochigen Fingern und schrieb aufs neue. (...) Die glatte Raschheit seiner Bewegungen und das leere Gerede, womit er sie begleitete, hatten etwas Betäubendes und Ablenkendes, etwa als besorgte er, der Reisende möchte in seinem Entschluß, nach Venedig zu fahren, noch wankend werden. Er kassierte eilig und ließ mit Croupiergewandtheit den Differenzbetrag auf den fleckigen Tuchbezug des Tisches fallen. (TiV, S.517f.).

Ähnlich Goethes Faust Aschenbach „is here being lured, hypnotised into a contract, the terms of which are final and fatal.“63 Die Figur des Billeteurs erinnert darüber hinaus an Mephistopheles, was ihren Abgang betrifft. Mit einer schauspielerischen Verbeugung entschwindet der Diener Vgl. Manfred Dierks. Studien zu Mythos und Psychologie bei Thomas Mann. S.48. André von Gronicka. „Myth plus Psychology. A style analysis of Death in Venice“ In: Germanic Review 31. 1956. S.197. 62 63

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Aschenbachs, sodass jener seinen Entschluss nicht rückgängig machen könnte, selbst wenn er dies wollte. Die Schauspielkunst und das Maskenspiel ist bereits Goethes Teufelsgestalt zu eigen, tritt dieser doch gleich zu Beginn des Stückes als Hund, fahrender Scholast und als edler Junker auf. Auch der Fahrkartenaussteller trägt einen Hut, der ihm bis tief in die Stirne reicht. Somit wird die Brücke zu dem Wanderer geschlagen und nahe gelegt, dass beide Gestalten Verwandte des Hermes Psychopompos sind, unter dessen Attribute neben einem Stock auch ein breitkrempiger Hut zählt. Auch der auf dem Fuße folgende „falsche Jüngling“, der sich unter das junge Volk des Schiffes gemischt hat, trägt einen Strohhut und reiht sich somit in die Reihe fremdartiger Gestalten ein. Seine künstliche Verjüngung, das Karmesin seiner Wangen sowie die übertrieben lächerliche Gebärdung des Alten, deuten auf Aschenbachs eigene Verjüngung beim Coiffeur des Hotels voraus. Das anstößige Lecken der Mundwinkel offenbart vor allem die sexuelle Verfallenheit Aschenbachs zu Tadzio und seine päderastischen Neigungen.64 Während der Einfahrt nach Venedig schließlich kommt es zur Entwürdigung des falschen Jünglings, da dieser betrunken vor- und zurück schwankt, sich im Rausche weiterhin die Mundwinkel leckt und sein falsches Obergebiss bei der Verabschiedung Aschenbachs auf die Unterlippe fällt. Trotz Schauder und Beklommenheit ahnt Aschenbach nicht, dass jene Entwürdigung auch ihm noch bevorsteht, wenn er sich für Tadzio oberflächlich verjüngen lässt und versucht, ihn am Strand anzusprechen. Somit fungiert der Geck als eine Art zeitverschobenes Alter Ego des Protagonisten. Wie schon bei den ersten beiden Hadesgestalten bleibt die Begegnung für Aschenbach nicht ohne Folgen und bewirkt eine „träumerische Entfremdung, eine Entstellung der Welt ins Sonderbare“ (TiV, S.519). Der sonst so arbeitsame und realitätsnahe Schriftsteller droht immer mehr in die dionysische Sphäre des Rausches und der Empfindung abzugleiten. Hierzu trägt auch die von ihm bestiegene Gondel bei, welche Aschenbach „an den Tod selbst“ erinnert, an „Bahre und düsteres Begräbnis und letzte, schweigsame Fahrt“ (TiV, S.523). Schon Goethe bezeichnete die Boote als „die schwarzen Gondelkäfige“,65 und so verdichtet sich die Todesmotivik auch im Tod in Venedig mit dem Erscheinen des venezianischen Bootes. 66 Der Stuhl der Gondel scheint dem Protagonisten ungemein bequem, „der erschlaffendste Sitz von der Welt“ zu sein, ihn überkommt eine „süße Lässigkeit“ und es wird „still und stiller um ihn“ (TiV, S.523f.) während der konzessionslose Gondoliere sich vom Anlegesteg abstößt und gegen das offene Meer Vgl. Werner Frizen. Thomas Mann. Der Tod in Venedig. S.46. Johann Wolfgang von Goethe. Italienische Reise. In: Ebd. Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. Vierzig Bände. Herausgegeben von Friedmar Apel, Hendrik Birus, Anne Bohnenkamp, Dieter Borchmeyer (u.a.) Deutscher Klassiker Verlag. Frankfurt a.M. 1993. S.69. 66 Vgl. Werner Vordtriede. „Richard Wagners Tod in Venedig“ In: Euphorion 52. 1958. S.384. 64 65

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hin lenkt. Wie der Wanderer, ist der Gondoliere vom rothaarigen Typus, hat rote Brauen, weiße Zähne und eine kurz aufgeworfene Nase. Um seinen schmächtigen Körper windet sich eine gelbe Schärpe, eine weitere Anspielung auf Judas. Von Aschenbachs Blickwinkel aus setzt der stehende, über ihm ragende Gondoliere sich zudem scharf gegen den Himmel ab und offenbart sich somit als Vertreter der Unterwelt. Aschenbach jedoch ergibt sich der Trägheit, welche Meer und Gondel auf ihn ausüben, und fügt sich nach anfänglichen Protesten in die Route des Gondolieres: „Selbst, wenn du es auf meine Barschaft abgesehen hast und mich hinterrücks mit einem Ruderschlage ins Haus des Aides schickst, wirst du mich gut gefahren haben.“ (TiV, S.526). Dies ist wohl die expliziteste Anspielung auf den griechischen Hades, da Aides eine altertümliche Schreibweise desselben darstellt. Thomas Mann knüpft hier also ganz ausdrücklich an den Topos der Hadesfahrt an. Während der Fahrt zum Lido gesellt sich eine weitere Gondel zu der Aschenbachs, welche mit Musikern besetzt der Unterhaltung dient. Hier zeigt sich Dionysos erstmalig als musischer Gott des Gesanges, der sein Erscheinen häufig von musikalischer Untermalung begleiten lässt und somit zum Rausch seiner Anhänger beiträgt. Ebenso wie der Wanderer verschwindet auch der Gondoliere nach getaner Arbeit, als sei er vom Erdboden verschluckt, da er eine Festnahme durch die Polizei fürchtet. Aschenbach muss folglich keinen Obolus an seinen Fährmann entrichten, sondern „ist umsonst gefahren“ (TiV, S.527). Die wohl augenfälligste Hadesgestalt im Tod in Venedig ist der Straßensänger, der als Gitarrist und Bariton-Buffo fungiert, obgleich er fast ohne Stimme ist. Mimisch und komisch begabt, spielt er gekonnt über jene Stimmlosigkeit hinweg. Auch er ähnelt den fremdartigen Gestalten, welche Aschenbach auf seiner Reise in die Unterwelt begleiten: Schmächtig gebaut und auch von Antlitz mager und ausgemergelt, stand er, abgetrennt von den Seinen, den schäbigen Filz im Nacken, so daß ein Wulst seines roten Haars unter der Krempe hervorquoll, in einer Haltung von frecher Bravour (...). Er schien nicht venezianischen Schlages, vielmehr von der Rasse der neapolitanischen Komiker, halb Zuhälter, halb Komödiant, brutal und verwegen, gefährlich und unterhaltend. (TiV, S.572f.).

Wie auch der falsche Jüngling auf dem Schiff nach Venedig leckt er sich auf anstößig zweideutige Weise die Mundwinkel, hat aber, nun wieder an den Gondoliere anmutend, auffällig starke Zähne, welche während seines eigentümlichen Solovortrages immer wieder hervorblecken. Zudem bringt der Gitarrist seinen ganz eigenen, von Karbolgeruch begleiteten Dunstkreis mit sich, wenn er seinen grotesken Rundmarsch aufführt und eine Art Lachrefrain vorträgt, der an ein grausig überspanntes Hohnlachen erinnert: Sein Kunstlachen, unverschämt zur Terrasse emporgewandt, war Hohngelächter. Schon gegen das Ende des artikulierten Teiles der Strophe schien er mit einem unwiderstehlichen Kitzel zu kämpfen (...) und im

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gegebenen Augenblick brach, heulte und platzte das unbändige Lachen aus ihm hervor, mit solcher Wahrheit, daß es ansteckend wirkte und sich den Zuhörern mitteilte, daß auch auf der Terrasse eine gegenstandslose und nur von sich selbst lebende Heiterkeit um sich griff. (...) Er lachte nicht mehr, er schrie; er wies mit dem Finger hinauf, als gäbe es nichts Komischeres als die lachende Gesellschaft dort oben, und endlich lachte denn alles im Garten und auf der Veranda. (TiV, S.575f.).

Jenes „mythische Hohngelächter der Hölle“, wie Benno von Wiese es treffend beschreibt, versinnbildlicht ein Hinabgleiten ins Zuchtlose, Widrige, grausam Komische.67 Ein Hinabgleiten, welches vor allem mit der um sich greifenden asiatischen Cholera an Ausdruckskraft gewinnt und zu einem Ausnahmezustand der Entsittlichung der unteren Schichten, wachsender Kriminalität, räuberischen Anfällen und gar Morden führt (TiV, S.580). Der Sänger und Gitarrist scheint sich dessen bewusst zu sein, ist sein Lachen doch eines der Wahrheit und des Hohnes. Gerade dieses Wissen um den Verfall Venedigs scheint sein Gelächter zu inspirieren, wenn er die sich zu infizieren drohende Gesellschaft regelrecht auslacht ob ihrer Ahnungslosigkeit und Ausgelassenheit. Der Karbolgeruch, den er mit sich führt, lässt vielleicht sogar auf eine Infizierung des Sängers schließen, welche erst nachträglich behandelt worden ist. Somit wirkt unter Umständen nicht nur sein Gelächter, sondern auch die tödliche Krankheit, die er in sich trägt, ansteckend. Doch nicht nur die merkwürdige Gestaltenreihe, sondern auch der Protagonist selber trägt zu seinem eigenen Schicksal bei, da Aschenbach während der Vorführung einen Granatapfelsaft zu sich nimmt, welcher seine Geschlechtslust zum Ausdruck bringt.68 Ein weiteres Mal knüpft Thomas Mann hier sehr explizit an den literarischen Topos der Hadesfahrt an, wenn er seinen Protagonisten Persephone annähert, die ihr Schicksal dadurch besiegelte, dass sie von den Granatäpfeln des Hades kostete und sich damit den dunklen Gefilden ihres Entführers verschrieb. Zudem erinnert der Verzehr jener verbotenen Frucht an ein biblisches Motiv, den Sündenfall Evas im Paradies. Nach der musikalischen Einlage des Bänkelsängers und seiner Begleitung bleibt Aschenbach allein auf der Terrasse sitzen. Während er vor seinem inneren Auge eine Sanduhr aus dem Hause seiner Eltern sieht, deren gläserne Verengung einen reißenden Strudel, Symbol des ihn unaufhaltsam überkommenden Rausches, zu symbolisieren scheint, ist ihm, als ob die Ewigkeit sich auf ihn senke: „Die Nacht schritt vor, die Zeit zerfiel.“ (TiV, S.577). Der Schriftsteller gerät hier in einen „zeitlosen Zustand der Gleichzeitigkeit“ und verliert sich in einen mythischen Augenblick, da die progressive, geschichtliche Zeit jedwede Bedeutung für ihn verloren hat.69 Die ewige Wiederkehr des Gleichen, der eintönige Tagesablauf des Protagonisten und die daraus resultierende Auflösung der Zeitkategorie verdeutlichen den mythischen Unterbau der Novelle. Benno von Wiese. Die deutsche Novelle von Goethe bis Kafka. S.321. Vgl. Werner Frizen. Thomas Mann. Der Tod in Venedig. Interpretation. S.83. 69 Vgl. Hans-Bernhard Moeller. „Thomas Manns venezianische Götterkunde“ In: DVJS 40. S.194. 67 68

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Dem Zeit-Mythologem unterliegen dabei zwei verschiedene Substrate. So entstammt die Sanduhr, oder das Stundenglas, wie es später auch im Doktor Faustus wiederzufinden ist, vornehmlich der Vergänglichkeitsmotivik des Mittelalters,70 ebenso wie der an Dante erinnernde, reißende Strudel. Die ewige Wiederkehr des Gleichen hingegen, die vor allem zu Beginn des vierten Kapitels ihren Ausdruck findet, zeugt von einem klassischen Einfluss und auf den kultischen Ritus, der in Manns Verständnis die Ausdrucksform des Mythos ist. Eine Figur, welche in der Literatur bisher nur selten unter die Hadesgestalten gezählt wurde, ist der hoteleigene Coiffeur.71 Die künstliche und von mäßigem Erfolg gekrönte Verjüngung Aschenbachs ist insofern als teuflisches Werk anzusehen, als sie ihn weiter seinem Untergang zuführt. Erst durch das neu aufkeimende Selbstvertrauen, welches mit der peinlichen Veränderung einhergeht, fasst Aschenbach den Vorsatz, Tadzio anzusprechen. Nach den Begegnungen mit den vorigen Hadesfiguren, welche sich körperlich immer näher an Aschenbach heranwagten, legt der Coiffeur als erster Hand an ihn, indem er ihm die Haare färbt, Rouge und Lippenstift auflegt und ihn somit in Aschenbachs Augen die Gestalt eines blühenden Jünglings annehmen lässt (TiV, S.585f.), auch wenn die Verwandlung zum „greisen Gecken“ in Wahrheit peinlich anmutet. Wie die fremdartigen Gestalten, die Aschenbach auf seiner Hadesfahrt begleiten, so trägt er selber nun auch einen Strohhut und eine rote Krawatte. Die Farbe Rot taucht im Tod in Venedig immer wieder auf und erinnert an Glut, Feuer und Höllenverdammnis des Protagonisten. So trägt etwa auch Tadzio eine rote Schleife, die Aschenbach ihn schon von weitem sehen lässt, sodass er den Angebeteten nie aus den Augen zu verlieren droht. Aber auch das vierte Kapitel mit seinen homerisch-klassischen Anklängen evoziert häufig die Farbe Rot: „Nun lenkte Tag für Tag der Gott mit den hitzigen Wangen nackend sein gluthauchendes Viergespann durch die Räume des Himmels, und sein gelbes Gelock flatterte im zugleich ausstürmenden Ostwind.“ Mit der Aufnahme des roten Farbtons stellt sich die Frage, ob nun auch Aschenbach selber den Charongestalten zugesellt wird, ob er sich nicht sogar selber willentlich in den Tod führen lässt, was auf eine Schicksalsbejahung des Protagonisten hinwiese. All die fremdartigen Todesboten verdichten die Hadesmotivik in der Erzählung und wurden auf vielfache Weise von der Thomas-Mann-Forschung gedeutet. Sie glichen „Teufelsgestalten“72 mit mittelalterlichen Zügen73 oder „Satansfiguren“,74 welche der Figur Tadzios entgegenstünden. Laut Vgl. Walter Pabst. „Satan und die alten Götter in Venedig. Entwicklung einer literarischen Konstante“ S.348. So bei Werner Frizen. Thomas Mann. Der Tod in Venedig. S.89. 72 Vgl. H. Petriconi. Das Reich des Untergangs. S.89ff. 73 Vgl. Herbert Lehnert. Thomas Mann. Fiktion, Mythos, Religion. Kohlhammer Verlag. Stuttgart. 1965. S.109. 74 Walter Pabst. „Satan und die alten Götter in Venedig. Entwicklung einer literarischen Konstante“ S.347. 70 71

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Benno von Wiese sind sie „Boten des Todesreiches“,75, welche sowohl mythisch als auch real aufzufassen sind, also auch als rein künstlerische Zeichen, die somit der Entmythisierung dienen. Aufgrund ihrer unzweideutigen Attribute, wie dem Hut oder Wanderstab, wurden sie zumeist jedoch als Personifikationen des Hermes verstanden. Dies bestätigt sich auch in der Tatsache, dass sie häufig an Schwellen oder Pforten auftreten und so die Funktion eines Geleiters, eines Boten übernehmen.76 Hermes kommt somit eine ähnliche Funktion zu wie dem unterweltlichen Fährmann Charon, der in der Figur des Gondolieres angedeutet zu sein scheint. Neben den Zügen des Teufels, Hermes und Charons, tragen die Geleiter des angesehenen Schriftstellers zudem Züge des Gottes Dionysos, den Gott des Rausches, der Aschenbach immer tiefer in seine Sphäre hinunterzieht. So lässt sich festhalten, dass Thomas Mann sich nicht nur eines einzigen Mythologems bedient hat, als er jene infernalischen Gestalten konzipierte, sondern vielmehr beschloss, deren mehrere zu verknüpfen und miteinander zu verweben. Die Figurenreihe trägt zahlreiche Charakteristika verschiedenster Mythologeme, die im Grunde alle eng miteinander verwandt sind. Wie Kerényi feststellt, gleichen sich etwa Hermes und Eros in ihren kindlichen Zügen.77 In einem weiter gefassten Rahmen fallen zudem Ähnlichkeiten des Hermes mit der ägyptischen Mythologie auf, wie etwa die zwischen Hermes Trismegistos und dem Schreibergott Thot, welcher auch dem ägyptischen Totengericht beiwohnt. Mit diesem Synkretismus illustriert Thomas Mann die Austauschbarkeit, aber auch die Gleichwertigkeit der verschiedenen Mythologeme. Er stellt sie durch ihre Beliebigkeit in Frage und entmythisiert daher die traditionellen Mythologemmuster, welche bis dato verwandt worden sind. Sein unkonventioneller und spielerischer Umgang mit der antiken und mittelalterlichen Mythologie wird offenkundig und lässt die Annahme zu, dass Mann Wahrheiten in den mythischen Quellen vermutet und diese mit seinen Lesern teilen möchte. Durch die Verschmelzung der Mythen und deren Montage mit biographischen und autobiographischen Elementen siedelt er den Begriff des Mythos zudem im Alltag der Menschen an und schafft somit eine Brücke zu Roland Barthes' Text Mythen des Alltags sowie zu Joyces Umgang mit dem Mythos, da dieser die Odyssee ebenfalls zu einem „alltäglichen“ Stoff umschreibt. Er transponiert den klassischen antiken Mythos früherer Zeiten in das Unbewusste des modernen Menschen (des 20. Jahrhunderts) und überträgt ihn somit in die Kultur der Moderne.

Benno von Wiese. Die deutsche Novelle von Goethe bis Kafka. S.316. Vgl. Hans Bernhard Moeller. „Thomas Manns venezianische Götterkunde“ In: DVJS 40. 1966. S.188. 77 Vgl. Karl Kerényi. Hermes. Der Seelenführer. S.68ff. 75 76

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2.1.2. Stadt des Todes - Venedig Von Interesse ist auch Thomas Manns Beschreibung der Stadt Venedig, welche als zweideutiger, todbringender Ort fungiert. Die „gesunkene Königin“, deren Status als Handelsstadt zwischen Okzident und Orient im Laufe der Jahrhunderte verfiel, eignet sich ideal als Schauplatz der Dekadenz und der „gebrochenen Existenz zwischen Schönheit und Verfall“, welche nicht nur auf die Stadt, sondern auch auf den Protagonisten anzuwenden ist.78 Sie ist sowohl Ort der Lebenssüße und des womöglich letzten Liebesabenteuers als auch Stadt des Todes und somit in doppelter Hinsicht zweideutig.79 Schon Goethe verstand Venedig als Dirne par excellence, als Ort des Schmutzes und der Unzucht,80 ein Bild, das sicherlich auch durch die im 16. und 17. Jahrhundert üblichen Schmähungen vor allem der angelsächsischen Welt gefestigt wurde.81 Wie Petriconi ausführt, steht zudem Italien, und Venedig insbesondere, in dem Rufe, Heimat der verteufelten heidnischen Götter und somit Schauplatz von zahlreichen Teufelserscheinungen zu sein. Venedig gilt ihm gar als regelrechte „Teufelsstadt“, deren infernalische Züge an die antiken Unterwelten, den griechischen Hades und den römischen Orkus, erinnern. Das desinfizierte, nach Karbol riechende Venedig im Tod in Venedig beschreibt er als einen „Vorort der Hölle“ und des Totenreiches. 82 In der Erzählung fungiert die Stadt als „halb Märchen, halb Fremdenfalle“ und verkörpert somit die „Doppelheit von Realismus und Mythologie“, welche der Autor hier geschickt zu verknüpfen weiß. Sie ist eine Schnittstelle zwischen West und Ost und eine Verschmelzung derselbigen aufgrund der Infektion des Westens mit der orientalischen Cholera. Es ist dieser sowohl tatsächliche als auch moralische Fall, der das Venedig Manns zu einer Nekropole, zu einer Hadesstadt macht. 83 Hoffmann beschreibt Venedig als eine „Stadt im permanenten Schwebezustand, ein Grenzort zwischen Himmel und Erde, eine Horizontlinie zwischen Wasser und Land“84 und führt aus, dass das Bild dieser Stadt sich durchaus mit der Philosophie Schopenhauers verbinden lässt, da die Spiegelbilder der venezianischen Kanäle Gebäude der Individuation zeigen, welche aus dem Ureinen, dem Wasser, reflektiert werden. Somit verdeutlicht die Wasserstadt den Schnittpunkt zwischen Nietzsches Lebensbejahung inmitten des rauschhaften Unterganges und Schopenhauers Negierung des Willens zum Leben „auf dem Weg zur Erkenntnis der Scheinhaftigkeit aller Martina Hoffmann. Thomas Mann. Der Tod in Venedig. Eine Entwicklungsgeschichte im Spiegel philosophischer Konzeptionen. Lang Verlag. Frankfurt am Main. 1995. S.28. 79 Vgl. Ruprecht Wimmer. „Liebe und Tod in Venedig und anderswo“ In: Thomas Mann Studien 33. 2005. S.12. 80 Vgl. Werner Frizen. Thomas Mann. Der Tod in Venedig. S.48. 81 Vgl. Walter Pabst. „Satan und die alten Götter in Venedig. Entwicklung einer literarischen Konstante“ S.338. 82 Helmut Petriconi. Das Reich des Untergangs. S.90. 83 Vgl. Werner Frizen. Thomas Mann. Der Tod in Venedig. S.47. 84 Vgl. Martina Hoffmann. Thomas Mann. Der Tod in Venedig. S.29. 78

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Individuation.“85 Sich dessen jedoch nur zeitweilig bewusst, erscheint die Stadt für Aschenbach verzaubert, denn sie „entspannte sein Wollen, machte ihn glücklich“. Er fühlt sich gar „entrückt ins elysische Land, an die Grenzen der Erde, wo leichtestes Leben den Menschen beschert ist, wo nicht Schnee ist und Winter, noch Sturm und strömender Regen, sondern immer sanft kühlenden Anhauch Okeanos aufsteigen läßt und in seliger Muße die Tage verrinnen, mühelos, kampflos und ganz nur der Sonne und ihren Festen geweiht.“ (TiV, 550). Den Begriff „elysisch“ verwendet der Autor hier ganz bewusst, da die antike Unterwelt sich in zwei Bereiche teilte, den Hades bzw. Tartaros, Ort der trostlosen Schatten und verdammten Seelen, und das Elysium, selige Gefilde, in welchen die übrigen Toten weilen. Hier versprechen grüne Felder sowie die Lethe - Fluss des ewigen Vergessens - Befreiung von den alltäglichen Zwängen des Lebens und stetige Glückseligkeit. Zudem zeigt sich in diesem Zitat die starke Präsenz der antiken Unterwelten sowie des Mythos allgemein, manifestiert sich dieser für Mann doch in der feierlichen Wiederholung von Festen sowie in der Zelebrierung eines bedeutungsvollen Augenblicks durch die Kunst. Der Mythos manifestiert sich demnach in Ritus, Kult und Fest.86 Die Verzückung Aschenbachs findet sich insbesondere während der Aufenthalte am Strand, wo „Sonnenglast“ und „Meeresrausch“ ihn derart betäuben, dass er zum Enthusiasmierten, d.h. wörtlich „vom Gott Bewohnten“ wird.87 Die antiken Todesboten werden seiner immer habhafter, was der alternde Schriftsteller jedoch willenlos geschehen lässt. Gegen Ende der Novelle verdichten sich vor allem die Bezüge zu Vergils Aeneis, etwa wenn die Stadt von „Fäulnisdünste(n) und Windgeister(n)“ heimgesucht wird. Als Aeneas sich nämlich in den Wäldern dem Goldenen Zweig ebenso wie dem Avernus naht, öffnen sich Klüfte, aus denen scharfer Dunst hervordringt.88 Der Begriff Windgeister insbesondere erinnert an die Windgottheit Zephir, den Lieblingswind der Venus, der vor allem im Mythos von Amor und Psyche eine tragende Rolle spielt. Darüber hinaus könnten jene Windgeister aber auch höchst negativ konnotiert sein, wenn man etwa an die ebenfalls in der Unterwelt wohnenden Harpyien denkt, die auf Geheiß des Zeus tote Seelen in den Tartaros entführen. Eine besondere Verbindung zu Aschenbachs Tod besteht darin, dass diese Bestien auch Speisen verderben, um Menschen zu vergiften.89 So legen die infizierten Erdbeeren nahe, die als äußerliche Ursache für Aschenbachs Tod gelten können, daß mythische Winddämonen zur Ebd. S.30. Vgl. Hans Wysling. Mythos und Psychologie bei Thomas Mann. S.11. 87 Terence James Reed (Hrsg.). Der Tod in Venedig. Text. Materialien. Kommentar. Mit den bisher unveröffentlichten Arbeitsnotizen Thomas Manns. Hanser Verlag. München. 1993. S.96. 88 Vgl. Vergil. Aeneis. S.226. 89 Vgl. Erwin Rohde. Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. S.72/73. 85 86

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Verderbnis dieser Früchte beigetragen haben. Thomas Mann mythisiert den Niedergang Aschenbachs, indem er unzählige Motive des antiken, katabatischen Topos in die Erzählung einflicht, entmythisiert aber andererseits dessen vermeintlich wilhelminische Lebensweise und seine Parole, welche „Durchhalten“ lautet. Die Figur des heiligen Sebastians, mit welcher Aschenbach explizit in Verbindung gebracht wird, wird entzaubert, da der Protagonist nicht wie dieser durchzuhalten vermag, sondern sich letztlich seiner wahren, mythischen, insbesondere aber romantischen Existenz bewusst wird. Den Reiz Venedigs macht für Gustav Aschenbach aber nicht einzig der Stadtkern mit seinen engen Kanälen aus, sondern ebenso der Lido, die feucht-drückende Lagune, an deren Strand er sich täglich aufhält. Vor dem Hintergrund dieser Strandszenen kommt Tadzio stets von links in das Blickfeld des Schriftstellers, laut Frizen schon in der Antike die unheilvolle Todesseite, da der Tartaros in Vergils Aeneis links verortet ist.90 Sich daran jedoch nicht störend, empfindet Aschenbach große Zufriedenheit und gar Lebensfreude beim wiederholten Anblick des polnischen Knabens. Seine Reden scheinen ihm wie Musik zu klingen, ein weiterer Verweis auf die Musikalität des Dionysos und den Rausch, der sich unaufhaltsam des Schriftstellers bemächtigt: „Das war der Rausch; und unbedenklich, ja gierig hieß der alternde Künstler ihn willkommen.“ (TiV, S.553). Denn der Rausch dient hier nicht nur dem Aufgehen in der eigenen Person, sondern ähnlich wie später im Doktor Faustus auch der Inspiration des Künstlers. Berauscht durch die Schönheit Tadzios verfasst Aschenbach „jene anderthalb Seiten erlesener Prosa“, seine letzte schriftstellerische Arbeit. Vor jener Kulisse baut Thomas Mann einen weiteren textuellen Verweis in die Novelle ein, da die Rechtfertigungen, die Aschenbach sich selbst für seine Liebe zu dem Jüngling vorbringt, deutlich an Sokrates' Phaidros anklingen. Der Schriftsteller trägt sich mit dem Gedanken, dass die Schönheit (Tadzios) als einzig wahre Form des Geistigen gelten kann. Der Anblick des Schönen, des Guten und somit auch des Wahren dient ihm als Anregung zum Streben nach Erkenntnis.91 Erst später soll er tatsächlich erkennen, dass seine Liebe weder mit Geist noch mit Erkenntnis verbunden ist, sondern lediglich mit sexuellem Verlangen. Kurz vor seinem tragischen Tod, nach dem Verzehr der tiefroten Erdbeeren, lässt der Schriftsteller sich an einem Brunnen nieder, um sich auszuruhen, und muss dort in vollkommener Erschöpfung erkennen, dass der Weg zum Geistigen durch die Sinne ein höchst gefährlicher Weg ist, „denn die Erkenntnis, Phaidros, hat keine Würde und Strenge; sie ist wissend, verstehend, verzeihend, ohne Haltung und Form; sie hat Sympathie mit dem Abgrund, sie ist der Abgrund.“ (TiV, S.589). Mit dieser Einsicht verwirft Aschenbach die Möglichkeit einer 90 91

Vgl. Werner Frizen. Thomas Mann. Der Tod in Venedig. S.55. Vgl. Martina Hoffmann. Thomas Mann. Der Tod in Venedig. S.51.

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platonischen Liebe. Zudem sagt er dem Neoklassizismus, dessen Vertreter er Zeit seines Lebens gewesen ist, nun entschieden ab: Die Meisterhaltung unseres Stils ist Lüge und Narrentum, unser Ruhm und Ehrenstand eine Posse, das Vertrauen der Menge zu uns höchst lächerlich, Volks- und Jugenderziehung durch die Kunst ein gewagtes, zu verbietendes Unternehmen. Denn wie sollte wohl der zum Erzieher taugen, dem eine unverbesserliche und natürliche Richtung zum Abgrunde eingeboren ist? (TiV, S.589).

Die Erkenntnis Aschenbachs ist zweifach. Zum einen erkennt er die Unmöglichkeit platonischer Liebe, zum anderen, dass seine Kunst, über welche er sein bisheriges Leben definierte, „Lüge und Narrentum“ ist, und dass sie nicht zur „Erziehung“ der Jugend oder der Menschheit allgemein taugt, da sie nicht authentisch ist. Sie entspringt nicht der Leidenschaft, dem eigentlichen Wesen Aschenbachs, sondern seinem kühlen, der Erkenntnis fern liegenden Intellekt. Wahre Kunst jedoch erschafft nur der authentische Schriftsteller, welcher das Leben in all seinen Höhen und Tiefen durchlebt, welcher Himmel und Hölle geschaut hat.

2.1.3. Erkenntnis als Folge der Hadesfahrt Aschenbachs Wie Walter K. Stewart anmerkt, ist diese Erkenntnis an der Zisterne in Thomas Manns Werk kein Einzelfall, da auch andere Figuren im Angesicht von Wasserphänomenen Erkenntnis erfahren.92 So etwa Tonio Kröger bei seinem Meerspaziergang, eine Episode, die sich ganz ähnlich im zweiten Kapitel von Joyces Ulysses findet, oder auch während Hans Castorps „Schnee“-Traum, währenddessen er inmitten von gefrorenem Wasser zu einer lebensbejahenden Erkenntnis kommt. Eben diese Erkenntnisfindung, welche sowohl die Werke Manns als auch die Joyces prägen, zeichnen die entsprechenden Episoden als Hadesfahrten der Moderne aus. Neben der eher persönlich geprägten Erkenntnis an der Zisterne erlangt Aschenbach jedoch auch Gewissheit über das Leiden in Venedig. Ein englischer Clerk berichtet dem Schriftsteller über den Ausbruch der Indischen Cholera, welche aus den warmen Morästen des Ganges-Deltas nach Europa übergegriffen hat. Diese Landschaft ruft in Aschenbach die Erinnerung an seine erste Vision, die Urweltwildnis, hervor, mitsamt des im Dickicht kauernden Tigers, der als Symbol für Aschenbachs Leidenschaft, aber ebenso als Manifestation des Gottes Dionysos gelten muss und der von Venedig und auch von Aschenbach selbst Besitz zu ergreifen droht. Thomas Mann verknüpft hier also das Individualschicksal Aschenbachs mit einem universellen Verhängnis: der in den Kanälen Venedigs 92

Vgl. Walter K. Stewart. „Der Tod in Venedig. The Path to Insight“ In: Germanic Review 53. 1978. S.52.

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wütenden Cholera. Die Erkrankung und der Tod Aschenbachs stellen zugleich eine Allegorie auf den Niedergang Venedigs dar, auf die Absage an Dekadenz und Ästhetizismus. Die Aschenbach zu höchster Inspiration treibende Krankheit lässt darüber hinaus noch ein weiteres Motiv anklingen, welches sowohl im Zauberberg als auch im Doktor Faustus wieder aufgenommen werden soll: Genialität als Folge von Krankheit und Todesnähe. Zudem erkennt Gustav Aschenbach im Laufe der Erzählung, dass Liebe und Zuneigung nur auf mangelnder Erkenntnis (eines Menschen) beruhen: „Denn der Mensch liebt und ehrt den Menschen, solange er ihn nicht zu beurteilen vermag, und die Sehnsucht ist ein Erzeugnis mangelhafter Erkenntnis.“ (TiV, S.560). Er scheint sich darüber klar zu werden, dass er nicht das wahre Wesen Tadzios erfasst, sondern diesen idealisiert und zum Gott stilisiert. Ein erster Anflug jener Erkenntnis deutet sich schon zu Beginn des Venedig-Aufenthaltes an. Während der ersten Begegnung mit dem Jüngling in der Vorhalle zum Restaurant nämlich blickt dieser den alternden Schriftsteller an. „Geistig bewegt“ sinniert Aschenbach während des Essens über „die geheimnisvolle Verbindung, welche das Gesetzmäßige mit dem Individuellen eingehen müsse, damit menschliche Schönheit entstehe“. Der Anblick Tadzios erweckt in ihm die Idee des Schönen, des Guten, gar des Wahren als „Anregung zum Streben nach (transzendenter) Erkenntnis.“93 Zudem findet sich in den Gedanken Aschenbachs wiederum eine für Thomas Mann bezeichnende Mythos-Konzeption, welche das Individuelle mit dem Typischen zu verbinden sucht und den polnischen Knaben somit zum Mythologem par excellence werden lässt. Denn das Typische ist für den Autor eng mit dem Mythischen verbunden. 94 Wie sich im weiteren Verlauf des Textes zeigen soll, ist Aschenbachs Einsicht in die platonische Philosophie, welche sich in dem Zitat andeutet, nur im traumähnlichen Zustand von Bedeutung. Denn nach einigem Nachsinnen „kam (er) von da aus auf allgemeine Probleme der Form und der Kunst und fand am Ende, daß seine Gedanken und Funde gewissen scheinbar glücklichen Einflüsterungen des Traumes glichen, die sich bei ernüchtertem Sinn als vollständig schal und untauglich erweisen.“ (TiV, S.532f.). Doch Erkenntnis ist nicht nur im nüchternen Wachzustand unter Einschaltung der Ratio zu erlangen, sondern ebenso im Reich des Traumes und des Unbewussten, in dem Zustand wohlgemerkt, wo der Mensch dem Tod und dem Eingang in die Ewigkeit bzw. des Ureinen am nächsten ist. Aschenbach verwirft seine Überlegungen aufgrund seines strikten Lebenswandels und seiner Erziehung, welche es ihm verbietet, Träume als Wegweiser der Erkenntnis anzuerkennen. Im Werk Thomas Manns aber kommt den Träumen eine Martina Hoffmann. Thomas Mann. Der Tod in Venedig. S.51. Vgl. Thomas Mann. „Freud und die Zukunft“ Vortrag gehalten in Wien am 8. Mai 1936 zur Feier von Sigmund Freuds 80. Geburtstag. Bermann-Fischer Verlag. Wien. 1936. S.29. 93 94

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Schlüsselfunktion zu, da sie den Zugang in das Unbewusste der Protagonisten, zu ihrer wahren Persönlichkeit und ihrer persönlichen Wahrheit ermöglichen.

2.1.4. Der Traum als Zugang zur Katabasis in das Unbewusste Das hier anklingende Motiv des Traumes oder der Vision dient häufig als Folie für die Hadesfahrten der Moderne, wie bereits der Beginn der Novelle verdeutlicht. Die durch den Wanderer ausgelöste Epiphanie Aschenbachs zu Anfang des Tod in Venedig wird in seinem dionysischen Traum, kurz vor seinem Tod, wiederaufgenommen. Kaum eine Episode ist so eingehend und so brutal beschrieben wie die den Schriftsteller überkommende Urwaldwildnis: Angst war der Anfang, Angst und Lust und eine entsetzte Neugier nach dem, was kommen wollte. Nacht herrschte, und seine Sinne lauschten; denn von weither näherte sich Getümmel, Getöse, ein Gemisch von Lärm: Rasseln, Schmettern und dumpfes Donnern, schrilles Jauchzen dazu und ein bestimmtes Geheul im gezogenen u-Laut, - alles durchsetzt und grauenhaft süß übertönt von tief girrendem, ruchlos beharrlichem Flötenspiel, welches auf schamlos zudringende Art die Eingeweide bezauberte. Aber er wußte ein Wort, dunkel, doch das benennend, was kam: «Der fremde Gott!» Qualmige Glut glomm auf (…) Menschen, Tiere, ein Schwarm, eine tobende Rotte, - und überschwemmte die Halde mit Leibern, Flammen, Tumult und taumelndem Rundtanz. (...) Alles durchdrang und beherrschte der tiefe, lockende Flötenton. Lockte er nicht auch ihn, den widerstrebend Erlebenden, schamlos beharrlich zum Fest und Unmaß des äußersten Opfers? (...) Seine Seele begehrte sich anzuschließen dem Reigen des Gottes. Das obszöne Symbol, riesig, aus Holz, ward enthüllt und erhöht: da heulten sie zügelloser die Losung. Schaum vor den Lippen tobten sie, reizten einander mit geilen Gebärden und buhlenden Händen, lachend und ächzend, stießen die Stachelstäbe einander ins Fleisch und leckten das Blut von den Gliedern. Aber mit ihnen, in ihnen war der Träumende nun und dem fremden Gott gehörig. (...) Und seine Seele kostete Unzucht und Raserei des Untergangs. (TiV, S.582ff).

Walter Pabst deutet diesen Traum als eine Art Höllenvision, ein „Dämonenwerk im Auftrage Satans von der lieblichen Erscheinung des antiken Gottes hervorgerufen“.95 Erst die Beschäftigung mit dem polnischen Knaben verführt Aschenbach zur Aufgabe seiner apollinischen Lebensweise, jedoch sollte nicht vergessen werden, dass Aschenbach durchaus auf ein letztes Liebesabenteuer gehofft hatte und somit Mitschuld an seinem Schicksal trägt, dieses vielleicht sogar selber lenkt. Auch diese Einflussnahme auf das Schicksal findet sich schon in der homerischen Odyssee, in welcher Odysseus mehrfach sein Schicksal zu wenden versteht, zum Positiven wie auch zum Negativen. Gemäß Adornos und Horkheimers Interpretation ist der Mensch des 20. Jahrhunderts eigenverantwortlich und vermag es, Einfluss auf sein Schicksal zu nehmen. Sowohl der Tod in Venedig als auch die griechische Vorlage Homers entzaubern somit den Glauben an eine Allmacht der Götter. In seiner Erzählung knüpft Thomas Mann an die Entmythisierung des 95

Walter Pabst. „Satan und die alten Götter in Venedig. Entwicklung einer literarischen Konstante“ S.348.

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Allmachtsglaubens, welche die Odyssee darstellt, an und stellt die Idee des unabwendbaren Schicksals infrage. Der dionysische Traum Aschenbachs ist zudem ein Spiegel seiner Seele. Er offenbart seine Sehnsüchte und Leidenschaften, die er sein ganzes Leben lang unterdrückt hat. Die Geschehnisse im Traum brechen zudem seinen Widerstand gegen die Leidenschaft und vernichten seine anerzogene Kultur, und da er sich über diese definiert, auch seine bisherige Existenz. Ähnlich wie in der Vision zu Anfang der Novelle ist die Sprache stark sexuell geprägt. Flöte, Stachelstöcke und „das obszöne Symbol“ sind als phallische Metaphern aufzufassen, die Aschenbachs hom*osexualität und Neigung zu dem jungen Tadzio verdeutlichen. Der Knabe ist durch die stetigen u-Laute im Traum gegenwärtig. Sein Name wird zur Losung des tobenden Reigens. Ihm wird hier in erschreckender Blutlust gehuldigt, einer Blutlust, die Aschenbach mit sich reißt, da diesen sowohl nach dem jungen Blute Tadzios als auch nach dem Leben, welches das Blut versinnbildlicht, gelüstet. Nach über fünfzig Jahren der Ordnung und der Zucht, die das Leben des alternden Schriftstellers bestimmten, verlangt es ihn nachzuholen, was er versäumt hat und sich seinen Leidenschaften hinzugeben. Der dionysische Traum also, dieser Abstieg in die Psyche des Protagonisten, führt zu der Erkenntnis seiner Wünsche sowie zu deren Erfüllung, ein Verweis auf die Auffassung Freuds, dass die nächtlichen Träume des Menschen der Wunscherfüllung dienen.96 Zudem wirkt der Traum Aschenbachs die Kunst verneinend, dafür aber lebensbejahend. Der vermeintliche Wilhelminer opfert seine der Klassizität unterworfene Kunst, um sich der eigenen Person und dem Leben zuzuwenden, auch wenn dies zu Ende der Novelle seinen Tod bedeuten muss. Wie die meisten Träume und Visionen im Werke Thomas Manns, so steht auch diese Episode mit dem Konzept der Somnambulie in Verbindung, ein Motiv, welches sich durch die ganze Novelle zieht. So überkommt Aschenbach schon zu Anfang der Novelle, nach der Begegnung mit den ersten beiden Hadesfiguren, ein unruhiger Schlaf: Aber im leeren, im ungegliederten Raume fehlt unserem Sinn auch das Maß der Zeit, und wir dämmern im Ungemessenen. Schattenhaft sonderbare Gestalten, der greise Geck, der Ziegenbart aus dem Schiffsinnern, gingen mit unbestimmten Gebärden, mit verwirrten Traumworten durch den Geist des Ruhenden, und er schlief ein. (TiV, S.520).

Jene Somnambulie, der häufig eine Intoxikation durch den Konsum von Genussmitteln, im Falle Aschenbachs des Granatapfelsaftes, vorausgeht, lässt sich insbesondere mit Schopenhauers Philosophie des Ureinen erklären, welche besagt, dass der Mensch sich im Schlafe wieder dem 96

Vgl. hierzu auch Helmut Koopmann, Thomas Mann Handbuch. S.303.

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pränatalen Zustand annähert und somit die eigentliche Wirklichkeit, die Weltenseele zu schauen vermag. Auch die in dem Zitat thematisierte Wahrnehmung der Zeit respektive deren Zerfall, welcher hier frühzeitig angedeutet wird, fußt auf Schopenhauers Begriff dieser eigentlich konstruierten Kategorie, welche im Prinzip nur vorgibt, zu existieren, fasst er die Zeit doch als ein ewiges nunc stans auf, in welchem Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft verschmelzen. Mythologische Quellen sind der gesamten Erzählung unterlegt, doch sie treten in Aschenbachs verstörendem Traum gegen Ende der Novelle besonders klar zu Tage, wobei der Dionysos-Mythos der vorherrschende zu sein scheint, wie anhand der wilden, Felle tragenden und Fleisch zerfetzenden Frauen deutlich wird. Aber auch Hermes hat seinen Auftritt, da ihm in der griechischen Antike die Schutzherrschaft über das Reich der Träume zukommt und er somit Aschenbachs Traumvisionen begleitet.97 Laut Petriconi kommen zudem christliche Einflüsse nicht zu kurz, wenn er die Traumsequenz gegen Ende der Novelle als „heidnisches Bacchanal in christlichen Farben“ beschreibt, welches einem Hexensabbat gleicht, währenddessen der Protagonist die „Angst und Lust der Hölle durchkostet.“98 Ein weiteres Mal verbindet Thomas Mann hier unterweltlliche Mythologeme verschiedener Provenienz, um den Abstieg in das Seelenleben seiner Protagonisten darzustellen. Dieser Synkretismus verleiht dem Topos der Hadesfahrt ein neues Moment, das sich für die Verwirklichug des Selbst im Leben verwendet, und nicht, wie Aschenbach dies bisher handhabte, im Reich der Kunst.

2.1.5. Tadzio – Prisma mythologischer Figuren Tadzio, der polnische Knabe, für den Aschenbach in leidenschaftlicher Liebe entflammt ist, zeichnet sich vor allem durch seine Polyvalenz aus, da er Züge verschiedener mythologischer Gestalten trägt. Ihm liegen Substrate zahlreicher mythologischer Figuren zugrunde, immer aber scheint er einen Begriff auf sich zu vereinen, den des Gottes oder gottähnlichen Knabens. So wird er vielfach als Eros gelesen,99 der Aschenbachs Liebe auf sich lenkt, und in der Tat gibt es hierfür vielsagende Anhaltspunkte. Im dritten Kapitel etwa heißt es in der Beschreibung des Knaben: „Das Haupt des Eros, vom gelblichen Schmelze parischen Marmors.“ (TiV, S.535). Wenig später entsteigt er dem Meere wie schon seine vermeintliche Mutter Venus: Vgl. Walter Pabst. „Satan und die alten Götter in Venedig. Entwicklung einer literarischen Konstante“ S.348. Helmut Petriconi. Das Reich des Untergangs. S.93. 99 Vgl. Terence James Reed. Thomas Mann. The Uses of Tradition. Clarendon Press. Oxford. 1974. S.162. 97 98

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Er kehrte zurück, er lief, das widerstrebende Wasser mit den Beinen zu Schaum schlagend, hintübergeworfenen Kopfes durch die Flut (...), mit triefenden Locken und schön wie ein Gott, herkommend aus den Tiefen von Himmel und Meer, dem Elemente entstieg und entrann: dieser Anblick gab mythische Vorstellungen ein, er war wie Dichterkunde von anfänglichen Zeiten, vom Ursprung der Form und von der Geburt der Götter. (TiV, S.539f.).

Zudem scheint Tadzio sich der Liebe Aschenbachs beizeiten durchaus bewusst zu sein und fordert diese regelrecht heraus, wenn er seine Augen verschämt zu ihm aufschlägt oder ihn während des Konzerts der Bänkelsänger wiederholt über die Schulter hinweg ansieht. Er fungiert somit als eine Art Verführer, ein Liebesgott, der die Gefühle Aschenbachs provoziert und anstachelt. Eine weitere Figur, welche Tadzio nahesteht, ist Thanatos, der griechische Gott des Todes und Bruder des Hypnos, also des Schlafes. Diese Vermutung wird vor allem von der Haltung des Knaben nahe gelegt, da er häufig wie jener dargestellt wird, mit übereinander gekreuzten Beinen, einen Arm locker in der Hüfte, und somit auch an Lessings Todesgenius erinnernd. Auch wurde der Knabe als irdische Manifestation des indischen Gottes Dionysos gedeutet. 100 Nicht zuletzt ist er es, der Aschenbach dem Rausch anheimfallen lässt und somit zu seinem Untergang beiträgt. Dies wird auch durch den oben erwähnten Traum belegt, der eindeutig an den Kult des Dionysos angelehnt ist und dessen Geräuschkulisse des allgegenwärtigen u-Lautes auf die Gegenwart Tadzios als Gott anspielt. Fraglich scheint hingegen Helmut Koopmanns Auffassung, Tadzio sei eine Wiederverkörperung des jungen Hanno Buddenbrook, dessen Todesaffinität und -symbolik im polnischen Knaben gespiegelt seien. Laut Koopmann wird Hanno Buddenbrook somit im Tod in Venedig zu einem Gott stilisiert, der nicht zuletzt Thomas Mann selber und dessen Jugend repräsentieren soll. Diese Mythisierung des jungen Hanno komme damit auch einer Mythisierung von Thomas Manns Vergangenheit gleich, einer Selbststilisierung und dem Versuch „die eigene Vergangenheit als etwas Unveräusserbares zu bewahren.“101 Die häufigste und wohl auch überzeugendste Deutung Tadzios jedoch bringt ihn mit dem als Götterboten bekannten Hermes in Verbindung, der auch als der Schirmherr der Sprache und der Form fungiert, wovon sein Beiname Trismegistos zeugt und der auf eine Verwandtschaft mit dem ägyptischen Gott Thot zurückzuführen ist.102 Tadzio-Hermes dient somit dem Schutze der Beredsamkeit und steht unter anderem aus diesem Grund Pate für Aschenbachs am Strand verfassten Essay. Vgl. Herbert Lehnert. Thomas Mann. Fiktion, Mythos, Religion. S.105. Helmut Koopmann. „Hanno Buddenbrock, Tonio Kröger und Tadzio: Anfang und Begründung des Mythos im Werk Thomas Manns“ In: Rolf Wiecker (Hrsg.). Gedenkschrift für Thomas Mann. 1875 – 1975. Verlag Text & Kontext. Kopenhagen. 1975. S.64. 102 Vgl. Willy R. Berger. „Thomas Mann und die antike Literatur“ In: Peter Pütz. Thomas Mann und die Tradition. Athenäum Verlag. Frankfurt a.M. 1971. S.88. 100 101

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Die Funktion Tadzios als Hermes Psychopompos, als Seelengeleiter in das Reich des Hades, offenbart sich vor allem in der letzten Strandszene, dem Tode Aschenbachs: „Ihm war aber, als ob der bleiche und liebliche Psychagog dort draußen ihm lächle, ihm winke; als ob er, die Hand aus der Hüfte lösend, hinausdeute, voranschwebe ins Verheißungsvoll-Ungeheure. Und wie so oft, machte er sich auf, ihm zu folgen.“ (TiV, S.592). Tadzios abgesonderte und verbindungslose Erscheinung verstärkt noch den Eindruck des Mittlers zwischen Diesseits und Jenseits. Sich vor der Linie des Horizonts bewegend, gehört er sowohl dem Meere als auch dem Lande an, sowohl dem Hades als auch der Erde. Die Funktion des Geleiters in das Reich der Schatten als typisches Attribut des Hermes Psychopompos wird schon bei Goethe deutlich: „Siehst du nichts? Schwebt nicht etwa gar Hermes voran? Blinkt nicht der Goldne Stab heischend, gebietend uns wieder zurück zu dem unerfreulichen, grautagenden, Ungreifbarer Gebilde vollen, überfüllten, ewig leeren Hades?“ 103 Stärker als bei den übrigen Figuren zeigt sich in Tadzio Thomas Manns Neigung zum Synkretismus, da er verschiedene Mythologeme miteinander verknüpft, um eine neue unterweltliche Gestalt zu erschaffen, die letztlich die gemeinsame Basis der europäischen Jenseitsdarstellungen aufzeigt. Tadzio wird somit zu einem „complex symbol whose existence is beyond time and space in the realm of eternal myth“.104 Die mythologischen Substrate dienen Mann dabei zur Schaffung eines neuen Mythos, der im Zeichen der Selbstfindung, des Ausdrucks der eigenen Persönlichkeit und der Lebensfreundschaft konzipiert ist.

2.1.6. Aschenbach – Leistungsethiker im dionysischen Rausch Auch dem Protagonisten des Tod in Venedig, Gustav Aschenbach, sind verschiedene mythologische Substrate unterlegt. Der in der Gesellschaft hoch angesehene Schriftsteller erfährt im zweiten Kapitel, nach der Vision auf dem Münchener Nordfriedhof, eine sehr eingehende Beschreibung. Seine Parole lautet „Durchhalten“ und sein Erbteil väterlicherseits sind Zucht und Ordnung. (TiV, S.509). Als eine Art Heiliger Sebastian, der die Zähne aufeinander beißt, während Speere seinen Leib durchbohren, lebt Aschenbach einen Heroismus der Schwäche. Dies rückt ihn in ein ähnliches Licht wie Homers Odysseus, welcher auch den Beinamen „der Dulder“ trägt. Ähnlich Aschenbach verleugnet Odysseus seine tatsächliche Identität, wenn er vor dem Zyklopen Polyphem seinen Johann Wolfgang von Goethe. Faust. Texte. In: Ebd. Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. Vierzig Bände. Herausgegeben von Friedmar Apel, Hendrik Birus, Anne Bohnenkamp, Dieter Borchmeyer, Albrecht Schöne (u.a.) Deutscher Klassiker Verlag. Frankfurt a.M. 1994. S.356. 104 André von Gronicka. „Myth plus Psychology. A style analysis of Death in Venice.“ S.201. 103

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wahren Namen verschweigt und sich als Niemand ausgibt, um sein Leben zu schützen. Ganz in der Nachfolge des homerischen Helden verleugnet Aschenbach zwar nicht seinen Namen, aber eben seine wahre Identität, indem er sich dem wilhelminischen Ideal von Zucht und Ordnung unterwirft. Thomas Mann knüpft in seiner Novelle somit augenscheinlich an frühere Hadesfahrten der Antike an und verleiht seinem Helden dadurch nicht zuletzt einen typischen Charakter. Dies ist insofern von Interesse, als das für Mann das Typische immer schon das Mythische ist. 105 Gustav Aschenbachs Geschichte handelt also nicht, wie teils angenommen, von einem bloßen Individualschicksal, sondern trägt mythische Züge, welche ihm universelle Bedeutung verleihen. Zu Beginn seiner schriftstellerischen Karriere hat Aschenbach „dem Geiste gefrönt, mit der Erkenntnis Raubbau getrieben, Saatfrucht vermahlen, Geheimnisse preisgegeben, das Talent verdächtigt, die Kunst verraten.“ (TiV, S.512f.), dies alles in dem Maße, dass ihn als Schriftsteller ein regelrechter Erkenntnisekel überkam, welcher ihn gegenüber dem „Reiz der Erkenntnis“ abstumpfen ließ. Auch seine Werke verdeutlichen diesen Ekel vor dem „Psychologismus der Zeit“, die beginnende Abkehr von der romantischen Sympathie mit dem Abgrund und einer Hinwendung zum Schönheitssinne Aschenbachs, zu Klassizität und Ästhetizismus. Dies wiederum zieht eine „neue moralische Entschlossenheit jenseits des Wissens und der Erkenntnis“ nach sich, welche eine Vereinfachung der Welt als auch der Seele zur Folge hat und somit „auch ein Erstarken zum Bösen, Verbotenen, zum sittlich Unmöglichen.“ (TiV, S.514). So zeichnet sich im Tod in Venedig bereits eine erste Faschismus-Kritik ab, welche die philosophischen und kulturellen Tendenzen zu einer langsam aufkommenden völkischen Rohheit und den um sich greifenden Antisemitismus mitverantwortlich macht. 106 Der gesellschaftlichen Persönlichkeit Aschenbachs steht seine wahre Natur gegenüber. Sein sublimierter Hang zu Romantik und dionysischer Selbstaufgabe zeigt sich vor allem in seiner starken Affinität zum Meer sowie dessen Verbindung mit dem Todesmittler Tadzio. Die weite See, welche an den homerischen Okeanos erinnert, zeitigt einen „verführerischen Hange zum Ungegliederten, Maßlosen, Ewigen, zum Nichts.“ (TiV, S.536). Der Zusammenhang von Meer und Tod wird deutlich, ebenso wie die Tiefe und Eindringlichkeit des Todes.107 Wie Thomas Mann selbst ausführt, versinnbildlichen die Weiten des Meeres für ihn die „Erkenntnis der Ewigkeit, des Nichts und des Todes, ein metaphysischer Traum“.108 Der Abfall Aschenbachs vom (Neo)Klassizismus und die Aufgabe seines Pseudo-Ichs zeigen sich Vgl. Thomas Mann. „Freud und die Zukunft“ S.29. Vgl. Terence James Reed. „Tod eines Klassikers. Literarische Karrieren im Tod in Venedig“ In: Thomas Mann Studien 33. 2005. S.180. 107 Vgl. Hans Kasdorff. Der Todesgedanke im Werke Thomas Manns. Form und Geist 26. Hermann Eichblatt Verlag. Leipzig. 1932. S.6. 105 106

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zudem in der Gestik des Protagonisten. Zu Anfang der Erzählung, entschlossen der Welt seinen Dienst zu leisten, wird der Schriftsteller häufig mit geschlossener oder geballter Faust, dargestellt. Gegen Mitte der Novelle aber zeigt sich eine erste Veränderung, wenn er Tadzio von seinem Fenster aus wieder erblickt und mit hängenden Armen eine „gelassene Gebärde des Umarmens“ vollführt. Zu Ende des Tod in Venedig schließlich verliert seine Gestik jedwede Art von Haltung. Der Rausch bringt eine Trägheit und Schlaffheit mit sich, die seine Hand sich öffnen und plump herabhängen lässt. Wie Martina Hoffmann anmerkt, steht die erschlaffende Gestik Aschenbachs für die Aufgabe des apollinischen Logos und für die Hinwendung zum Rausch.109 Diese Aufgabe des Schriftstellertums wird darüber hinaus in Aschenbachs Aufgabe jedweder Lektüre deutlich, welche sich schon auf der Schifffahrt nach Venedig andeutet. Die Körperhaltung, welche für Zucht und Ordnung, das wilhelminische Ideal und Klassizität steht, war bloße Pose Aschenbachs und schwindet mitsamt seiner von ihm abfallenden Scheinidentität. Daniel Kehlmann spricht hier von einem Moment des Umschlags, das in Thomas Manns Werken häufig anzutreffen sei: „Die Masken fallen, das Geordnete bricht, und die Figuen werden zum Teil höchst willige Opfer von Trieb und Rausch, Schmerz, Traum, Fieber, Krankheit und Vision.“ 110 „Minuten vergingen, bis man dem seitlich im Stuhle Hinabgesunkenen zu Hilfe eilte. Man brachte ihn auf sein Zimmer. Und noch desselben Tages empfing eine respektvoll erschütterte Welt die Nachricht von seinem Tode.“ Mit dem Tod Gustav Aschenbachs schließt die Erzählung. Wie schon zu Beginn der Analyse erwähnt, realisiert dieser Ausgang „die apokalyptische Prophezeiung des Anfangs“,111 die Begegnung und Vision auf dem Münchener Nordfriedhof. Die Thomas-Mann-Forschung ist uneins, wie dieses Hinscheiden des Protagonisten zu deuten ist. Werner Frizen etwa versteht Aschenbachs Tod als „Traum der Vereinigung mit Tadzio“, sich hierbei erinnernd an das Winken Isoldes während Tristans Dahinscheiden und somit Wagners Idee von der erotischen Verlebendigung des Nirwanas aufgreifend. 112 Auch laut Kasdorff und Haas kommt dieser Tod einer Entbürdung gleich,113 ersterer nimmt gar an, dass der alternde Schriftsteller dem Tode gewillt, zumindest aber bereit entgegenblicke.114 Eine Ansicht, die sich durchaus teilen lässt, bedenkt man, dass Aschenbach auch einem letzten Vgl. Heinz Gockel. „Aschenbachs Tod in Venedig“ In: Rudolf Wolff (Hrsg.). Thomas Mann. Erzählungen und Novellen. Bouvier Verlag Herbert Grundmann. Bonn. 1984. S.38. 109 Vgl. Martina Hoffmann. Thomas Mann. Der Tod in Venedig. S.57. 110 Daniel Kehlmann. „Dionysos und der Buchhalter“ In: Thomas Mann Jahrbuch 23. Klostermann Verlag. 2010. S.131. 111 Werner Frizen. Thomas Mann. Der Tod in Venedig. S.99. 112 Vgl. ebd. S.94/95. 113 Vgl. Alois M. Haas. „ »Leben selbst ist Sterben und dennoch Wachstum« Thomas Mann zwischen Décadence und Epiphanie.“ In: Thomas Mann Studien 38. 2008. S.102. 114 Vgl. Hans Kasdorff. Der Todesgedanke im Werke Thomas Manns. S.88. 108

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Liebesabenteuer offen gegenüberstand und selbst im Angesicht seines gesundheitlichen Unwohlseins glaubt, Venedig nicht verlassen zu können. Als „folgerichtige Fortsetzung sowohl der letzten Erkenntnis Aschenbachs wie ihres traumhaften und mythischen Charakters“ dient des Protagonisten Eingang in die Unendlichkeit aber vor allem der Darstellung der polaren Spannung zwischen Lust und Tod.115 Aschenbachs körperliche Liebe zu dem polnischen Knaben stürzt ihn in sein Verderben, will man den Tod als solches deuten. Dennoch lässt sich dieses tragische Ende des alternden Schriftstellers positiv lesen, da der Abstieg in die Unterwelt einer Selbstfindung gleichkommt. Gustav Aschenbach erkennt und akzeptiert seinen wahren Charakter und die Beweggründe für sein Handeln. Im Augenblick seines Todes ist Gustav Aschenbach das erste Mal in seinem Leben ganz bei sich. Dass das Ende der Novelle mythisch unterlegt ist, zeigt sich in der schon erwähnten Parallele zum Faust II, in der Hermes Psychopompos zum Hades voranschwebt.116 So scheint es unstrittig, dass auch Aschenbach durch seinen geliebten Tadzio den Gefilden des Hades, die sich schon in den Örtlichkeiten und Kanälen Venedigs spiegelten, zugeführt wird. Der Zusammenhang von Eros und Thanatos tritt auch in späteren Werken Manns häufiger zu Tage, so etwa in der noch zu besprechenden Erzählung Die Betrogene, ebenso im Zauberberg und im Doktor Faustus, wo die Ergebenheit an Madame Chauchat bzw. Esmeralda die Protagonisten ihrem Tode annähern. Das Motiv findet sich darüber hinaus in Joyces Ulysses und wird in Kapitel 4.6 noch eingehend besprochen werden.

2.1.7. Mythisierung und Entmythisierung Wie bereits in der obigen Analyse dargelegt, verknüpft Thomas Mann im Tod in Venedig zahlreiche Mythologeme und schafft damit mehrere mythische Ebenen innerhalb der Novelle. So ergibt sich eine zweifache Mythisierung des Textes schon allein daraus, dass der Tod in Venedig kunstvoll „die Ausdrucksformen sowohl christlicher als auch heidnischer Mythologien vereinigt.“117 Durch diesen Synkretismus stellt Thomas Mann bestehende Mythen und Dogmen in Frage und instrumentalisiert sie, um einen eigenen Mythos der Lebensfreundschaft und der Humanität zu erschaffen. So wurde die Erzählung häufig als Kritik und Überwindung der Dekadenz gelesen, welche in Vgl. Franz H. Mautner. „Die griechischen Anklänge in Thomas Manns Tod in Venedig.“ In: Monatshefte 44. 1952. S.25. 116 Vgl. auch Hans Rudolf Vaget. „Mythos bei Goethe und im Tod in Venedig“ In: Ebd. Thomas Mann Studien zu Fragen der Rezeption. Lang Verlag. Bern. 1975. S.44. 117 Helmut. Petriconi. Das Reich des Untergangs. S.86. 115

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diesem Text durch eine minutiöse Chronik und Analyse derselben zu Grabe getragen wird.118 Darüber hinaus aber verdeutlicht die Novelle einen kulturellen Klimawechsel innerhalb Deutschlands, der sich in etwa um das Jahr 1910 zugetragen hat und eine Abkehr von Erkenntnis, Psychologie und Kritik mit sich brachte. Stattdessen vollzog sich eine Hinwendung zum Äußerlichen, zum Ästhetizismus, den Aschenbach repräsentiert. Jene Tendenz wiederum resultierte in einer Vereinfachung des Moralischen überhaupt und führte daher zu einem gewissen Antiintellektualismus 119 bzw. Irrationalismus, der letztlich in faschistischen Strömungen kulminierte:120 In einer Erzählung stellte ich Versuche an mit der Absage an den Psychologismus und Relativismus der ausgehenden Epoche, ich ließ ein Künstlertum der Erkenntnis um ihrer selbst willen den Abschied geben, dem Abgrund die Sympathie aufsagen und zum Willen, zur Wertbeurteilung, zur Intoleranz, zur Entschlossenheit sich wenden.121

Nach anfänglichen, romantisch konnotierten Bemühungen um moralische Erkenntnis und einer Infragestellung der Kunst überhaupt wird Aschenbach des Zweifels und der Erkenntnis müde und schwingt sich zum Vertreter eines klassischen, aber in seiner Natur simplen, ja verrohten Ästhetizismus auf. Wenn diese vermeintliche Selbstfindung Aschenbachs zunächst löblich scheint, so verweist Mann an dieser Stelle auch auf die Gefahren seiner Natur, die Tendenz zu Intoleranz, Antiintellektualismus und letztlich auch Radikalismus. Durch die erneute Hinwendung zu romantischen Idealen kurz vor seinem Tod lässt Thomas Mann seinen Protagonisten zwischen Extremen oszillieren. In der Figur Aschenbachs kritisiert er zugleich das „Narrentum“ des Neoklassizismus und die todesaffinen Dogmen der Romantik. Wie die im Folgenden zu analysierenden Texte beweisen und sich dies bei der Zisterne schon ankündigt, ist Erkenntnis nicht etwa im Rahmen der Kunst, sondern durch die Erfahrung des Lebens selbst möglich. Um sich selber sowie die Welt zu erkennen, um Transzendenz zu erfahren, muss man das Leben selbst erfahren. So bringt Thomas Mann verschiedene Mythologeme, aber auch eigene Begegnungen, Biographie und Historie auf einen Nenner, „sodaß sich künstlerische Wahrheiten“ veranschaulichen.122 Darüber hinaus aber verbirgt sich im Tod in Venedig auch eine Kritik des Neoklassizismus, als dessen ästhetisierender Vertreter Aschenbach anzusehen ist. Dieser glaubt seiner Zeit nicht gerecht Vgl. Heinz Gockel. „Aschenbachs Tod in Venedig“ S.30. Vgl. Terence James Reed. „Tod eines Klassikers. Literarische Karrieren im Tod in Venedig“ In: Thomas Mann Studien 33. 2005. S.180. 120 Vgl. auch Herbert Lehnert. Thomas Mann. Fiktion, Mythos, Religion. S.137. 121 Hans Wysling (Hrsg.). Dichter über ihre Dichtungen. Bd. 14. Thomas Mann. S.410. 122 Hans Bernhard Moeller. „Thomas Manns venezianische Götterkunde“ S.204. 118 119

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werden zu können und scheitert zunächst an seiner eigenen Identität. Jene Entmythisierung der Neuklassik zeigt sich vor allem in der schon erwähnten Inkongruenz von Form und Inhalt. Der klassisch-apollinische Stil, welcher die dionysische Biographie Aschenbachs unterlegt, gleicht dem „Strukturformular der Tragödie“,123 wird aber auf ein modernes Künstlerschicksal angewandt. Das „gewollte Gepräge der Klassizität“ und die daraus resultierenden Wortphrasen, sowie zahlreiche Zitatmontagen klassischer Autoren wie Vergil, Sokrates oder Homer scheinen inadäquat, ein modernes Drama zu beschreiben und dienen somit der Entmythisierung ihrer eigenen Quellen. Durch die Schlüssellage der Stadt Venedig erfolgt darüber hinaus eine Weitung der Perspektive auf europäische Gesamtproblematiken. Als Treffpunkt von West und Ost bewegt sich die Novelle vom Nationalcharakteristischen zum Kulturtypischen, und damit wiederum zum Mythischen hin. Durch die Einbindung griechischer Mythologeme in den Tod in Venedig kommt es zu einer Synthese des Morgen- und des Abendlandes, dem Beginn der europäischen Seele.124 Nicht etwa die Form der Erzählung, sondern der Mythos muss als Sinnträger gelten, welcher das psychische Geschehen legitimiert und es in anthropologischer Perspektive grundiert.125 Der Mythos allein ist imstande, Probleme zu lösen, die weder vom Leben noch vom Intellekt bezwungen werden können.126 Er wird für Thomas Mann im Laufe der Zeit daher immer wichtiger und ist in seinem gesamten Werk nachweisbar von immanenter Bedeutung. Insbesondere den katabatischen Topos, welcher den Protagonisten durch die Erfahrung des Todes das Leben an sich und somit transzendente Erkenntnis erfahren lässt, greift der Autor in den Folgewerken des Tod in Venedig erneut auf.

2.2 Wagners Walküre als Gefilde des Hades 2.2.1 Wendelin als Hermes Psychopompos Auch in der frühen Novelle Wälsungenblut setzt Thomas Mann sich mit den Ideen der Romantik auseinander. Gegen Ende der Novelle muss Siegmund, ähnlich wie nach ihm auch Gustav Aschenbach, erkennen, dass wahres Künstlertum aus Leidenschaft resultiert, nicht aber aus Intellektualität und kühler Berechnung. Zunächst jedoch wird auf die Personenkonstellation der Erzählung und deren Affinität zum Vgl. Werner Frizen. Thomas Mann. Der Tod in Venedig. S.33/38. Vgl. Manfred Dierks. Studien zu Mythos und Psychologie bei Thomas Mann. S.56ff. 125 Vgl. ebd. S.22. 126 Vgl. Franz H. Mautner. „Die griechischen Anklänge in Thomas Manns Tod in Venedig“ S.26. 123 124

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katabatischen Topos näher eingegangen werden. Die erste Person, die auftritt und somit als eine Art Herold fungiert, ist Wendelin, der Hausdiener. Diesem kommt laut Sjögren eine überaus wichtige Funktion zu, da er die Familie Aarenhold und insbesondere die selbstverliebten Zwillinge durch die Erzählung geleitet.127 Er ruft mithilfe eines Gongs zu den Mahlzeiten, welche Teil des üppigen Dekors des Hauses sind, und begleitet das Zwillingspaar zudem zu der Opernaufführung von Wagners Walküre, die durch ihre tiefgreifende Wirkung auf Siegmunds Innenleben als Impetus für Siegmunds Abstieg in das Unbewusste gelten darf. Sjögren führt zahlreiche, wenn auch teils fadenscheinige Gründe für die Personifikation Wendelins als Hermesgestalt an. Schon der Name heiße übersetzt „Gott des Viehs und des Korns“, eine Funktion, welche auch dem griechischen Halbgott Hermes zukommt. Wie dieser ist er zudem als Diener tätig, dessen gelber Aufzug an Hermes' alchemistische Tätigkeit erinnert. Am bedeutendsten scheint aber tatsächlich der Umstand, dass Wendelin Siegmund und Sieglinde zu der Opernaufführung geleitet, welche die Erkenntnisfindung Siegmunds und somit auch den die Erzählung beschließenden Inzest vorbereitet. Schon der „kleine, weiche Raum“ des Coupés, der „sanft durchwärmt“ ist (WB, S.448), evoziert eine Abgeschiedenheit der Protagonisten und erinnert an einen grabähnlichen Raum, aber auch an den pränatalen Zustand im Mutterschoß: „As in a coffin, the twins are sealed off from the noisy world by the glass and the brown curtains of their compartment (…). The trip, soundless and fleet, may be regarded as a correlative of a journey to Hades.“128 Dies wird vor allem darin deutlich, dass insbesondere Siegmund während der Fahrt ins Opernhaus nicht nur in das Reich der Kunst, sondern auch in das Reich der „spirits and ideas“ zu reisen scheint.

2.2.2 Erkenntnis im Rahmen der Kunst Ähnlich wie die Figuren Wagners sich „mit einem ersten Entzücken, einem ersten dunklen Erkennen“ betrachten und sich einem Augenblick hingeben, „der unten als tiefer, ziehender Sang ertönte“, so erfährt auch Siegmund eine weitreichende Erkenntnis: Ein Werk! Wie tat man ein Werk? Ein Schmerz war in Siegmunds Brust, ein Brennen oder Zehren, irgend etwas wie eine süße Drangsal – wohin? wonach? Es war so dunkel, so schimpflich unklar. Er fühlte zwei Worte: Schöpfertum … Leidenschaft. Und während die Hitze in seinen Schläfen pochte, war es wie ein sehnsüchtiger Einblick, daß das Schöpfertum aus der Leidenschaft kam und wieder die Gestalt der Leidenschaft nahm. (WB, S.456). Vgl. Christine Oertel Sjögren. „Wendelin and the theme of transformation“ In: Comparative Literature Studies 14. 1977. S.346-359. 128 Ebd. S.348. 127

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Siegmunds Hadesfahrt in die Abgründe der Leidenschaft bleibt also nicht, wie etwa Kluge behauptet, folgenlos,129 sondern macht ihm bewusst, dass er des intensiven Gefühls bedarf, um ein wahrer Künstler zu werden. Seine bisherigen kläglichen Versuche, ein künstlerisches Werk zu schaffen, waren von kühler Überlegung, nicht aber von Gefühl gekennzeichnet. So reiht sich der Aarenhold Spross in die Reihe der Mannschen Figuren ein, welche sich auf das Künstlerideal der Romantik rückbesinnen und sich den eigenen Leidenschaften und Neigungen bewusst hingeben. Der auf die Vorstellung folgende Inzest muss folglich als Initiation des jungen Zwillings gelesen werden, die ihn selber zum Schöpfer werden lässt. Das Wissen um wahres Schöpfertum bleibt jedoch nicht die einzige Erkenntnis, welche Siegmund zuteil wird. Wie Emig ausführt, handelt es sich sogar um ein dreifaches Erkennen des 19Jährigen.130 In der Walküre-Aufführung, dem regelrechten Spiegel des eigenen Daseins, erblickt Siegmund die „mythische Versicherung seiner Außerordentlichkeit und die Erwählung (seiner) Art“. Durch den Inzest schließlich kann es zu einer Wiedergeburt oder eher einer Fortführung der jüdischen Identität kommen, welche durch Sieglindes Heirat mit Beckerath verwässert worden wäre. Auffällig ist zudem der atmosphärische Kontext der Hadesfahrt in Wälsungenblut. Durch die Rahmenfunktion der Wagnerschen Walküre werden die Bezirke des Hades der romantischen Musik angenähert und erinnern somit vor allem an Dionysos, dessen Kult von jeher durch ausdrucksvollen Tanz und Musik begleitet wurde. Wie auch im Zauberberg, wo etwa Franz Schuberts Lindenbaum motivierende Wirkung ausübt, fungiert die Musik auch in Wälsungenblut als Moment der Initiation, welche den Helden in einen Rausch versetzt, ihm aber auch Erkenntnis zuteil werden lässt. Es handelt sich hier zudem um eine „illustration of the Nietzschean theory that Wagnerian music drama can counteract the artistic sterility of a decadent age by bringing man into contact with the (...) revitalizing power of myth and music.“131 Die Dekadenz, welche die Familie Aarenhold, insbesondere aber die Zwillinge mit ihrer Liebe zum Dekor und zu Ästhetizismus, symbolisieren, findet ein abruptes Ende wenn Siegmund erkennt, dass es wahrer Leidenschaft zur Kunst wie zum Leben bedarf. Ähnlich wie später Gustav Aschenbach im Tod in Venedig, wird die Epoche des Dandyismus und der Dekadenz also zu Grabe getragen und entzaubert. Man kann daher von einer Entmythisierung

der

Dekadenz

sprechen,

einer Auflehnung

gegen

Ästhetizismus

und

Gerd R. Kluge. „Wälsungenblut oder Halbblut. Zur Kontroverse um die Schlußsätze von Thomas Manns Novelle“ In: Neophilologus 76. 1992. S.248. 130 Christine Emig. Arbeit am Inzest. Richard Wagner und Thomas Mann. Peter Lang Verlag. Frankfurt a.M. 1998. S.134. 131 Christine Oertel Sjögren. „Wendelin and the theme of transformation“ S.356. 129

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Intellektualismus und einer Hinwendung zum Gefühl. Die Entmythisierung als Moment der modernen Hadesfahrt gründet sich schon auf Dantes Divina Commedia, in welcher der Florentiner seine Epoche und deren Vertreter entzaubert, ja regelrecht diffamiert und somit herrschende philosophische und politische Dogmen in Frage stellt. Der Walküre-Aufführung wie auch dem Inzest selber gehen Momente der Intoxikation voraus. Zeit ihres Lebens berauschen die Zwillinge sich an dem Wohlgeruch duftender Blumen (WB, S.444) ebenso wie an dem Geruch ihrer eigenen gepflegten Körper (WB, S.447). Gesteigert wird das Motiv des Rausches in dem Verzehr von Kognak-Kirschen und Maraschinobohnen während der Pausen der Opernaufführung. Wie Sjögren anmerkt, scheinen die Begrifflichkeiten der Naschereien jedoch vertauscht und verweisen somit auf den Verwandlungscharakter des Hermes und dessen Talent zur Alchemie, der Herstellung von Gold.132 Zudem scheint das Verwechslungsmotiv auch auf die Austauschbarkeit sowohl der Zwillinge untereinander hinzuweisen, als auch auf die Austauschbarkeit mit dem mythischen Vorbild der Wagnerschen Wälsungen. Das Geschwisterpaar und der Inzest spiegeln den Mythos Wagners und führen laut Engelstein somit sogar zu einer Parodie desselben, da die vermeintlich zivilisierten Aarenhold-Zwillinge in das barbarische Verhalten der Walsungen zurückfallen. 133 Jener Barbarismus wiederum zeigt sich vor allem in der Figur Siegmunds, dessen Äußeres animalische Züge trägt. Mit seinen gerade mal 19 Jahren wird er als bereits stark behaart beschrieben. Sein Bart wuchert derart, dass er sich zweimal täglich rasieren muss (WB, S.441). Sein „zottiges“ und schwarzes Haar erinnert an das Bärenfell, auf welches sein mythisches Vorbild niedersinkt und das später als Schauplatz für den Inzest dient. Jene optischen Merkmale des Protagonisten können als Ausdruck seiner Wildheit und seiner sexuellen Leidenschaft gedeutet werden, welche er zeitlebens zu verbergen suchte. Es kommt in Wälsungenblut folglich zu einer Verschmelzung verschiedener Kategorien. Menschliche, tierische und mythische Elemente werden vereint, „the categories overlap, contours blur, and transmutation seems possible, as in the realm of myth.“134 Auch die Falten zwischen Siegmunds Brauen, welche mehrfach Erwähnung finden, scheinen auf einen tiefgründigeren Charakter zu verweisen als den des oberflächlichen Dandys und erinnern entfernt an die Hadesgestalten aus dem Tod in Venedig mit ihren teuflischen, wilden Zügen. Er ähnelt insbesondere dem Fremden auf dem Münchner Nordfriedhof, dessen Brauen wie tiefe Vgl. ebd. S.351. Vgl. Stefani Engelstein. „Sibling Incest and Cultural Voyeurism in Günderod's Udohla and Thomas Mann's Wälsungenblut“ In: German Quarterly 77. 2004. S.290. 134 Christine Oertel Sjögren. „The Variant Ending as a Clue to the Interpretation of Thomas Mann's Wälsungenblut“ In: Seminar. A Journal of Germanic Studies 14. 1997. S.102. 132 133

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Furchen zwischen seinen Augen stehen und zumindest andeutungsweise Teufelshörner symbolisieren. Wie dieser treiben es Siegmund und seine Geschwister teils auf die Spitze, aufs „Äußerste“: Sie sprachen gut, ihr Gebärdenspiel war nervös und anmaßend. Sie marschierten an der Spitze des Geschmacks und verlangten das äußerste. Sie gingen hinweg über das, was Absicht, Gesinnung, Traum und ringender Wille geblieben war, sie bestanden erbarmungslos auf dem Können, der Leistung, dem Erfolg im grausamen Wettstreit der Kräfte. (WB, S.437f.).

Als Freunde des gewählten Ausdrucks ähneln sie Hermes Trismegistos. Sie sind Anhänger des Intellektualismus und verhöhnen jedweden „Fehltritt der Leidenschaft.“ Wenn sie ihren Gesprächspartnern widersprechen, werden ihre Augen „zu blitzenden Ritzen“ dabei und „sie widersprachen vorzüglich“, das Wort, welches sie finden, ist „ein tödlich bezeichnendes, das schwirrte, traf und bebend im Schwarzen saß.“ (WB, S.439). Jene vorzügliche Rhetorik und kalte Intelligenz der Zwillinge schreibt Vaget ihrer jüdischen Abkunft zu.135 Die „zersetzende Qualität ihrer Intelligenz“ liest er als Stereotyp des gebildeten Juden und erliegt somit dem Glauben an weit verbreitete Klischees. Das Blut, welches die Familie vom Rest der Gesellschaft zu unterscheiden scheint, ist eines der zahlreichen Leitmotive der Novelle. Bereits zu Beginn der Novelle wird deutlich, dass die Kinder ihren Vater „für sein Blut“ verachten. Sie missbilligen den geschäftstüchtigen Erwerb seines Reichtums, den Inbegriff des jüdischen Klischees. Auf der anderen Seite scheinen sie stolz auf ihre jüdische Abkunft zu sein, da das Blut ihnen auch als Kriterium der Alterität gilt.136 Durch ihre Herkunft heben sie sich vom Rest der Gesellschaft ab und stellen eine Besonderheit in ihr dar. Die versuchte Assimilation und Integration in die Gesellschaft scheint allerdings als Nährboden der Dekadenz zu dienen und bedient somit wiederum jüdische Klischees. Interessant ist auch die Verbindung der Begriffe Blut und Blutschande. Letzterer wurde ursprünglich in dem Sinne des Inzests innerhalb ein und derselben Familie gebraucht. Später jedoch änderte sich seine Bedeutung und er bezeichnete die Fremdheirat, also die Abspaltung von der Familie. Der Begriff wurde somit in sein regelrechtes Gegenteil verkehrt, taucht in Wälsungenblut jedoch in beiden Bedeutungen auf. Sieglinde bringt in zweifacher Hinsicht Blutschande über ihre Familie, zum einen durch den Inzest mit ihrem Bruder, zum anderen aber auch durch die bevorstehende Heirat mit dem „Germanen“ Beckerath. Laut Engelstein schlägt der Versuch der Integration aufgrund der „twin's inability to interact with Hans Rudolf Vaget. „»Von hoffnungslos anderer Art« Thomas Manns Wälsungenblut im Lichte unserer Erfahrung“ In: Thomas Mann Studien 30. 2004. S.40. 136 Vgl. ebd. S.46. 135

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the culture around them“ fehl.137 In der Annahme, dass Sieglinde den Sohn ihres Bruders trägt, kann jene Heirat keine Brücke zwischen den Kulturen schlagen und das jüdische Blut bleibt Symbol der Alterität der Aarenhold-Zwillinge. Neben den Zügen der Wälsungen trägt das Geschwisterpaar weitere mythische Charaktermerkmale. So erinnert Siegmund häufig an den selbstverliebten Narziss, dem seine Selbstliebe zum tödlichen Verhängnis wird. Insbesondere vor der Opernaufführung verwendet der junge Mann mehrere Stunden auf seine Toilette, zu welcher ihm ein beleuchteter Schminkspiegel dient. Das Leitmotiv des Spiegels verweist auf den Zugang zur Unterwelt, auf die Erkenntnis der eigenen Person und die Selbstfindung, welche dem Protagonisten am Ende der Erzählung zuteil wird. Siegmund jedoch grenzt sich insofern von seinem mythischen Vorbild Narziss ab, da er mit dem Inzest aus der reinen Selbstliebe auszubrechen scheint. Das hier aufgegriffene Motiv des Spiegels begegnet uns auch bei den sich ähnelnden Pferden des Coupés oder den spiegelverkehrten Pfauen auf dem Kleid Sieglindes. Beide Elemente betonen die extreme Ähnlichkeit der Zwillinge, welche teils eine Einheit zu bilden scheinen. Von Interesse ist das Spiegel-Motiv auch insofern, als diesem Gegenstand nachgesagt wird, er offenbare einen Zugang zur Unterwelt. Vor allem im 20. Jahrhundert, etwa in den Filmen Jean Cocteaus, dient der Spiegel als Pforte zur Schattenwelt. Die Erfahrung und Erkundung des eigenen Ich, die Eigenliebe und Selbsterkenntnis wird mit der Erkundung des Jenseits in eins gesetzt. Diese Beziehung der Unterwelt mit der Selbsterkundung geht nicht zuletzt auf den Mythos um Narziss zurück, welcher aufgrund der Faszination, welche sein im Wasser gespiegeltes Ebenbild auf ihn ausübt, dem Tode und somit dem Schattenreich anheim fällt. Eine weitere Quelle für die Zwillingsfiguren stellt laut Sjögren die ägyptische Mythologie dar. So erinnert Siegmund aufgrund seiner gewählten Ausdrucksweise an den ägyptischen Gott Thot bzw. an Hermes Trismegistos, den Schirmherrn von Sprache und Literatur. Siegmund erinnere darüber hinaus an Osiris, den ägyptischen Gott des Totenreiches.138 Auch seine Schwester Sieglinde tritt im mythischen Gewand auf, wenn sie den ägyptischen Gottheiten verglichen wird, deren Merkmal perfekte Symmetrie, also Makellosigkeit war. Sie erscheint somit göttlich schön, aber zugleich im Dekor gefangen, statuesk, der Entwicklung ihres Wesens nicht fähig. Ähnlich wie die Schatten der homerischen Nekyia bleibt sie somit ein blasser, blutleerer Charakter. Stefani Engelstein. „Sibling Incest and cultural voyeurism in Günderod's Udohla and Thomas Manns Wälsungenblut“ S.293. 138 Christine Oertel Sjögren. „The Variant Ending as a Clue to the Interpretation of Thomas Mann's Wälsungenblut“ S.100. 137

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Andererseits weist Sieglinde Züge der Venus auf. Mehrfach wird betont, dass ihre Haut die Farbe von „Meerschaum“ habe. Auch ihr seegrünes Kleid und der Perlenschmuck, den sie trägt, legen nahe, dass Sieglinde von der Liebesgöttin inspiriert worden ist und somit auch als Verführerin ihres Bruders gelten kann. Neben Sieglinde erscheint auch Siegmund häufig als Figur des Dekors, die mehr Wert auf ihre Erscheinung legt als auf das Leben selbst: „Die Ausstattung des Lebens war so reich, so vielfach, so überladen, daß für das Leben selbst beinahe kein Platz blieb. (…) Der Tag war sein (…), und dennoch fand Siegmund in seinem Innern keine Zeit zu einem Wollen und Vollbringen – Er war kein Held.“ (WB, S.442f.). Wie Mechthild Curtius ausführt, drohen die Zwillinge im Dekor zu versinken und letztlich selber zum Dekor zu werden. „Die Einigung im Inzest ist hier in der Tat eine Rettung der 'Hoffnungslosen', um aus einem Leben im Zubehör aufzutauchen, und um nicht selbst Zubehör zu sein.“139 Wie später auch Leopold Bloom, zunächst als eine Art Anti-Held konzipiert, scheint Siegmund seinen mythischen Vorbildern wie Odysseus oder Aeneas daher zu Beginn der Erzählung entfremdet, erkennt aber durch die Reise in die Unterwelt seine Wünsche und Leidenschaften, die es ihm ermöglichen, durch den Inzest schöpferisch tätig zu werden.

2.2.3 Der Inzest – Schöpfertum aus Leidenschaft Unmittelbar nach der Walküre-Aufführung, berauscht von Kognak-Kirschen, Maraschinobohnen, Rotwein und Kaviar, insbesondere aber von der unfehlbaren Kraft der Wagnerischen Musik, sinkt Siegmund auf das Eisbärenfell in seinem Zimmer nieder. Als Sieglinde eintritt, spricht er „seltsam“ und „mit lahmen Lippen“ wie im Wahn: „Es trachtete sich in Logik zu kleiden, was er sagte, und kam doch gewagt und wunderlich, wie aus wirrem Traum.“ (WB, S.462). Das Erlebnis Wagners, ein Erlebnis der Leidenschaft, führt Siegmund in das hermetische Reich der Träume und entzieht ihn somit der vorherigen Beherrschung durch kühle Intelligenz und Logik. Dem Logos im herkömmlichen Sinne wird hier das Reich des Mythos gegenüber gestellt, in dessen Tiefen der Protagonist sich verliert. Auch Sieglinde vermag sich diesem Sog nicht zu entziehen, da ihres Bruders Worte, ähnlich wie in Mario und der Zauberer, infizierend wirken: „Seine Worte legten sich wie ein Nebel um ihren Sinn, zogen sie hinab...“ (WB, S.463). Mit dem Inzest scheint das Mechthild Curtius. Erotische Phantasien bei Thomas Mann. Wälsungenblut, Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull, Der Erwählte, Die vertauschten Köpfe, Joseph in Ägypten. Athenäum Verlag. Königstein. 1984. S.20. 139

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Zwillingspaar gemeinsam der Realität zu entfliehen und findet Zuflucht in den Weiten des Traumes, im Reiche ihres Unbewussten und ihrer sublimierten Sehnsüchte und Leidenschaften. Ähnlich den Traumbildern bleiben die Zwillinge dabei schemenhaft und abstrakt, auch weil Thomas Mann verschiedenste Mythologeme in der Konzeption seiner Figuren verknüpft. Bauschinger erklärt dies damit, dass Thomas Mann zu Anfang des Jahrhunderts noch eine „wesentlich ungenauere Vorstellung vom Mythos nutzte, um die Realität zu mythisieren und philosophische Schemata zu veranschaulichen.“140 Der Schluss der Erzählung, der Inzest des Zwillingspaares als Folge der Initiation Siegmunds, welche von der Walküre-Vorstellung auf den Helden ausgeht, hat viele Implikationen. AngressKlüger etwa liest ihn äußerst negativ und behauptet, die Erzählung sei in mehrfacher Hinsicht antisemitisch, da zum einen kreative und positiv gezeichnete Juden gänzlich fehlten, zum anderen der Inzest auf ein langjähriges Klischee verweise, dass nämlich Juden häufig dem Kindermord, dem Kannibalismus und dem Inzest frönten.141 Auch Thomas Mann lasse die Aarenhold Zwillinge ein Tabu brechen, um deren Grausamkeit und Fremdheit aufzuzeigen. Engelstein erkennt in dem Inzest ebenfalls die Fremdheit der Zwillinge, liest ihn aber zudem als Reaktion auf die Angst der Konfrontation mit „otherness“. Durch den Inzest bewahren die Geschwister die „purity of race“ 142 und betonen somit wiederum ihre Auserwähltheit. Wenn man den Inzest derart selbstreflexiv deutet, schließt sich Peter Thorslevs Überlegung an, dass die Zwillinge in ihrer Zurückgezogenheit dem Solipsismus huldigen, einer Denkrichtung, welche vor allem in der Romantik aufkam und die der Idee anhängt, dass der eigene Geist die einzige wahre Identität sei. Zudem wird das Motiv des Inzests während der Romantik häufig sehr positiv aufgefasst, idealisiert und voller Verständnis geschildert, da er eine neue Form der „tradition of courtly love“ darstellte. 143 Wälsungenblut zeugt folglich von Thomas Manns eingehender Auseinandersetzung mit den Ideen der Romantik, wenn er die Zwillinge Aarenhold, trotz ihrer Bemühungen um Etikette und Intellektualität, in ihren vermeintlichen Charakteren scheitern lässt und sie sich am Ende der Erzählung dem Gefühl zuwenden. Sigrid Bauschinger. „ »Völlig exceptionelle Kinder«. Vom Bürgerlich-Individuellen zum Mythisch-Typischen bei Thomas Mann.“ In: Wolfgang Paulsen (Hrsg.) Psychologie in der Literaturwissenschaft. Lothar Stiehm Verlag. Heidelberg. 1971. S.207. 141 Vgl. Ruth Angress-Klüger. „Jewish Characters in Thomas Mann's Fiction“ In: Horizonte. Festschrift für Herbert Lehnert zum 65. Geburtstag. Niemeyer Verlag. Tübingen. 1990. S.170ff. 142 Stefani Engelstein. „Sibling Incest and cultural Voyeurism in Günderod's Udohla and Thomas Mann's Wälsungenblut“ S.278. 143 Vgl. Peter L. Thorslev Jr. „Incest as Romantic Symbol“ In: Comparative Literature Studies 2. 1965. S.47ff. 140

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Der Inzest scheint dabei in mehrfacher Hinsicht positiv konnotiert zu sein, da er die Idee des Schöpfertums umsetzt und Siegmunds Leben somit einen neuen Sinn, eine Art Daseinsberechtigung verleiht. Diese positive Deutung wird dadurch bestärkt, dass der Inzest, vor allem in der griechischen Mythologie, als Privileg der Götter galt. Zeus etwa nahm seine Schwester Hera zur Frau. Auch Adelsfamilien hatten das Recht auf Inzest, um die „Reinheit“ der eigenen Nachkommenschaft zu sichern. Der Inzest fungiert in Wälsungenblut als Umsetzung der von Siegmund erlangten Erkenntnis, dass wahres Schöpfertum nur der Leidenschaft entstammen kann, dass um selber lebendig zu werden und das Leben zu erfahren, er sich seinen Gefühlen und seinem wahren Selbst stellen muss. Die Wagnerische Hadesfahrt in Wälsungenblut dient also der Auseinandersetzung und kritischen Reflektion mit aufkommenden philosophischen Moden des 20. Jahrhunderts, wie dem Ästhetizismus und Intellektualismus und bedeutet eine Rückbesinnung auf die Romantik, auf Sehnsüchte, Leidenschaft und Erkenntnis des Selbst. Erst das Schauen der Tiefen des (musikalischen) Rausches ermöglicht den Protagonisten, ebenso wie dem Leser, das Erkennen des Lebens und die Möglichkeit auf eigenes Schöpfertum.

2.3 Höllenmotivik in Mario und der Zauberer 2.3.1 Torre di Venere – Topographie der Hölle Die 1930 erschienene Novelle Mario und der Zauberer gliedert sich in zwei Teile. Der erste Teil beschreibt den Italienaufenthalt des Erzählers und seiner Familie sowie den im Lande aufkommenden

Nationalismus.

Der

weit

umfangreichere

zweite

Teil

wird

von

den

Zaubervorführungen Cipollas eingenommen, der als Sinnbild der umschlagenden, politischen Stimmung gelten darf und daher allegorischen Charakter trägt. Schauplatz der Handlung ist hierbei Torre di Venere, dessen Namen Thomas Mann ganz bewusst kreierte. Zu Deutsch bedeutet der Ortsname „Turm der Venus“ und mutet folglich zum einen phallisch an, zum anderen verweist er auf den Venusberg bzw. den Sybillenberg, welcher als Ort der Verdammnis gilt.144 Das Toponym deutet bereits auf das tragische Geschehen, auf welches auch der Erzähler ganz explizit verweist, hin. Ulrich Müller; Werner Wunderlich (Hrsg.). Verführer, Schurken, Magier. UVK-Fachverlag für Wissenschaft und Studium. Sankt Gallen. 2001. S.977. 144

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Auch wenn der Erzählung eine wahre Begebenheit zugrunde liegt, evoziert die Verortung der Handlung in Italien eine dämonische Kulisse, da Thomas Mann häufig südliche Länder wählte, um eine „Fahrt in die Grube“ oder eine Begegnung mit dem Teufel darzustellen. 145 Dieser Umstand mag auf die Tradition der Hades- und Höllenvorstellung deuten, welche ihren Ausgang in Südosteuropa bzw. Ägypten nahmen und erst über die Jahrhunderte hinweg in den Norden überliefert wurden. Er rührt aber vor allem daher, dass vulkanreiche Regionen, wie der Süden Italiens, häufig als Zugang zur Unterwelt angesehen wurden.146 Den Umständen entsprechend empfindet der Erzähler die Atmosphäre des Ortes als unangenehm. Dies drückt sich zunächst in den klimatischen Verhältnissen aus. Die „afrikanische Schreckensherrschaft der Sonne“ scheint unumschränkt und resultiert in einer glühenden Leere des Himmels, ein Sinnbild für die vermeintliche Stumpfsinnigkeit der Südländer und ihren Mangel an kühlem Intellekt. Hinzu kommt das „zankende Badevolk“, von welchem nicht einmal die Kinder ausgenommen werden. Selbst diese treten streitsüchtig und nationalistisch auf. Es scheint ihnen an Unschuld und Zwanglosigkeit zu mangeln. Stattdessen schwingen sie Reden von der Größe und Würde Italiens. Mehrere Vorkommnisse erhärten den Verdacht der Fremdenfeindlichkeit. So etwa der Quartierwechsel, welchen die deutsche Familie aufgrund des Keuchhustens der Kinder über sich ergehen lassen muss. Auch die Tatsache, dass die kurzzeitige Nacktheit der achtjährigen Tochter Aufsehen und Empörung hervorruft, da sie als Verstoß gegen die nationale Würde Italiens gedeutet wird, fällt darunter. Die Beanstandungen der Hotelleitung sowie des italienischen Badevolkes gleichen somit einem Missbrauch der Macht. Ungerechtigkeit und Korruption walten im Umgang mit den fremdländischen Besuchern. Der Keuchhusten der Kinder kann dabei als eine Art Sinnbild für den Nationalismus angesehen werden, da letzterer einer Krankheit gleichkommt, welche akustisch, durch Worte und Parolen, übertragen wird. 147 Wie schon im Tod in Venedig wird daher die Abreise erwogen, jedoch umgehend wieder verworfen: Soll man »abreisen«, wenn das Leben sich ein bisschen unheimlich, nicht ganz geheuer oder etwas peinlich und kränkend anlässt? Nein doch, man soll bleiben, soll sich das ansehen und sich dem aussetzen, gerade dabei gibt es vielleicht etwas zu lernen. Wir blieben also und erlebten als schrecklichen Lohn unserer Standhaftigkeit die eindrucksvoll-unselige Erscheinung Cipollas. (MZ, S.701).

Mit dem Auftreten dieses „unseligen“, ja seelenlosen Gesellen unterliegen auch die klimatischen Verhältnisse einem abrupten Wechsel. Der Veranstaltung geht eine kaum erträgliche, stickige Harry Matter. „Mario und der Zauberer. Die Bedeutung der Novelle im Schaffen Thomas Manns.“ In: Weimarer Beiträge 6. 1960. S.588. 146 Vgl. Georges Minois. Histoire des enfers. S.55. 147 Vgl. hierzu Eva Geulen. „Resistance and Representation: A Case Study of Thomas Mann's Mario and the Magician“ In: New German Critique 68. 1996. S.26. 145

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Sciroccoschwüle voraus, welche die „offene Glut“ der italienischen Sonne ablöst und die auf eine bevorstehende Entladung der Spannungen im Ort verweist. Von den Kindern überredet, bricht die Familie rechtzeitig auf, die Vorstellung zu besuchen. Wie Margarete Rehfeld feststellt, führt jener Weg zum Zirkus, in dem Cipolla auftritt, vom Feudalen, über das Bürgerliche bis hin zum eher Volkstümlichen und nimmt somit schon den Abstieg in ideologische, nationalistisch geprägte Gefilde vorweg. 148

2.3.2 Cipollas Zauber – Teuflische Magie Im Saal angekommen, wirkt die Bühne etwas ungewöhnlich auf den Erzähler, da das Podium Cipollas eher einer Schulstube als einer Zauberkulisse ähnelt, ein möglicher Verweis auf Fausts Studierzimmer, in welchem Mephistopheles zuweilen waltet und junge Studenten an der Nase herumführt. Die Kulisse bedeutet dem Publikum vor allem, dass der Magier es belehren möchte. Wenn er ihm im Folgenden seinen Willen aufzwingt, instruiert er es, dass die Willensfreiheit lediglich eine Illusion sei. Mehrfach wurde über den Namen des Cavalieres spekuliert. Cipolla heißt zu deutsch „Zwiebel“ und ist in Italien eigentlich kein gängiger Vorname. Zum einen könnte die Wahl Thomas Manns also dem Zweck dienen, die Banalität, fast möchte man sagen Lächerlichkeit des verwachsenen Hypnotiseurs zu unterstreichen, zum anderen könnte er sich in der Wahl des Namens aber auch von Boccaccio inspiriert haben lassen.149 In dessen Decamerone ist Cipolla der Name eines betrügerischen Predigers, der sich mit falschen Reliquien zu bereichern sucht. Darüber hinaus gilt die Zwiebel aber auch als Symbol der Vielschichtigkeit und unterstreicht die psychologischen Abgründe des Cavalieres ebenso wie sein Talent, seine Opfer vorzuführen und bloßzustellen. Um die Spannung auf die Spitze zu treiben, lässt der Zauberer sich geraume Zeit, ehe er mit der Zaubervorführung beginnt. Erst spät, nachdem das Publikum ungeduldig anfängt zu applaudieren, betritt er im unterwürfigen Laufschritt die Bühne. Seine Erscheinung jedoch ist alles andere als bezaubernd:

Margarete Rehfeld-Kiefer. Groteske Züge in der Personengestaltung der mittleren und späten Werke Thomas Manns. Inauguraldissertation. Marburg. Schön Verlag. München. 1965. 149 Hans Rudolf Vaget. Thomas Mann. Kommentar zu sämtlichen Erzählungen. Winkler Verlag. München. 1984. S.220f. 148

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Ich muss betonen, dass von persönlicher Scherzhaftigkeit oder gar Clownerie in seiner Haltung, seinen Mienen, seinem Benehmen nicht im geringsten die Rede sein konnte; vielmehr sprachen strenge Ernsthaftigkeit, Ablehnung alles Humoristischen, ein gelegentlich übellauniger Stolz, auch jene gewisse Würde und Selbstgefälligkeit des Krüppels daraus. (MZ, S.706).

Wie schon die Hadesgestalten im Tod in Venedig, ist das Gesicht des Magiers zudem durch äußerst „zurückgezogene Lippen“ gekennzeichnet, laut Freese ein Hinweis auf die „Widerstandskraft des Robusten“.150 Fraglich bleibt allerdings, ob Cipolla tatsächlich so stark ist, wie er zu sein vorgibt oder ob sein Streben nach Macht und Beherrschung nicht eher Ausdruck eines Komplexes ist. Da Cipollas Körper verwachsen ist, würde auch dies sicher nicht Wunder nehmen. Seine Behinderung könnte zudem als moderne Variante des dem Teufel zugeschriebenen Pferdefußes gedeutet werden. Als Abkömmling der Hölle entpuppt der Hypnotiseur sich in mehrfacher Hinsicht, etwa wenn er den jungen und etwas vorlauten „giovanotto“ auffordert, sich vor Krämpfen zu krümmen: „Indem er dies Wort für Wort mit ruhiger Eindringlichkeit und einer Art strenger Teilnahme sprach, schienen seine Augen, in die des jungen Menschen getaucht, über ihren Tränensäcken zugleich welk und brennend zu werden, - es waren sehr sonderbare Augen.“ (MZ, S.716f.). Die seltsam anmutenden, brennenden Augen des Magiers lassen auf einen teuflischen Charakter schließen, wie auch Allan J. McIntyre nahelegt, wenn er Cipolla als „quintessence of evil“ und den Umstand, dass er dem Publikum seinen Willen aufzwingen will, als „devilish work“ bezeichnet. 151 Cipollas Show scheint sich zunächst auf die Vorführung und das Lächerlichmachen einzelner Personen zu beschränken, aber schon sehr bald werden die politischen Implikationen seines Handelns deutlich. Der Hypnotiseur ergeht sich in Ausführungen über den freien Willen und betont, dass dieser nicht existiere: „Die Freiheit existiert und auch der Wille existiert; aber die Willensfreiheit existiert nicht, denn ein Wille, der sich auf seine Freiheit richtet, stößt ins Leere.“ (MZ, S.721). Er drängt das Publikum daher, seinen Widerstand aufzugeben und sich seinem Willen zu unterwerfen. Dabei stellt er jene Lösung gar als eine Art Erlösung der Anwesenden dar. Gegenüber dem vorlauten Giovanotto etwa betont er zu Anfang seiner Vorstellung: „Es müßte bequem und lustig sein, nicht immer so den ganzen Kerl spielen und für beides aufkommen zu müssen, das Wollen und das Tun.“ Der Höhepunkt seiner Dialektik jedoch folgt erst später, wenn er Befehlen und Gehorchen als zwei Kehrseiten derselben Medaille darstellt: Der eine Gedanke sei in dem anderen einbegriffen, wie Volk und Führer ineinander einbegriffen seien, aber die Leistung, die äußerst strenge und aufreibende Leistung, sei jedenfalls seine, des Führers und Veranstalters, in welchem der Wille Gehorsam, der Gehorsam Wille werde, dessen Person die Geburtsstätte beider sei, und der es also sehr schwer habe. (MZ, S.723). Wolfgang Freese. „Thomas Mann und sein Leser. Zum Verhältnis von Antifaschismus und Leseerwartung in Mario und der Zauberer“ In: DVJS 51. 1977. S.671. 151 Allan J. McIntyre. „Determinism in Mario and the Magician“ In: Germanic Review 52. 1977. S.207f. 150

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Wie an dieser und mehrfacher Stelle deutlich wird, fungiert Cipolla hier als brillanter Rhetoriker, welcher seine Redfertigkeit dazu nutzt, das Publikum in seinen Bann zu schlagen und regelrecht zu verführen.152 Somit geriert auch er sich als Hermes Trismegistos, welcher als Sinnbild und Schirmherr klassischer Rhetorik und Sprachgewandtheit gilt. Freese betont, dass Cipolla zudem, wie schon die Schlange im Garten Eden, als Personifikation des Verführers gelten kann, da das Lauschen im Werk Thomas Manns meist die Funktion des Verführtwerdens impliziere. Jene Verführung wird ihm jedoch nicht nur durch seine brillante Rhetorik, sondern auch durch sein „special knowledge of human nature“153 ermöglicht. Seine Einsicht in die Seelen der Menschen, in deren Schwächen und Vergangenheit, erlauben es ihm, Macht über das Publikum zu gewinnen und seinen Willen nach Belieben zu oktroyieren. Auch jenes Wissen um die menschlichen Schwächen scheint sich auf dämonische Fähigkeiten zu gründen, bedenkt man, dass bereits Mephistopheles Faust stets in seinen schwachen, zweiflerischen Momenten aufsucht, in welchen Geist und Seele leichter einnehmbar sind. Wenn Cipolla seine Opfer bloßstellt, indem er ihre Geheimnisse und ihre Wünsche

preisgibt,

unterwirft

er

sie

einem

regelrechten

„Seelenstriptease“,

der

die

Zurschaustellung ihres Innersten und ihres Unbewussten zur Folge hat. Um das Publikum in seinem Bann zu halten, bedarf es allerdings einiger Hilfsmittel. Der Cavaliere stärkt sich regelmäßig durch den Konsum von Cognac und Zigaretten. Ein weiteres Mal setzt Thomas Mann hier gezielt das Motiv der Intoxikation ein, welche die teuflische Gestalt bei Laune und Kräften hält. Nur mithilfe jener Mittel gelingt es Cipolla, auch sein Publikum in die hypnotische Hölle zu entführen. Ein weitaus effektiveres Attribut scheint jedoch noch seine Reitpeitsche zu sein, „der Stab der Kirke“, welcher gegen Ende der Vorstellung unumschränkt herrscht. Jenes „beleidigende Symbol seiner Herrschaft“ hilft ihm, das Publikum, und wie die Nachahmung des Peitschen-Geräusches vermuten lässt, selbst den Erzähler, in seinen Bann zu schlagen. Mithilfe der Peitsche versetzt und erlöst Cipolla Menschen in bzw. aus der Hypnose. Jene Insignien seiner Macht sowie sein außerordentliches Talent erzeugen eine eigentümliche Atmosphäre im Saal. Die Stimmung ist „merkwürdig, spannend, unbehaglich, kränkend und bedrückend“, wie im Ort Torre di Venere überhaupt.

Vgl. hierzu auch Stefan Bodo Würffel. „Die Macht zu verführen“ In: Thomas Mann Studien 33. 2005. S.204ff. George Bridges. „Thomas Manns Mario und der Zauberer: 'Aber zum Donnerwetter! Deshalb bringt man doch niemand um!' “ In: German Quarterly 64 1991. S.507. 152 153

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2.3.3 Cipolla als Allegorie des faschistischen Machtanspruchs Die Motivation des Zauberers scheint vor allem ein aus seinen Verwachsungen resultierender Minderwertigkeitskomplex zu sein. Durch die (sexuelle) Unterwerfung des Publiku*ms gleicht er einen zu vermutenden Mangel an eigenen sexuellen Erfolgen aus. Hartmut Böhme spricht hier von „sado-masoch*stischen Triebkomponenten“, welche als Antrieb für Cipollas Herrschsucht gelten dürfen.154 Das Einzige, was Wunder nimmt, bleibt die Rolle des Publiku*ms bzw. dessen Bereitwilligkeit, sich in die Opferrolle zu begeben und sich nach Belieben zu unterwerfen. Es scheint, als handele es sich hierbei um eine „masoch*stische Unterwerfungslust (der Masse) unter eine 'mythische' Superautorität.“155 Cipolla wird als absoluter Führer anerkannt und sein Wille bedingungslos ausgeführt. Fast scheint es, als übernehme er gar die Rolle eines Götzen, welchem in blinder Idolatrie gefolgt wird. Diese Überhöhung des Magiers bedeutet zugleich seine Mythisierung, eine Erhebung zum Idol oder zu einem Heroen, dessen Wille zum Willen aller wird. Cipolla bietet somit großes Identifikationspotential für das Publikum, wird jedoch kurz darauf wieder entmythisiert, wenn Mario ihn erschießt und seine Gestalt zu einem „durcheinandergeworfene(n) Bündel Kleider und schiefer Knochen“ werden lässt. Nach dem Aufstieg des Zauberers kommt es zu einem Fall, der an den Höllensturz Luzifers erinnert und ihn somit wiederum als Abkömmling der Hölle auszeichnet. Der Tod Cipollas kommt einer Entmythisierung desselben gleich, welche vor allem als Befreiung empfunden wird, als Akt der Humanisierung. Hier klingt ganz deutlich Thomas Manns Wille an, den

Mythos

den

faschistischen

Machthabern

zu

entreißen

und

ihn

ins

Humane

umzufunktionieren.156 Thomas Mann hofft, später vor allem mit dem Doktor Faustus, die völkischen Mythen, welche zu Beginn des 20. Jahrhunderts durch die Bildung der Nationalstaaten vermehrte Popularität und Anhängerschaft finden, zu entzaubern und zu dekonstruieren. Der Mythos einer Nation ebenso wie der Mythos einer Gallionsfigur dieser Nation erfährt eine düstere Ironisierung, um einem Mythosbild zu weichen, welches das Verbindende im Menschen und damit das Verbindende zwischen den Kulturen aufzeigt, ein Mythos des Menschen und der Humanität. Auf der Höhe von Cipollas Triumph, nach der Unterwerfung Frau Angiolieris und des störrischen Herrn aus Rom, scheint das Publikum in orgiastischer Stimmung. „Es brachte eine gewisse Hartmut Böhme. „Thomas Mann. Mario und der Zauberer. Position der Erzählers und Psychologie der Herrschaft“ In: Hermann Kurzke (Hrsg.). Stationen der Thomas Mann Forschung. Königshausen & Neumann. Würzburg. 1985. S.182. 155 Ebd. S.186. 156 Vgl. Karl Kerényi. Thomas Mann – Karl Kerényi. Gespräch in Briefen. S.100. 154

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Ausartung, ein gewisses spätnächtliches Drunter und Drüber der Gemüter, eine trunkene Auflösung der kritischen Widerstände mit sich, die so lange dem Wirken des unangenehmen Mannes entgegengestanden waren.“ (MZ, S.732). In dem Moment, in dem der Cavaliere auf dem Höhepunkt seiner Macht zu sein scheint, überspannt er den Bogen mit der vollkommenen Entwürdigung des Kellners Mario aufs Empfindlichste. Ihn in den Glauben versetzend, er sei seine Angebetete, Sylvestra, zwingt er den jungen Mann, sein welkes Fleisch, seine Wange zu küssen. „Der Augenblick war grotesk, ungeheuerlich und spannend, - der Augenblick von Marios Seligkeit.“ (MZ,S.741). Cipollas Motivation für diese Grenzüberschreitung, so wird häufig gemutmaßt, sei die eigene unbefriedigte hom*osexualität, welche aufgrund des Mordes als Thomas Manns Abrechnung mit und Verdrängung der eigenen hom*osexuellen Neigungen gedeutet worden ist.157 Da auch Thomas Mann in seiner Familie als „Der Zauberer“ bekannt war, bietet sich ein autobiographischer Bezug an. Dieser ist aber vor allem in der wortgewandten Rhetorik Cipollas zu finden, welche das Publikum, ebenso wie die Leserschaft, in ihren Bann schlägt. Wie Vaget ausführt, ist die hom*osexualität hier eher die Achillesferse Cipollas, welche seine Macht zuschanden werden lässt.158 Aufgrund seines Hungers nach körperlicher Berührung und Zuneigung muss Cipolla sterben; er wird von der Thomas-Mann-Forschung daher mehrfach als Opfer seiner Triebe und Bedürfnisse gelesen. Auffällig ist auch das dem Kuss sich anschließende äußerst brutale Lachen des Giovanotto. Es erinnert zum einen an den Buffo aus dem Tod in Venedig, welcher sein Publikum verlacht, zum anderen an die skurrile Lachlust Adrian Leverkühns, auf die in Kapitel 2.6 näher eingegangen wird. In jedem Fall scheint das Hohngelächter teuflischen Charakters zu sein und treibt die Erniedrigung Marios auf die Spitze. Sowohl Mario als auch Cipolla wurden von der Thomas-Mann-Forschung mit der Philosophie Schopenhauers in Zusammenhang gebracht. Wie McIntyre betont, vereinigt der Kellner den Willen des Publiku*ms auf sich, wenn er Cipollas groteske Vorstellung beendet, indem er den Hypnotiseur niederschießt.159 Dies scheint vor allem dadurch bekräftigt zu werden, dass auch der Erzähler das Ende als ein „befreiendes“ empfindet. Auch er fühlt sich immer wieder von der Person Cipollas abgestoßen und bedauert vor allem, die Kinder mitgenommen zu haben, da diese besonders leicht zu beeindrucken sind. Er erkennt die Gefahr, welche Cipolla für das Publikum darstellt, ist aber Vgl. George Bridges. „Thomas Manns Mario und der Zauberer: 'Aber zum Donnerwetter! Deshalb bringt man doch niemand um!' “ S.509. 158 Hans Rudolf Vaget. Thomas Mann. Kommentar zu sämtlichen Erzählungen. S.227. 159 Vgl. Allan J. McIntyre. „Determinism in Mario and the Magician“ S.210. 157

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selbst derart fasziniert von der Vorstellung des Zauberers, dass er den Bann der Hypnose nicht zu brechen vermag. Zudem ist die Person des Erzählers insofern interessant, als sie während der gesamten Erzählung äußerst anonym bleibt. Der Leser erhält beinahe keine Informationen über dessen Familie und auch der Familienvater selber wird nur schemenhaft skizziert. Man kann hier also von einer Typisierung des Erzählers sprechen, welche der Individualisierung des 20. Jahrhunderts gegenübergestellt wird, und in der Mannschen Terminologie stets auch mit einer Mythisierung in Verbindung zu bringen ist, da das Typische für Mann immer auch schon das Mythische impliziert.160 Durch die grobe Zeichnung des Protagonisten ist eine breite Basis für eine Leseridentifikation geschaffen und er wird zu einer mythischen Gestalt verklärt. Der von Schopenhauer beschriebene Weltenwille wird aber vor allem von Cipolla selbst beansprucht, da dieser, wie er ausführt, seinen Willen auf das Publikum überträgt, und dieses somit in einem einzigen Willen aufgehen lässt. Wie Böhme ausführt, wird aber insbesondere Cipolla bzw. dessen Gewaltherrschaft durch die fatalistische Teleologie der Erzählung mythisiert. 161 Hierfür sprechen tatsächlich die sich immer weiter zuspitzende Folge der nationalistischen Vorkommnisse sowie die drückende Schwüle. Die Vorstellung und das Auftreten Cipollas erscheinen fast als notwendige Konsequenz, als krönender Abschluss der Zurschaustellung des in Italien um sich greifenden Faschismus. Anfangs scheute Thomas Mann sich, diese politische Dimension der Novelle einzugestehen. In späteren Briefen jedoch erläutert er, dass die Erzählung „eine stark ins Politische hinüberspielende Geschichte (sei), die mit der Psychologie des Faschismus und derjenigen der 'Freiheit', ihrer Willensleere, die sie gegen den robusten Willen des Gegners so sehr in Nachteil setzt, innerlich beschäftigt ist.“ 162 Entstanden war Mario und der Zauberer zwar aus einer autobiographischen Begebenheit, welche sich einige Jahre vor dem Verfassen der Novelle in Forte dei Marmi zugetragen hatte, jedoch erwuchs Thomas Mann daraus Politisches. Den aufkommenden Nationalismus des Badeortes deutete er vor allem als Folge „einer gewissen Romantik, auf der ja wohl der ganze Nationalsozialismus und alle seine Gesten und Sprüche aufgebaut sind.“163 Dies impliziert eine heftige Kritik an der Romantik, da sie den Ideen des Völkischen und Nationalistischen anhängt, dem Gefühl und einer Ästhetisierung, welche eine Verrohung und eine Tendenz zum Antiintellektualismus erkennen lässt. Wie schon im Tod in Venedig wird die Romantik hier als eine Epoche vorgestellt, deren teils verklärtes und fatales Ideengut das Europa des 20. Jahrhunderts in seinem Denken und Handeln noch immer bestimmt. Vgl. Thomas Mann. „Freud und die Zukunft“ S.29. Vgl. Hartmut Böhme. „Thomas Mann: Mario und der Zauberer. Position des Erzählers und Psychologie der Herrschaft“ S.187. 162 Vgl. Harry Matter. „Mario und der Zauberer. Die Bedeutung der Novelle im Schaffen Thomas Manns“ S.596. 163 Vgl. Hans Rudolf Vaget. Thomas Mann. Kommentar zu sämtlichen Erzählungen. S.226. 160 161

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Durch die Verbindung von Mythos und Psychologie bemüht sich der Autor, die Defizite der romantischen Weltsicht aufzuzeigen und an ihrer Stelle einen neuen Mythos der Humanität zu begründen.

2.4 Unterweltliche Motive in Die Betrogene Die letzte Erzählung Thomas Manns, Die Betrogene, beschreibt die Hadesfahrt nicht als einen politschen, sondern als einen allgemeinmenschlichen Topos, der eng mit der Verbindung von Liebe und Tod verknüpft ist. Adorno betont, dass Die Betrogene die Ambivalenz dieses Motivkomplexes um Eros und Thanatos, die schon in den Tod in Venedig Eingang gefunden hatte, besonders gut zur Geltung komme.164 Die Geschichte Rosalie Tümmlers nun scheint jedoch deutlicher als Der Tod in Venedig auf eine Versöhnung der Antagonismen von Geist und Natur hinzulaufen, da die Protagonistin nach kurzem Kampf ihre Krankheit und ihren Tod als Mittel der Natur akzeptiert. 165

2.4.1 Anna – eine teuflische Figur? Betrachtet man die Figurenkonstellation in Die Betrogene, so fällt zunächst die Verschiedenheit der Charaktere auf. Anna, die Tochter Rosalies, fungiert als regelrechtes Gegenbild zu ihrer Mutter. Noch jung an Jahren, ist ihr „Blick von sinnender Kühle“ (DB, S.908). Ein Klumpfuß, welcher an Professor Schleppfuß im Doktor Faustus erinnert, schließt sie von jeglichem jugendlichen Leben aus, da sie weder Tanz noch Sport nachgehen kann. Daher entscheidet sich die ungewöhnlich intelligente Anna für ein Leben im Zeichen der Kunst. In ihrer Malerei, der sie an der Kunsthochschule Düsseldorf nachgeht, verhöhnt sie die Natur, welche ihre Mutter so sehr liebt. Ihre Bilder sind „streng gedanklich“ und „abstrakt symbolisch“. Sie verspottet das Leben sowie die Natur aufgrund der Enttäuschungen, die sie zeit ihres Lebens hat erleiden müssen. Ein einziges Mal hat sie geliebt, wurde jedoch zugunsten eines reicheren Mädchens sitzen gelassen und fühlt sich seither um ihr Glück und ihre Jugend betrogen. Die Tochter Rosalies scheint Züge des Teufels zu tragen, wie vor allem das traditionelle, mittelalterliche Motiv des Klumpfußes als Attribut desselben verdeutlicht. Aber auch ihr Vgl. Theodor W. Adorno. „Aus einem Brief über Die Betrogene an Thomas Mann“ In: Akzente. Zeitschrift für Literatur 2. 1955. S.284. 165 Vgl. hierzu auch Hans Rudolf Vaget. „Die Betrogene“ In: Helmut Koopmann (Hrsg.). Thomas Mann Handbuch. 3. aktualisierte Auflage. Alfred Kröner Verlag. Stuttgart. 2001. S.617. 164

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messerscharfer Verstand und ihre strenge Gefühlskälte, welche auch bei Adrian Leverkühn von Bedeutung sind, tragen zu dem Eindruck bei, dass sie, die die Schöpfung verschmäht, infernalischen Charakters ist. Trotz der extremen Verschiedenheit ihrer Persönlichkeiten nimmt Rosalie großen Anteil an der Person ihrer Tochter und scheint deren distanzierte Sicht auf die Dinge zu schätzen. Ganz anders verhält es sich mit ihrem rothaarigen Sohn Eduard, dessen eher einfachem Gemüt sie wenig abgewinnen kann. So ist es denn auch Anna, welche Rosalie zumeist auf ihren Spaziergängen durch die Natur begleitet. Einem jener Frühlingsspaziergänge, welche die beiden häufig unternehmen, kommt eine ganz besondere Funktion zu, da schon hier das Täuschungsmotiv, welches die Novelle bestimmt, vorweggenommen wird und auf Rosalies Tod hindeutet.166 Zunächst passieren Mutter und Tochter einen Abhang voller Wohlgeruch, eine Art Bodenfalte, welche einen Abgrund der Natur auftut und zusammen mit der Konnotation des „feucht-warmen Juni“ an die weibliche Sexualität denken lässt. Es scheint, als spiegele sich schon hier Rosalies aufkeimende Liebe zu dem jungen Englischlehrer ihres Sohnes, Ken Keaton. Kurz darauf finden die beiden Frauen die Luft von einem penetranten Moschusgeruch durchzogen, welcher vom Leben selber zu zeugen scheint. Genau das Gegenteil jedoch ist der Fall. Wie sie zu ihrem Schrecken feststellen müssen, entströmt der Geruch einem Häufchen

„Tierexkremente(n),

oder

auch

menschliche,

mit

faulig

Pflanzlichem

zusammengekommen, und der weit schon verweste Kadaver irgendeines kleinen Waldgeschöpfes war auch wohl dabei. Kurz, fieser konnte nichts sein, als dies brütende Häufchen.“ (DB, S.916). Der an das Leben erinnernde Duft entstammt also in Wahrheit dem Tode und verweist somit schon auf Rosalies Blutsturz, welchen sie selber für die Rückkehr ihrer Periode hält, der tatsächlich aber Symptom ihres Gebärmutterkrebses ist. Wie auch im Doktor Faustus entwickelt Mann in Die Betrogene das Thema der engen Verwandtschaft von Leben und Krankheit bzw. Tod. Anfangs realisiert Rosalie diese Nähe jedoch nicht und hält ihren Blutsturz für ein Zeichen des wiederkehrenden Lebens und der wieder aufkeimenden Jugend. Sie kommt gar zu dem Schluss, dass ihre Seele sich als Meisterin über ihren Körper erweise, indem ihr Fruchtbarkeitswunsch gewährt wird und sie sich wieder als „ganze Frau“ fühlen kann (DB, S.950/951). Anna hingegen vermutet, dass der Vorfall „eine kleine Verwirrung“ der Natur sei, da diese „eine anmutige Neigung zur Zweideutigkeit und Mystifikation“ habe (DB, S.962). Nicht von ungefähr glichen sich Krokus und Herbstzeitlose derart, dass sie leicht zu verwechseln seien. Rosalies kluge Tochter erinnert hier stark an den Humanisten Settembrini, welcher die Natur ebenfalls als böses und mythisches Prinzip auffasst. Vgl. Mario Szenessy. „Über Thomas Manns Die Betrogene“ In: DVJS 40. 1966. S.245.

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2.4.2. Der Ausflug nach Schloss Holterhof Deuten sich auf den ersten Seiten der Novelle schon Motive der Hades- und Höllenvorstellungen früherer Epochen an, so werden diese gegen Ende der Novelle zur Gänze entfaltet. Erst der von Rosalie vorgeschlagene Familienausflug nach Schloß Holterhof kann als eigentliche Hadesfahrt der Moderne gedeutet werden. Wie Vaget ausführt, handelt es sich hierbei um eine für Mann typische Montage des mythischen Apparates der Unterweltsfahrt.167 Schon auf dem Motorboot, welches die Gesellschaft über den Rhein den Schlossanlagen zuführt, findet sich die erste Hadesgestalt, welche an den Fährmann Charon erinnert. Die Physiognomie des Schiffführers zeichnet sich insbesondere durch einen roten Schifferbart unter dem Kinn aus, welcher an mittelalterliche Vorstellungen des Teufels anknüpft. Titus Heydenreich spricht gar von einer „christlich-spätromantischen Satanismus geförderte(n) Höllenkomponente.“168 Wie Schoolfield anmerkt, suggeriere das fremdartige und wilde Gepräge des Fährmanns zudem „betrayal and death.“ 169 Kurz darauf findet ein Mythologem, das der griechischen Hadesvorstellung entlehnt ist, Eingang in den Text, wenn Rosalie den Reiz der Wasserfahrt genießt und eine Ode an den Wind anstimmt. Wie auch schon im Tod in Venedig drängt sich die Vorstellung des Liebe bringenden Zephirs auf, dessen Dienste Aphrodite beansprucht, aber auch die Vorstellung der zwitterhaften Harpyien, welche Todgeweihte dem Hades zuführen. Ebenso wie die Erzählung als solche, vereint die Metapher der Windgeister folglich die Begriffe Eros und Thanatos auf sich. Bereits die Bootsfahrt legt folglich nahe, dass der Ausflug zum Schloss Holterhof einer Hades- oder Charonsfahrt gleichkommt,170 welche Rosalie in die Fänge des Todes treiben wird. Am Zielort angekommen, fungiert die sonst so kühle und besonnene Anna, entgegen ihrer Überzeugung, dass die Liebe Rosalies nichts als eine fixe Idee sei, als Gelegenheitsmacherin. Indem sie ihren Bruder Eduard zu sich ruft, ermöglicht sie ihrer Mutter traute Zweisamkeit mit dem jungen Ken Keaton, an dessen Arm diese sich durch den Schlosspark führen lässt. Im Park findet sich denn auch ein weiteres Eros-Thanatos Emblem,171 nämlich die Schwarzen Schwäne, welche anmutig-stolz über den See dahingleiten. Heydenreich deutet die Tiere als Ausdruck von Rosalies heimlicher Todes- und Liebessehnsucht.172 Angesichts ihrer Liebe zum Hans Rudolf Vaget. „Die Betrogene“ S.612. Titus Heydenreich. „Eros in der Unterwelt“ In: Eberhard Leube (Hrsg.). Interpretation und Vergleich. Festschrift für Walter Pabst. Schmidt Verlag. Berlin. 1972. S.84. 169 George C. Schoolfield. „Thomas Manns Die Betrogene“ In: Germanic Review 38. 1963. S.111. 170 Vgl. Volkmar Hansen. „Das Brot der schwarzen Schwäne. Schloß Benrath und Düsseldorf in Thomas Manns Erzählung Die Betrogene“ In: Bilanz Düsseldorf '45. Kultur und Gesellschaft von 1933 bis in die Nachkriegszeit. Hrsg. von G. Cepl-Kaufmann, W. Hartkopf und W. Meiszies unter Mitarbeit von M. Matzigkeit. Grupello. Düsseldorf. 1992. S.387. 171 Vgl. Volkmar Hansen. „Das Brot der schwarzen Schwäne“ S.390. 172 Vgl. Titus Heydenreich. „Eros in der Unterwelt“ S.85. 167 168

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Leben scheint dies jedoch eine etwas weitgreifende Vermutung zu sein. Wenn Rosalie am Ende der Novelle den Tod als Bestandteil und gar Mittel des Lebens begreift, so scheint es ihr während des Ausflugs noch um ihren verzweifelten Hang zum Leben zu gehen. Der Wille zum Leben manifestiert sich unter anderem in dem Verzehr des von Ken Keatons Körper gewärmten Brotes. Aufgrund des biblischen Tenors dieser Passage scheint es beinahe, als verehre Rosalie den Englischlehrer auf eine religiöse Art und Weise, als esse sie von seinem Leib aufgrund ihrer blinden Idolatrie. Um einen Teil seines Brotes betrogen, reagiert einer der Schwäne äußerst aggressiv. Er schlägt mit den Flügeln und zischt Rosalie böse an, eine weitere Vorausdeutung auf den nahenden Tod der Protagonistin. Der Schwan als Metapher des Todes ist insofern ungewöhnlich, als er in der Antike als Symbol für die Liebe gesehen worden ist. Schon die Sage von Zeus, der Leda in Form eines Schwanes verführt, oder aber die Tatsache, dass der Schwan Attribut Aphrodites ist,173 deuten dies an. Durch die schwarze Farbgebung jedoch lässt Thomas Mann das anmutige Tier eben nicht nur zum Zeichen der Liebe Rosalies werden, sondern auch zur Verkörperung des Thanatos. Darüber hinaus wird auch der das Schloss umgebende Park von Todessymbolen bestimmt. Die feuchten Wiesen und die umherstehenden Pappeln erinnern besonders an den homerischen Hades, dessen Topographie ganz ähnlich ausfällt. Das Schloss selber ist ähnlich düster gezeichnet. Die bröckelnde Fassade verweist auf Verfall und die stehengebliebene, „zeitlose“ Uhr auf den Eingang in die Ewigkeit. „Das Vestibül atmete vermuffte Kälte“ (DB, S.971) und die zahlreichen Blumenverzierungen könnten wiederum auf die elysischen Gefilde der antiken Unterwelt verweisen. Während ihrer Führung durch den einarmigen und militärisch wirkenden Kastellan offenbart sich das Schloss zudem als ein Ort mit „viel Sinn fürs Neckische, Geheime und Verborgene.“ (DB, S.972). Wie später bei Jean Cocteau sind es vor allem Spiegel, welche die Illusion von endlosen Raumfluchten vorgeben und dabei eine Art Zugang zur Unterwelt eröffnen. Hinter einer jener Pforten zwischen Dies- und Jenseits verbirgt sich, wie der Führer der Gruppe zeigt, ein Torso mit einem Bocksbart, ein möglicher Verweis auf die Verwandtschaft von Eros und Thanatos,174 aber auch auf die Ursprünge der attischen Tragödie und somit auf das tragische Ende der Erzählung. Rosalie und Ken entfernen sich heimlich von der Gesellschaft und folgen einem weiteren Geheimgang, welcher sich hinter einer Tapete befindet und aus dessen Tiefen „Moderluft“ dringt. In diesen morbiden Gemächern endlich gesteht Rosalie dem jungen Mann ihre Liebe und in vollkommener Dunkelheit kommt es zu einem ersten Austausch von Zärtlichkeiten. Ein weiteres Mal scheint es, als ob die Protagonistin ihren Begleiter anbetete: „Mein süßer Erwecker. (...) Das Vgl. George C. Schoolfield. „Thomas Manns Die Betrogene“ S.116. Vgl. W.H. Rey. „Rechtfertigung der Liebe in Thomas Manns Erzählung Die Betrogene“ In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 34. 1960. S.442. 173 174

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ist deines Leibes Wärme, von der ich kostete und der Schwan war böse...“ (DB, S.974). Rosalie und Ken wagen sich weiter hinunter und begeben sich in die „Herzkammer des Hades“,175 einen Alkoven, der von einer Statue mit gesenkter Fackel geziert ist. Diese erinnert an den Lessingschen Todesgenius, welcher das Licht des Lebens auslöscht, indem er die Fackel zum Boden kehrt. Die Statue verweist jedoch zudem auf Amor, den Sohn der Aphrodite, und damit auf den Mythos von Amor und Psyche, welcher auf eine mögliche Vereinigung des Liebespaares und einen glücklichen Ausgang hoffen lässt.176 „Im Dumpfen“ sitzen Ken und Rosalie schließlich nieder, aber der lebensfrohen Rheinländerin ist unwohl aufgrund der „Totenluft (...) hier bei den Abgestorbenen (...) in diesem Grabe.“ (DB, S.974). Das „tote Lustgemach“ schreckt sie und sie schlägt vor, Ken stattdessen zu besuchen. Das Pärchen verlässt den Raum daraufhin über eine Wendeltreppe, ein Motiv, welches stark an den Höllentrichter in Dantes Inferno gemahnt. Der Wiedereintritt in die Welt der Lebenden manifestiert sich in der „Himmelsluft“, welche Ken und Rosalie während ihrer Rückkehr in den Park anweht. Auf die Katabasis scheint eine Art Anabasis zu folgen, da der üppig blühende Park und die himmlisch reine Luft eine elysische Szenerie evozieren. Ironisch mutet die Aussage Annas an, die sie nach der Rückkehr von Rosalie und Ken an sie richtet: „Schließlich konntet ihr nicht aus der Welt gekommen sein.“ Denn tatsächlich scheint genau dies sich zugetragen zu haben. Des Paares Abstieg in die tief gelegenen Geheimgänge des Schlosses Holterhof dient der Erkenntnis ihrer Liebe und ihrer Sterblichkeit und gleicht aufgrund dieser Einsicht einer Hadesfahrt im eigentlichen Sinne. Für eine kurze Weile entrückt das Pärchen der diesseitigen Welt und schaut in seinem Liebestaumel das Jenseits in Form der eigenen tabuisierten Leidenschaften. Für Rosalie bedeutet diese frühzeitige Reise in das Reich des Todes darüber hinaus eine Vorausschau auf ihr nahendes Ende.

2.4.3 Der Tod als großes Mittel des Lebens Bereits kurz nach dem Ausflug nach Schloss Holterhof wird Rosalies Gebärmutterkrebs diagnostiziert und sie bleibt ans Bett gefesselt. Zu einem Stell-dich-ein mit Ken kommt es nicht mehr. Stattdessen verfolgt der schwarze Schwan ihre Gedanken: „Des Schwans aber gedachte sie noch öfter in den folgenden paar Wochen, seines blutroten Schnabels, des schwarzen Schlags seiner Schwingen.“ (DB, S.978). Ihrer Tochter gegenüber erinnert sie sich: „Mein Kind, er hat mich Titus Heydenreich. „Eros in der Unterwelt“ S.92. Vgl. Hans Rudolf Vaget. „Die Betrogene“ S. 617.

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angezischt.“ und scheint dies so kurz vor ihrem Ende nun nicht mehr, wie damals im Park, mit Humor nehmen zu können. Folgt man der Analyse Titus Heydenreichs, so ist Rosalies Geist zu diesem Zeitpunkt schon in das Todesreich entrückt, welches sie seit dem Ausflug nach Schloss Holterhof umfängt.177 In einem überaus klaren Moment jedoch entschuldigt sie die Natur für ihre (scheinbar) arglistige Täuschung. Im Gespräch mit Anna kommt sie zu der maßgeblichen Erkenntnis: „Sprich nicht von Betrug und höhnischer Grausamkeit der Natur. Ungern geh ich dahin. Aber wie wäre denn Frühling ohne Tod? Ist ja doch der Tod ein großes Mittel des Lebens und wenn er für mich die Gestalt lieh von Auferstehung und Liebeslust, so war das nicht Lug, sondern Güte und Gnade.“ (DB, S.978). Diese späte Einsicht Rosalies, dass der Tod ein Teil des Lebens ist, kommt einer Bewusstseinserhellung gleich,178 einer Akzeptanz und Bejahung ihres eigenen Schicksals. Der Eingang in das Reich der Toten dient somit der Initiation und Erkenntnisfindung sowie dem Zugang zu transzendenter Erfahrung.179 Teil dieser Erkenntnis ist auch die der Erzählung innewohnende Thematik der Naturdämonie, wie Mann selber es nennt. Durch ihre arglistigen Täuschungen vermag die Natur Rosalie mehrfach in die Irre zu führen, und dies obwohl die Protagonistin sich als ein Kind der Natur versteht. Der Betrug durch die Natur wird von Rey deshalb als „teuflischer Trick des Todes“ aufgefasst,180

ein Trick

jedoch,

welcher zu

Rosalies Wohlbefinden

und

Schicksalsbejahung beiträgt und somit durchaus nicht nur infernalischen, sondern auch gütigen Charakter trägt. Durch die Annahme ihres nahenden Todes lanciert sie ein „Lob der Vergänglichkeit“,181 welches den Tod als Kehrseite des Leben und notwendigen Teil desselben begreift und akzeptiert.

2.4.4 Mythisierung und Entmythisierung Wie auch schon den Tod in Venedig prägen Die Betrogene zahlreiche Elemente der Mythisierung und Entmythisierung, wobei vor allem die Natur verklärt wird. Rosalie erweist sich als Anhängerin eines Pantheismus, wenn sie sich als Kind der Natur bezeichnet und ihre Liebe zu ihr in zahlreichen Spaziergängen bekundet. Gegenüber der die Natur entmythisierenden Anna, deren Bilder sich von dem Glauben ihrer Mutter frei sprechen, verteidigt sie diese vehement. Die Natur jedoch ist mythischer als Rosalie es sich träumen lässt. In mehrfacher Hinsicht nämlich täuscht sie das selbst Vgl. Titus Heydenreich. „Eros in der Unterwelt“ S. 94. Vgl. auch Mario Szenessy. „Über Thomas Manns Die Betrogene“ S.235. 179 Vgl. W.H. Rey. „Rechtfertigung der Liebe in Thomas Manns Erzählung Die Betrogene“ S.447. 180 Ebd. S.445. 181 Volkmar Hansen. „Das Brot der schwarzen Schwäne“ S.390. 177 178

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ernannte Naturkind, zunächst mit dem Unratshäufchen, welches nach Moschus duftet, später dann durch die vermeintlich wiederkehrende Monatsblutung Rosalies. Durch jene Irreführung wiederum wird auch der Tod selber zum Gegenstand der Mythisierung, ein Umstand, der auch in der Inszenierung einer regelrechten Hadesfahrt in die Tiefen des Schlosses Holterhof Niederschlag findet. Wie Rosalie zum Ende der Erzählung erkennt, ist auch der Tod nichts weiter als „ein großes Mittel des Lebens.“ Rey zufolge ist es gerade diese Spitzfindigkeit der Natur bzw. des Todes, welche zu einer „Ironisierung der tragischen Ironie“ führt. Die „dialektische Entfaltung verschiedener Perspektiven“,182 die Lebensliebe Rosalies im krassen Kontrast zu der zu Ende alles überlagernden Thematik von Krankheit und Tod führe die tragische Ironie ad absurdum und mache sie somit hinfällig. Die Protagonistin kann zudem als ein Elementarwesen der Romantik gelesen werden, welches durch seine Naivität jene todesaffine Epoche entzaubert. In einer Hinsicht jedoch grenzt sich Rosalie scharf von den Romantikern ab, indem sie nämlich den Tod und den damit einhergehenden Verfallsprozess ihres Körpers zeit ihres Lebens leugnet.183 Bis zu ihrem nahenden Tod also ist sie in dieser Hinsicht eine eher unromantische Figur, welche die Affinität zum Tode überwunden hat, der jedoch die für die Romantik kennzeichnende Liebe zur Natur geblieben ist. Wie schon im Tod in Venedig zeigt sich der Autor in Die Betrogene als Meister der Montage, indem er verschiedene Mythologeme, aber auch romantische sowie reale und biographische Elemente miteinander verwebt. Durch diesen Synkretismus - die Verschmelzung von Leben, Liebe und Tod erzielt er einen außerordentlichen Effekt: „Was, auf die Romantik bezogen, als dionysisches Paradoxon definiert werden sollte, stellt der antike Mythos als Synthese oder gar als Identität dar.“184 Erst das Angesicht des Todes, das Erblicken der schwarzen Schwäne, die Unterwelt des Schlosses Holterhof, lassen Rosalie das Leben in seiner Ganzheit erkennen, einer Ganzheit, die auch den Tod einschließt und somit die Ambivalenz allen Seins aufzeigt.

2.5 Hölle und Hades im Zauberberg Trotz der zahlreichen literarischen Motive, die im Zauberberg antiken Höllen- und Hadesvorstellungen entlehnt sind, beschrieb Thomas Mann den Roman stets als ein „lebensfreundliches“ Werk. „Obwohl es vom Tode weiß, (...) will es dem Leben wohl.“ 185 Er führt, W.H. Rey. „Rechtfertigung der Liebe in Thomas Manns Erzählung Die Betrogene“ S.431. Vgl. ebd. S.438. 184 Titus Heydenreich. „Eros in der Unterwelt“ S.91. 185 Thomas Mann. Selbstkommentare: >Der Zauberberg< Herausgegeben von Hans Wysling unter Mitwirkung von Marianne Eich-Fischer. Fischer Taschenbuch Verlag. Frankfurt a.M. 1995. S.68. 182 183

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wie Brecht es formuliert, sogar eine Art „Guerillakrieg gegen den Tod“, eine Feststellung welche sich schon in den Erzählungen abzeichnete, bedenkt man die eingehende Auseinandersetzung mit der literarischen Romantik. Auch der Zauberberg, der ursprünglich als komisches Gegenstück zum Tod in Venedig angelegt war, jedoch zwölf Jahre der Zeit Thomas Manns in Anspruch nahm, ehe er letztlich erschien, ist von dieser Auseinandersetzung geprägt. Es handelt sich um einen Durchbruch Thomas Manns, „aus todesträchtiger Romantik zur Lebensfreundschaft,“186 eine Kritik und Überwindung der Todesfaszination jener Epoche zugunsten des Lebensglaubens und zugunsten eines neuen Humanitätsgefühls. Wie auch schon im Tod in Venedig wird die Romantik also kritisch reflektiert und somit auch entmythisiert. Zudem ist der Zauberberg ein europäischer Roman, seine Problematik und Dialektik187 sowie die Thematisierung der Auslöser des Ersten Weltkrieges betreffen nicht nur Deutschland, sondern sind von gesamteuropäischen Belang. Vielleicht ist dies auch einer der Gründe, warum Thomas Mann das schweizerische Davos als Schauplatz der Handlung wählte, ein Ort, an welchem verschiedenste Nationalitäten zusammentreffen und ein reger Austausch der Kulturen stattfindet. Die Thematisierung des Krieges macht den Zauberberg zudem zu einem geschichtlichen Zeugnis, zu einem Dokument seiner Zeit, welches allegorisch die Epoche des frühen 20. Jahrhunderts widerspiegelt, sich durch seine mythische Leitmotivtechnik und die Darstellung einer stehenden Zeit, eines nunc stans, jedoch auch eine Abkehr von der Geschichte und eine „Kritik historischer Vernunft“ impliziert.188 Durch die stetige Wiederholung von Motiven, aber auch von ganzen Handlungsabläufen, wie etwa der Bleistift-Episode, mündet die Zeitkategorie ins Mythische und Hans Castorps Erfahrung der Zeit wird schon sehr bald nach seiner Ankunft zu einem mythischen Erlebnis.189 Thomas Mann selber betonte, dass die Wiederholung von Handlungen, im religiösen Rahmen auch unter dem Begriff des Ritus bekannt, den eigentlichen Mythos ausmache. Erst die feierliche Zelebrierung eines bereits Gewesenen, etwa eines großen Ereignisses, lasse eine Handlung mythisch erscheinen: „Dies Leben als Beleben, Wiederbeleben ist das Leben im Mythos.“190 Die mythisch anmutenden Leitmotive des Romans, wie etwa die Taufschale des Großvaters, legen zudem eine weitere Deutung des Zauberbergs nahe, nämlich die des Initiationsromans. „Krankheit und Tod“ dienen Hans Castorp als „notwendiger Durchgang zu Wissen und Leben.“191 Der Heinz Sauereßig. Die Entstehung des Romans Der Zauberberg. Biberach an der Riss. 1965. S.24. Vgl. Thomas Mann. Selbstkommentare: >Der Zauberberg< S.132. 188 Hans Robert Jauß. Zeit und Erinnerung in Marcel Prousts »A la recherche du temps perdu« Ein Beitrag zur Theorie des Romans. Suhrkamp Verlag. Frankfurt a.M. 1986. S.58/59. 189 Vgl. Helmut Koopmann. Die Entwicklung des intellektualen Romans bei Thomas Mann. Untersuchungen zur Struktur von Buddenbrooks, Königliche Hoheit und Der Zauberberg. Bouvier Verlag. Bonn. 1962. S.146. 190 Thomas Mann. „Freud und die Zukunft“ S.34. 191 Thomas Mann. Selbstkommentare: >Der Zauberberg< S.137. 186 187

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Protagonist wird somit zu einem Gegenstand der Steigerung oder Läuterung und der Zauberberg zum „Läuterungsberg“ in der Nachfolge Dantes. Auch wenn der Tod die Geschehnisse des Romans zu dominieren scheint, vermag er es nicht, die inhaltliche Tendenz zu bestimmen.192 Wie das folgende Kapitel zeigt, sind Hölle und Hades von Beginn bis zum Ende des Romans omnipräsent und dienen vor allem der Erkenntnis Hans Castorps, dass dem „Tod keine Herrschaft über das Leben“ eingeräumt werden sollte (Vgl. ZB, S.748), um der Liebe und Güte willen, um einer neuen Humanität willen, die der Protagonist zuweilen erahnt.

2.5.1 Vertreter der Unterwelt Betrachtet man die Mythologeme, welche den antiken Hadesfahrten entlehnt sind, so fällt auf, dass zu Beginn des Romans häufig auf die Nekyia der homerischen Odyssee verwiesen wird.193 Schon bei ihrem ersten Treffen bemerkt Settembrini, der aufklärerische Mentor Hans Castorps: „Potztausend, Sie sind nicht von den unsrigen? Sie hospitieren nur wie Odysseus im Schattenreich? Welche Kühnheit, hinab in die Tiefe zu steigen, wo Tote nichtig und sinnlos wohnen.“ (ZB, S.90). Auch später rekurriert er auf den Text Homers, wenn er seinem Schützling zur Abreise rät: „Meiden Sie diesen Sumpf, dies Eiland der Kirke, auf dem ungestraft zu hausen Sie nicht Odysseus genug sind.“ (ZB, S.375). Der Italiener fürchtet also um die Qualitäten Hans Castorps als Held und zweifelt an dessen Immunität gegenüber den Verlockungen des verzauberten Berges. Dass das Sanatorium Berghof ein Schattenreich ist, bezeugen nicht zuletzt die Kurgäste sowie das Personal. Mehrfach verweist Settembrini auf die behandelnden Ärzte Behrens und Krokowski als Minos und Rhadamanth, als Höllenrichter oder Teufelsknechte, und vermengt somit heidnische und christliche Vorstellungen der jenseitigen Unterweltgottheiten. Jedoch scheint Dr. Edhin Krokowski bei genauer Betrachtung nur wenige Ähnlichkeiten mit Minos aufzuweisen. Viel eher erinnert er an einen Teufel christlicher Provenienz. Seine Blässe, die „dunkle Glut seiner Augen“ sowie der in zwei Spitzen auslaufende Vollbart verleihen ihm ein infernalisches Gepräge, welches durch seinen fremdländischen, schleppenden Akzent noch verstärkt wird. Dass Krokowski als moderne Inkarnation des volkstümlichen Teufels des Mittelalters auftritt, offenbart sich auch in seiner Bewegungsweise, wenn er etwa bei seiner Balkonvisite zu den Patienten hintritt „als käme er durch die Lüfte“, ähnlich Mephisto auf seinem Zaubermantel. Wie Clawdia Chauchat versteht er sich darauf, zu „schleichen“, denn auch er gehört dem Reich der Trägen und Liederlichen an und hegt Vgl. Lotti Sandt. Mythos und Symbolik im Zauberberg von Thomas Mann. Inauguraldissertation der Philosophischhistorischen Fakultät der Universität Bern zur Erlangung der Doktorwürde. Haupt Verlag. Bern. 1979. S.14. 193 Vgl. hierzu Walter Jens. Statt einer Literaturgeschichte. S.170. 192

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eine besondere Affinität zu Traum und Okkultismus. Letzteres zeigt sich vor allem in dem Kapitel „Fragwürdigstes“, in welchem Krokowski als Initiator spiritistischer Sitzungen fungiert und mithilfe seines Mediums, der jungen Elly Brand, Verstorbene beschwört und „die Hölle versucht.“ (ZB, S.1009). Während dieser Zusammenkünfte gelingt es ihm sogar, einzelne Körperteile und später auch Hans Castorps Vetter Joachim erscheinen zu lassen, was wiederum insofern an den Teufel gemahnt, da dieser schon bei den literarischen Vorläufern, im Faust II wie auch in der Historia, zauberische Vorspiegelungen zu den Mitteln seiner Magie zählt. Im Berghof ist Dr. Krokowski vor allem für die „Seelenzergliederung“ seiner Patienten zuständig und kann somit als Vertreter der im frühen 20. Jahrhundert aufkommenden Psychoanalyse gelten.194 Dies bezeugt auch seine Vortragsreihe, in welcher er Krankheit als Symptom sublimierter Liebe zu entlarven versucht und auf die enge Verbundenheit von Gefühlsleben und Körper bzw. deren Auswirkungen auf die Gesundheit hinweist. Der Obskurität seiner Tätigkeit entsprechend, befinden sich seine Untersuchungsräume im Kellergeschoß, wo stets Dunkelheit und „tiefe Dämmerung“ herrschen (ZB, S.205). Wie Henry Hatfield ausführt, haust jedoch nicht nur der Psychoanalytiker im Kellergeschoß, sondern häufig auch Ratten, was Krokowski als eine Art Rattenfänger auszeichnet, der seine Patienten zu verführen und zu binden weiß, sodass er zu einem „Menschenfänger“ wird, der die Kurgäste über lange Zeit im Berghof „gefangen hält“.195 Diese Beobachtung scheint insofern von Interesse, als auch sie auf die Figur des Teufels verweist, dessen Attribute niedere Tiere und Geschöpfe wie etwa Insekten oder Ratten sind. Aufgrund der Praktiken des Arztes haben viele Forscher darauf hingewiesen, dass Krokowski eine Figur ist, welche an Sigmund Freud erinnert, dem Thomas Mann zunächst durchaus kritisch gegenüber stand. Manfred Sera führt aus, dass die zu Anfang des Jahrhunderts erstmals aufkommenden Praktiken der Psychoanalyse im Zauberberg als Heilslehre persifliert werden und der stets in schwarz gekleidete Krokowski somit als eine Art „Pseudoheiland“ und Parodie Freuds fungiert.196 Wie der Großteil der Gestalten Thomas Manns erweist sich Dr. Edhin Krokowski somit als äußerst schillernde und vielschichtige Figur, die sowohl Merkmale historischer Gestalten als auch mythischer, diabolischer Figuren auf sich vereint.

Vgl. Wolfgang F. Michael. „Thomas Mann auf dem Wege zu Freud“ In: MLN 65. 1950. S.165. Henry Hatfield. „Notizen zum Zauberberg“ In: Sinn und Form Sonderheft 1965. S.390f. 196 Vgl. Manfred Sera. Utopie und Parodie bei Musil, Broch und Thomas Mann. Der Mann ohne Eigenschaften. Die Schlafwandler. Der Zauberberg. Bouvier Verlag. Bonn. 1969. 194 195

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Ähnlich steht es um seinen Kollegen und Vorsteher des Sanatoriums Berghof, Hofrat Behrens. Dieser von Settembrini als Rhadamanth bezeichnete Arzt ist schon insofern eine paradoxe Figur, da er selber krank ist, nämlich, wie auch Hans Castorp, anämisch und infolgedessen von bläulicher Gesichtsfarbe. Des Weiteren verbindet ihn nicht nur seine Krankheit, sondern auch der Tod mit der Schattenwelt des verzauberten Berges, da seine Frau vor etlichen Jahren in Davos verstorben ist. In vieler Hinsicht gleicht er also dem einfachen Helden des Romans, teilweise sogar bis ins Detail, etwa durch seine Vorliebe für gute Zigarren, die ihn jedoch immer melancholisch werden lassen und auch seinem angeschlagenen Gesundheitszustand alles andere als zuträglich sind. Doch auch Hofrat Behrens scheint dem Titel, den Settembrini ihm zuerkannt hat, kaum zu entsprechen. Wenn er sich als Agent und Funktionär „höherer Gewalten“ beschreibt (ZB, S.201), als Ausführer der Entscheidungen eines Aufsichtsrates etwa, so wird deutlich, dass er nur einer der kleinen Teufel ist, welche Satan dienen und unterstehen. Sein Charakter ist von einer augenfälligen Radikalität und jeglichem Fehlen von Sensibilität geprägt. Alexander Prüssian geht so weit, ihn als ein „Monstrum von Zynismus und Herzlosigkeit“ zu beschreiben, das seinen Patienten jegliches Mitleid verwehrt.197 Einen solchen soll er laut Joachim während dessen leidvollen Sterbens gar mit den Worten: „Stellen Sie sich nicht so an“ angefahren haben, woraufhin dieser sich schweigend in sein Schicksal gefügt haben soll und ganz ruhig dahinschied (ZB, S.87). Das Leben ist für ihn rein physiologisch oder auch pathologisch bedingt, ein Verfallsprozess sozusagen, oder wie er es formuliert: „une déstruction organique.“ (ZB, S.404). Dieses rein physiologische Verständnis vom menschlichen Leben drückt sich in vielen seiner Kommentare aus, etwa zu den Mahlzeiten, während derer sich Hans Castorp wundert, dass der Hofrat statt einen „Guten Appetit“ eine „Gesegnete Nahrungsaufnahme“ wünscht. Ebenso fällt dem Protagonisten die detailgenaue Darstellung der Haut Clawdia Chauchats in deren von Behrens angefertigtem Porträt auf. Im Ganzen macht das Bild keinen großen Eindruck auf ihn. Das Gesicht etwa, der jedem Menschen eigentümliche Ausdruck, scheint ihm wenig gelungen. Das größte Organ des menschlichen Körper aber, die Epidermis, vermochte der Arzt ganz ausgezeichnet zu porträtieren. Ähnliches nimmt er an den Vettern selber vor, wenn er diese in seinem Labor „durchleuchtet“. Hans Castorp ist in Bann geschlagen von dem atemberaubenden Anblick des Inneren Joachims. Mit der Bitte um Durchsicht seiner eigenen Hand schließlich schaut Hans Castorp dann in sein eigenes Grab, was ihn zwar ungemein fasziniert, jedoch auch etwas mitnimmt, da er zum ersten Mal in seinem Leben versteht, dass er sterben wird, eine Erkenntnis, die der Hofrat kurz darauf auf das Alexander Prüssian. „Der Zauberberg“ In: Heinz Sauereßig. Die Entstehung des Romans Der Zauberberg. Biberach an der Riss. 1965. S.47. 197

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treffende Kredo „Leben ist Sterben“ bringt. Aber auch noch ein toter Körper lebt Hans Castorps eigener Überlegung nach in gewisser Hinsicht weiter: „Es wachsen ihm noch die Haare und Nägel und auch sonst soll physikalisch und chemisch, wie ich mir habe sagen lassen, ein überaus munterer Betrieb darin herrschen.“ (ZB, S.111). Dies entspricht den Ansichten des Hofrates, welcher in jeder Faser des Lebens den Tod gespiegelt sieht. Bedenkt man die „Lebensfreundschaft“ des Romans, so ließe sich hier aber vor allem der Umkehrschluss der Überlegungen Behrens' ziehen, nämlich dass der Tod auch das Leben impliziert. Auf Nachfrage Hans Castorps kommt Hofrat Behrens zudem auf die makabersten Details zu sprechen. Mit der Zersetzung des Körpers nach dem Tode verhalte es sich nämlich wie folgt: „Vor allen Dingen platzt Ihnen der Bauch. (…) Die Gase, verstehen Sie, treiben Sie auf (…). Pardautz. Sie erleichtern sich merklich. (…) Tja, und danach sind Sie eigentlich wieder gesellschaftsfähig.“ (ZB, S.660f.). In diesem Kommentar tritt der vielen Ärzten nachgesagte schwarze Humor zu Tage, der den Hofrat zu einem recht eigentümlichen und unsensiblen Kauz macht, dessen er aber vielleicht infolge seines Witwertums, seines Gesundheitszustandes sowie seines Berufes bedarf, um Herrscher über das Schattenreich zu bleiben. Die Dekonstruktion des menschlichen Körpers ist ein Motiv, welches schon in der Kunst des 19. Jahrhunderts häufig thematisiert wurde, um auf eine pädagogische Art die Bejahung des Lebens zu betonen.198 Es findet sich zudem in James Joyces Ulysses, etwa während der Beerdigung Paddy Dignams, in der Figur Father Coffeys, der einer aufgeblähten Kröte ähnelt, die aufgrund der Totengase erscheint, als müsse sie platzen. In diesem Kapitel scheint der Tod Leopold Bloom mit all seiner physischen Präsenz ins Bewusstsein zu treten. Ihm scheint, nach diesem könne es nichts mehr geben, weshalb er zurück in die lebensvollen Betten flüchten will und dem Friedhof schnellstmöglich zu entkommen versucht. Neben den beiden „Höllenrichtern“ (ZB, S.99) treten weitere Figuren auf, die dem katabatischen Topos verbunden sind. Hades, der Herrscher der Unterwelt, sowie seine Angetraute Persephone scheinen sich in dem ungleichen Paar Clawdia Chauchat und Mynheer Peeperkorn wiederzufinden, wobei insbesondere die Russin einen bleibenden Eindruck auf den jungen Hans Castorp hinterlässt. Türen werfend betritt sie erstmals den großen Speisesaal des Berghofes, den Protagonisten somit anfangs gegen sich aufbringend. Dieser wird zunächst gehindert, die Schöne zu erblicken, und bei den folgenden Mahlzeiten ist er schon zu träge, um sich nach ihr umzuwenden. Nach ihrem Anblick jedoch verfällt er der schönen Fremden vollkommen und bleibt nicht zuletzt Vgl. Lydia Baer. The Concept and Function of Death in the works of Thomas Mann. A thesis in Germanic languages presented to the faculty of the graduate school in partial fulfillment of the requirements for the degree of Doctor of Philosophy. University of Pennsylvania. Philadelphia. 1932. S.43f. 198

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ihretwegen bzw. der Hoffnung wegen, sie möge bald zurückkehren, ganze sieben Jahre auf dem Berghof. Clawdias Rückkehr allerdings scheint, ähnlich der Rückkehr Persephones in das Reich des Hades, nur zu bestimmten Zeiten möglich. So bricht sie meist nach dem Winter, in der ersten Blüte des Frühlings, auf, somit die Funktion der Unterweltgöttin übernehmend, die Erde mit neuen Pflanzen auszustatten.199 Auch Clawdia Chauchat fungiert also als Symbol für Initiation und Wiedergeburt und den ewigen Kreislauf der Natur. Darüber hinaus verbindet die Farbwahl ihrer Garderobe - in der Regel schwarz oder gelb - sie mit den Gottheiten der Unterwelt. Gelb gilt sowohl als Farbe des Dionysos, als auch der Persephone, welche während ihres Raubes durch Hades gelbe Blumen gepflückt haben soll.200 Auch Settembrini fällt diese Ähnlichkeit zwischen seiner Gegenspielerin und der Gemahlin des Hades auf, wenn er Hans Castorp nach dessen Liebesnacht fragt, wie der Granatapfelsaft gemundet habe (Vgl. ZB, S.536). Der antiken Überlieferung zufolge war Persephone aufgrund des Verzehrs eines Granatapfels dazu verbannt worden, halbjährig zu ihrem Gemahl Hades in die Unterwelt zurückzukehren und an dessen Seite über das Schattenreich zu herrschen. Auf den Protagonisten übt die schöne Russin einen maßgeblichen Einfluss aus. Zunächst ist es ihrer Anwesenheit zuzurechnen, dass Hans Castorp unter trockener Gesichtsh*tze leidet und seine Fieberkurve rasant ansteigt. Auf seinem ersten längeren Spaziergang erscheint sie ihm zudem in einem Traum, der sie in die Nähe seiner Schulbekanntschaft mit Pribislav Hippe rückt, dessen Name der Etymologie zufolge auf den Tod verweist. Durch die regelrechte Verschmelzung des jungen Knaben, welcher während Hans Castorps Schulzeit so großen Eindruck auf ihn gemacht hat, und Clawdias, werden die Figuren zum Inbegriff von Androgynität. So ähneln sich beide vor allem aufgrund ihrer schmalen Kirgisenaugen, Clawdia jedoch trägt durchaus männliche Züge und Hippe weibliche. Dies zeugt auch von einer gewissen sexuellen Orientierungslosigkeit des Helden bzw. von der Tatsache, dass dieser die Objekte seiner Begierde nicht nach deren Geschlecht, sondern nach deren Typ auswählt. Schon hier transzendiert Hans Castorp einen entscheidenden Gegensatz, nämlich den des Geschlechtes. Das Genus eines Menschen ist für ihn nicht von Belang. Einzig das Wesen der betreffenden Person zählt. Da sowohl Hippe als auch Clawdia durch ihre Blässe und Neigung zu Krankheit eine Affinität zum Tod aufweisen, scheinen sie Hans Castorp von besonderer Anziehungskraft. Zudem erscheint Clawdia ihm als eine Art „schreckhafte(r) und grenzenlos verlockende(r) Traum.“ (ZB, S.349). Sie inspiriert also nicht bloß Träume und regt Hans Castorp zu solchen an, sondern sie selber lässt das Leben auf dem Berghof, insbesondere aber die Fastnacht am 29. Februar wie einen Vgl. Lotti Sandt. Mythos und Symbolik im Zauberberg. S.71. Vgl. ebd. S.69.

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Traum erscheinen, „un rêve bien connu“, wie Hans Castorp es formuliert. In jener Nacht erläutert Clawdia Chauchaut ihre Lebensphilosophie und ihre Auffassung von Humanität. Denn entgegen der Meinung Settembrinis verkörpert die Russin durchaus eine solche. Moral sagt sie, finde sich jedoch nicht in der Tugendhaftigkeit, wie der Italiener glaube, sondern in der Sünde und im Selbstverlust: „Il faudrait chercher la morale non dans la vertu, c'est-à-dire dans la raison, la discipline, les bonnes mœurs, l'honnêteté, - mais plutôt dans le contraire, je veux dire: dans le péché, en s'abandonnant au danger, à ce qui est nuisible, à ce qui nous consume. Il nous semble qu'il est plus morale de se perdre et même de se laisser depérir que de se conserver.“ (ZB, S.515). In seiner an Gerhard Hauptmann gerichteten Rede „Von deutscher Republik“ beschreibt Thomas Mann diese Auffassung des Humanitätsbegriffs als dem deutschen Volke zu eigen: „Unter uns Deutschen wenigstens scheint Grundgesetz, daß, wer sich verliert, sich bewahren wird, wer sich aber zu bewahren trachtet, sich verlieren, das heißt der Barbarei oder biederer Unbeträchtlichkeit anheimfallen wird.“201 Bei ihrem ersten Wiedersehen nach Clawdias langjähriger Abwesenheit, bemerkt sie des weiteren: „Leidenschaft, das ist: um des Lebens willen leben. Aber es ist bekannt, daß ihr um des Erlebnisses willen lebt.“ (ZB, S.899). Letzteres sei reinem Egoismus und bloßer Selbstbereicherung geschuldet. Genau dies sei die eigentliche Menschenfeindlichkeit, die ihr so häufig vorgeworfen werde. Erst mithilfe der Leidenschaft und des Auskostens des Lebens durch das Mittel der Sünde vermag es der Mensch, geläutert zu werden und somit einen gültigen Begriff von Humanität zu entwickeln. Nicht zuletzt aufgrund dieser Anregungen kommt Hans Castorp zu einer Moralvorstellung, in der die Sünde und die aus ihr resultierende Läuterung des Menschen eine bedeutende Rolle spielen. Jedoch übernimmt er die Ideen Chauchats nicht bloß, sondern schreitet über sie hinaus, um sich einem persönlichen Humanitätsbegriff anzunähern, indem er - nicht zuletzt im Kapitel „Schnee“ die von Settembrini und Naphta aufgeworfenen Gegensätze in der Welt einer Synthese zuführt und somit Herr derselben wird. Settembrinis Vorstellung der Humanität scheint im Vergleich zu der Clawdias regelrecht zu verzwergen. Anders als der stellenweise naiv wirkende Italiener glaubt Mme Chauchat, dass man nur über den Umweg der Sünde die Erfahrung von Läuterung und Humanität machen könne, ebenso wie man das Leben nur über den Umweg des Todes erfahren könne. Beides sind Erfahrungen, die Hans Castorp auf dem Berghof zuteil werden, und sie sind auch der eigentliche Grund seines siebenjährigen Aufenthaltes. Vgl. Thomas Mann. „Von deutscher Republik“ In: Essays II. Große kommentierte Frankfurter Ausgabe. Bd.15. 2002. S.517. 201

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Wenn Settembrini Clawdia im Scherz Beatrice nennt, die Führerin Dantes durch das Paradies, dann hat er damit folglich nicht vollkommen unrecht. Die schleichende Mme Chauchaut, welche aufgrund dieser Bewegungsweise auch an die Schlange im Garten Eden erinnert, verführt Hans Castorp, im Schattenreich des Berghofes zu verweilen. In diesem Schattenreich allerdings lernt der Held des Romans erst das Leben verstehen. Eine von der Forschung lange Zeit negativ bewertete Figur des Zauberbergs findet sich in der „Persönlichkeit“ Mynheer Peeperkorns, der niederländisch-indische Kaffeeplantagenbesitzer, welcher als Liebhaber Clawdias eigentlich Hades verkörpern müsste, in vieler Hinsicht auch einem König ähnelt, allerdings nicht dem antiken Herrscher über die Unterwelt, sondern dem König der Juden, Jesus Christus. Diese These wird schon von der Physis Peeperkorns gestützt. Zwar ist sein Leib massig und damit dem ausgemergelten Körper Jesu diametral entgegengesetzt, sein „mächtiges Haupt“ jedoch ist „weiß umlodert“, als umgebe es eine Aureole. Dieser Rolle entsprechend hält der Holländer eine Art letztes Abendmahl ab, währenddessen er zwölf Jünger um sich sammelt, um mit ihnen - wiederum ganz anders als Christus - üppig, um nicht zu sagen, opulent zu speisen. Dieses regelrechte Bachanal,202 welches von Wurstplatten, Omelettes und Unmengen Alkohol begleitet wird, wirkt beinahe wie eine Parodie auf die biblische Textstelle. Das Lebensfest wird zum religiösen Ritus schlechthin. Peeperkorn und seine „Jünger“ kasteien sich nicht, sie leben nicht asketisch oder enthaltsam, sondern sie nehmen alles, was das Leben ihnen zu bieten hat, dankbar an. Peeperkorn lebt somit Nietzsches in der Geburt der Tragödie formulierte Gegenlehre christlicher Moral, eine „antichristliche“, dionysische und rein artistische Moral, welche das Leben sowie das Diesseits zum Inhalt hat.203 Sich auf die Heilige Schrift beziehend, zitiert der sonst rhetorisch unbegabte Gastgeber denn auch eine Stelle aus der Bibel und bittet die Gäste: „Bleibet hie und wachet mit mir (…) Und kam zu ihnen und fand sie schlafend und sprach zu Petro: Könnet ihr denn nicht eine Stunde mit mir wachen? (…) Und kam und fand sie aber schlafend, und ihre Augen waren voll Schlafs. Und sprach zu ihnen: Ach, wollt ihr nun schlafen und ruhen? Siehe, die Stunde ist hie“ (ZB, S.860f.), woraufhin die zwischenzeitlich ermüdete Gesellschaft sich wieder ganz ergriffen ihrem Vorsteher widmet. Das Verhalten des Lebemanns scheint seinem christlichen Vorbild insofern nahe zu kommen, als er ein Moment der Humanisierung auf dem Berghof einführt. So ist er der Erste, der die sonst stets anonyme Zwergin, welche Castorp anfangs befremdet und die als Saalschwester angestellt ist, nach Vgl. Oskar Seidlin. Klassische und moderne Klassiker. Vandenhoeck und Ruprecht. Göttingen. 1972. S.109. Vgl. Friedrich Nietzsche. „Versuch einer Selbstkritik“ In: Ebd. Werke in zehn Bänden. Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik. Mit einem Nachwort, einer Zeittafel zu Nietzsche, Anmerkungen und bibliographischen Hinweisen von Peter Pütz. Neuauflage. Vollständige Ausgabe nach dem Text der Ausgabe Leipzig 1895. Goldmann Verlag. München. 1999. S.15. 202 203

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ihrem Namen fragt und sie somit aus der Welt der Bedeutungslosigkeit heraushebt. 204 Trotz seiner Gottähnlichkeit also erscheint Peeperkorn als sehr menschlicher Charakter und hilft somit, die Distanz zwischen der göttlichen und der irdischen Sphäre abzubauen. So dient er Thomas Mann als Exempel für die Humanisierung des Mythos, die er in seinem Werk anstrebt. Dasselbe Phänomen lässt sich auf einer zweiten Ebene nachweisen, da der Holländer nicht nur an Jesus Christus erinnert, sondern auch an einen Gott heidnischer Herkunft: Dionysos.205 Wie dieser stammt Peeperkorn aus Indien und wie diesem bedeutet ihm das Leben Rausch. Einzig über Drogen bzw. deren perfektionierten Konsum hält Peeperkorn rhetorisch elaborierte Lobreden. Erst der Wein zivilisierte seiner Ansicht nach die Völker und nur jene, die Weinbau pflegten, vermochten diese Zivilisation zu ihrem Höhepunkt zu führen. Als Anführer der Bachantinnen gilt ihm als Inbegriff des Lebens „ein Weib, ein hingespreitet Weib, mit dicht beieinander quellenden Brüsten und großer, weißer Bauchfläche zwischen den ausladenden Hüften, mit schmalen Armen und schwellenden Schenkeln und halbgeschlossenen Augen, das in herrlicher, höhnischer Herausforderung unsere höchste Inständigkeit beansprucht, alle Spannkraft unserer Manneslust, die vor ihm besteht oder zuschanden wird.“ (ZB, S.855). Der Mensch fungiert lediglich als „Hochzeitsorgan Gottes,“ um sich mit diesem zu vereinen. Auch er ist folglich göttlich, sofern er fühlt, aber auch nur dann. Daher steckt Peeperkorn die „Schwätzerchen“ Naphta und Settembrini auch mühelos in die Tasche, da das Leben sich ihm zufolge nicht durch den Geist erfassen lasse, sondern, wie auch Clawdia dies schon andeutete, einzig durch Leidenschaft und Sünde. Versagen vor der Natur jedoch, sprich Impotenz, ist für ihn inakzeptabel. Deshalb greift der wuchtige Holländer selber zum Gift, als er erkennen muss, dass er nicht Clawdias alleiniger Liebhaber ist, und seine Manneskraft zusehends schwindet. Gespiegelt wird dieser Prozess in dem Waldausflug kurz vor seinem Suizid, den eine kleine Auswahl der Berghof-Bewohner auf Anregung Peeperkorns hin unternimmt. Schon der Wald selber, von aggressiven Flechten befallen, scheint dem Tode geweiht, und beim Wasserfall angekommen, stimmt der Holländer eine Rede an, die von dem Getöse der Wassermassen übertönt wird und somit seine Unfähigkeit gegenüber der Natur bezeugt. Das Zusammenbringen der beiden Figuren, Christus und Dionysos, veranschaulicht die Funktion Mynheer Peeperkorns. Mit der Überbrückung und Verschmelzung verschiedener, ja gegensätzlicher Kulturen und Religionen, offenbart auch er sich als Herr der Gegensätze, als Manifestation der Einsicht Hans Castorps, welche er in seinem Gedankentraum erlangt. Kudszus spricht von der

Vgl. Katja Wolff. „ »Dem Tod keine Herrschaft einräumen« Peeperkorn als Humanist“ In: Rudolf Wolff (Hrsg.). Thomas Mann. Aufsätze zum Zauberberg. Bouvier Verlag. Bonn. 1988. S.101. 205 Vgl. hierzu auch John C. Thirlwall. „Orphic Influences in The Magic Mountain or Plato, Christ and Peeperkorn“ In: Germanic Review 25. 1950. S.292ff. 204

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durch die Figur erzielte Überwindung dualistischen Denkens.206 Häufig wurde die Bedeutung des Holländers mit Verweis auf dessen Suizid unterschätzt und die vitalistische Lehre, die er verkündet, durch seinen Tod als wertlos abgetan. Da der Tod, und sei es der Freitod, aber notwendiger Bestandteil des Lebens und Peeperkorn sich dieses Umstandes durchaus bewusst ist, kann diese äußerst eindrucksvolle Figur auch trotz ihres tragischen Endes als Sinnbild des Lebens gedeutet werden, welches eine nicht zu unterschätzende Initiation auf den Helden ausübt. Denn ebenso wie Behrens, Settembrini, Chauchat und Naphta, macht Peeperkorn großen Eindruck auf Hans Castorp und verhilft dem jungen Protagonisten zu einer Selbstfindung und dem Ausloten der eigenen Mitte. Ein weitere Figur, die den Berghof als Unterwelt der Moderne auszeichnet, ist Lodovico Settembrini, dessen „plastische“ Eloquenz vor allem an Hermes Trismegistos erinnert und der das Wort als Triumph der Menschlichkeit preist. Bei der ersten Begegnung erblickt Hans Castorp den Italiener mit Hut und Stock von links kommend, der Seite der Unterwelt, auf welcher in Vergils Aeneis der Tartaros verortet ist. Bei den Vettern angekommen nimmt er, indem er seine Beine kreuzt und sich auf seinen Stock stützt, eine Körperhaltung ein, welche an die Vorstellung Lessings, „wie die Alten den Tod gebildet“, gemahnt. 207 Seiner Rolle als Hermes Trismegistos entspricht auch die Philosophie Settembrinis. Als aufklärerischer Geist und Mitglied der Freimaurer-Loge, bietet er sich als Mentor Hans Castorps an, um diesen in vielerlei Dingen zu belehren. Sehr anschaulich wird dies deutlich, wenn er das Licht im Zimmer des Ingenieurs anschaltet und somit gleißende Helligkeit durch den Raum fluten lässt. Er tritt folglich als Lichtbringer auf, als aufklärerischer Geist ebenso wie als Prometheus. Seine Affinität zu Licht ebenso wie zu Wärme – sein späteres Privatzimmer ist stets gut geheizt - nähert ihn aber darüber hinaus auch Luzifer, dem Engel des Lichts, an. Als einzige Person auf dem Berghof bleibt Settembrini in Verbindung mit dem Flachland, indem er täglich die Zeitungen liest, um das politische Geschehen Europas zu verfolgen. Insofern kann er durchaus als eine Art Mittler zwischen dem Flachland und dem abgeschiedenen Davos gelten, als Verwandter des Hermes, dessen Nachrichten auf dem Berghof jedoch nur ungern vernommen werden. Nur widerwillig begegnet Hans Castorp dem Italiener, da dieser versucht, ihn aus seiner geliebten Trägheit und seinen täglichen Träumereien zu reißen, um sich ganz dem Fortschritt und der damit einhergehenden Besserung des Menschengeschlechts zu widmen. Settembrini verabscheut die Musik, sofern sie nicht der Literatur folgt, da sie eine gefährliche, eine Vgl. Winfried Kudszus. „Understanding Media. Zur Kritik dualistischer Humanität im Zauberberg“ In: Heinz Sauereßig. (Hrsg.). Besichtigung des Zauberbergs. Verlag Wege und Gestalten. Biberach an der Riss. 1974. S.66ff. 207 Vgl. Gotthold Ephraim Lessing. Wie die Alten den Tod gebildet. In: Ebd. Sämtliche Schriften 11. Herausgegeben von Karl Lachmann. Göschen'sche Verlagshandlung. Stuttgart. 1895. (1769). S.7ff. 206

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reißende Macht sei, welche, ähnlich den Opiaten, zu Rausch und Traum verleite (Vgl. ZB, S.173f.). Kritisch betrachtet er auch den menschlichen Körper, der als Teil der Natur ein mythisches, ja ein böses Prinzip darstelle. Dieses böse Prinzip manifestiere sich vor allem in der Krankheit, da diese nicht den Geist beflügele, wie Hans Castorp glaubt, sondern viel eher den Menschen auf seinen Körper reduziere. (Vgl. ZB, S.150ff). Um diesem Mißstand entgegenzuwirken, arbeitet Settembrini an einer Enzyklopädie des Leidens mit der Absicht, dieses aus der Welt zu schaffen. Wie Naphta jedoch feststellt, ist Hermes nicht nur ein Gott des Wortes und der Literatur. „Denn das sei vielmehr eine Affen-, Mond- und Seelengottheit gewesen, ein Pavian mit einer Mondsichel auf dem Kopf und unter dem Namen des Hermes vor allem ein Todes- und Totengott: der Seelenzwinger und Seelenführer, der schon der späteren Antike zum Erzzauberer und dem kabbalistischen Mittelalter zum Vater der hermetischen Alchimie geworden sei.“ (ZB, S.789). Settembrini ist somit keine rein positiv konnotierte Figur, sondern weist durchaus eklatante Schwächen auf, da er übertrieben fortschrittlich und diesbezüglich äußerst gutgläubig ist. Die Ignoranz, welche er Körper, Natur und dem „trivialen“ Leben gegenüber walten lässt, grenzt an Hybris, ebenso wie sein Glaube, mithilfe des Geistes die Welt erklären zu können, ein recht naives und aussichtsloses Unternehmen darstellt. Eben diese Vergeistigung Settembrinis, welche seinen Zugang zum Leben in gewissem Sinne erschwert, macht ihn zu einer Karikatur des intellektuellen Literaten, der sich vor allem durch Realitäts- und Praxisferne auszeichnet. Vielleicht macht gerade dies ihn zu dem „komischen Gegensatz zur Todesfaszination“, als die Thomas Mann seine Figur ursprünglich angelegt hatte. 208 Als Mentor und Fremdenführer Hans Castorps erinnert Settembrini neben Hermes Trismegistos zudem an Hermes Psychopompos, gerade auch wegen seiner Attribute, einem breitkrempigen Hut und einen Gehstock. Settembrini selber geriert sich jedoch lieber als Vergil, welcher seinen „Dante“ durch die Unterwelt geleitet. Kurz vor der Rückkehr Mme Chauchats sagt er zu seinem Schützling: „Ihre Beatrice kehrt zurück? Ihre Führerin durch alle neun kreisenden Sphären des Paradieses? Nun, ich will hoffen, daß Sie auch dann die leitende Freundeshand Ihres Virgil nicht ganz verschmähen werden.“ (ZB, S.783). Dies wiederum scheint insofern eine treffende Rolle für Settembrini zu sein, da er Hans Castorp ja tatsächlich während seines Aufenthaltes betreut und anleitet. Zudem ermutigt er Hans Castorp zu seinem Abenteuer im Schnee, wenn er ihn darin bestärkt, sich Skier zuzulegen (Vgl. ZB, S.714). So scheint die Erkenntnis, welche dem Protagonisten in der „wattierten Lautlosigkeit“ zuteil wird, schon in gewisser Weise von Settembrini vorgegeben zu sein, wenn dieser nur wenige Seiten vorher bemerkt: „Das Erlebnis des Todes muß zuletzt das Erlebnis des Vgl. auch Hans Wysling. „Der Zauberberg“ In: Helmut Koopmann (Hrsg). Thomas Mann Handbuch. Kröner Verlag. Stuttgart. 2001. S.404. 208

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Lebens sein, oder es ist nur ein Spuk.“ (ZB, S.690). Der Mentor begreift den Tod als Bestandteil des Lebens und nimmt somit Hans Castorps Läuterung in seinen Ansichten zum Tode vorweg. Insofern erinnert der italienische Literat tatsächlich an den Dante geleitenden Dichter Vergil und der Zauberberg wird zum in das 20. Jahrhundert transponierten Läuterungsberg. Wie die Kapitelüberschrift „Satana“ jedoch andeutet, bleibt dies nicht die einzige Figur, welche Settembrini unterlegt ist. In dem den Italiener einführenden Kapitel wird mehrfach auf den Satan angespielt, und nicht zuletzt Settembrini selbst verweist auf seine Affinität zu dem Teufel, den Carducci in seiner Hymne besingt. Wie Joachim Schoepf ausführt, handelt es sich dabei aber nicht um einen infernalischen Teufel im klassischen Sinne, einen Abkömmling des Bösen, sondern um einen Teufel der Aufklärung, einen Lichtbringer, wie der Engel Lucifer einst auch einer war, als er gegen Gott frevelte. Ebenso rückt ihn dies in die Nähe Prometheus', der ganz Ähnliches tat, indem er den Göttern das Feuer stahl, um es dem Menschen zu überbringen. Im Sinne Carduccis können sowohl Lucifer als auch Promotheus als Humanisten gelten, die dem Menschen wohlgesonnen sind, da sie Vernunft und Fortschritt verkörpern.209 Als „literarische“ Teufelsfigur tritt Settembrini vor allem in der Karnevalsnacht auf, während derer er in die Rolle Mephistos schlüpft. Er bemerkt gleich zu Beginn der Feierlichkeit, dass der Berg heute „zaubertoll“ sei, wie es in Goethes Faust heißt. Zudem warnt er Hans Castorp in Betreff auf Clawdia Chauchat: „Lilith ist das.“ Und erläutert auf Nachfragen des der apokryphen Schriften unkundigen Hans Castorps: „Adams erste Frau.“ Lilith nämlich wird vor allem in hebräischen Schriften, etwa im Talmud, als erste Frau und Verführerin Adams beschrieben. Gott soll Adam und sie als gleichberechtigte Partner erschaffen haben, weshalb Lilith sich auch als eigenständig handelndes und emanzipiertes Wesen verstanden haben soll. Dass sie auch von Adam ihre Gleichberechtigung eingefordert hat, soll zum Bruch der beiden geführt haben. Obwohl Settembrini also die „Höllenrichter“ Krokowski und Behrens gerne als „hinkende Teufel“ bezeichnet, trägt auch er Züge einer infernalischen Gestalt. Allerdings unterscheidet er sich insofern von ihnen, als er sich dem Fortschritt und dem Humanismus auf Tiefste verplichtet fühlt. Die widersprüchlichen Prinzipien, die sowohl seiner als auch Hans Castorps Seele innewohnen, verweisen somit auf die Ambivalenz des menschlichen Seins, welche nur in der Überwindung der Gegensätze aufgehoben werden kann. Darüber hinaus erinnern sie aber auch an die gegenseitige Bedingtheit von Kategorien wie etwa Gut und Böse, Leben und Tod. Das eine Prinzip ist ohne das andere nicht denkbar, doch nur wenn der Mensch die Mitte zwischen diesen Extremen findet, kann er zu sich selber und somit zu transzendenter Erkenntnis finden. Vgl. Joachim Schoepf. Die pädagogischen Konzepte in Thomas Manns Zauberberg und ihre Wirkung auf die Hauptfigur Hans Castorp. Tectum Verlag. Marburg. 2001. S.29. 209

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2.5.2 Hans Castorp – ein „Sorgenkind des Lebens“ Hans Castorp scheint für die Schattenwelt des Berghofes geradezu prädestiniert zu sein. Von Kind auf ist er blutarm, wie die toten Seelen Homers, und wird zudem schon als junger Knabe zum Vollwaisen. Auch sein Großvater verstirbt noch während Castorps Jugendjahren, und so glaubt dieser mit dem Tode sehr gut umgehen zu können, ja geradezu auf gutem Fuß mit diesem zu stehen. Er hegt sogar eine gewisse Affinität zum Tode und findet, dass eine regelrechte Ehrhaftigkeit mit diesem einhergehe. Es macht ihm nichts aus, etwa zu Madame „Tous les deux“, deren beide Söhne verstorben sind, hinzutreten und sein tiefstes Beileid auszudrücken. In solchen Situationen fühlt er sich viel eher in seinem Element. Lotti Sandt spricht von einem „Mitleiden“ mit den betroffenen Personen, jedoch nicht im Sinne von Mitleid, wie dies in Dantes Divina Commedia zu beobachten ist, sondern im Sinne tatsächlichen Verständnisses, da er selber so viele Erfahrungen mit dem Tode gemacht hat.210 Seine Affinität zum Tode bewahrt Hans Castorp über die sieben Jahre auf dem Berghof hinweg, findet aber gerade über diese auch zum Verständnis und zur Liebe des Lebens, sodass sie keineswegs rein negativ besetzt ist, sondern positive Erfahrungen für den Protagonisten zeitigt. Trotz des erfolgreich abgeschlossenen Studiums ist Hans Castorp kein Freund der Arbeit. Schon als Kind neigt er zu Schläfrigkeit und Träumereien und musste in der Schule einige Klassen wiederholen (Vgl. ZB, S.54f.). Aus Pflichtbewusstsein und Konvention hat er einen beliebigen Beruf ergriffen, ohne dass er sich so recht für diesen begeistern könnte (ZB, S.55f.). Sein Buch „Ocean Steamships“, welches ihm die Reise verkürzen sollte, öffnet er kaum und auch auf dem Berghof selber kann er sich zum Lesen und zur Weiterbildung in seinem Beruf nur schwer entschließen. Viel lieber lässt er seine Gedanken schweifen, träumt ins Blaue hinein oder „regiert“, wie er es zu nennen pflegt, wenn er Studien bezüglich der Beschaffenheit der Welt und des Menschen anstellt. Bereits im Laufe der ersten Tage auf dem Berghof wird der Hamburger träge und schlapp, sodass er den „ungewöhnlich bequemen“ Liegestuhl, welcher an den Gondelsitz Gustav Aschenbachs gemahnt, freudig begrüßt und die vorgeschriebene Liegekur als durchaus wohltuend empfindet. Zudem spricht er mit Vorliebe dem Alkohol zu. Schon als Knabe beinhaltete sein drittes Frühstück ein Glas Portwein, um seine Anämie etwas zu bessern, aber auch auf dem Berghof genehmigt sich Hans Castorp regelmäßig Porter oder Schoppen. Auch Zigarren liebt er über alles, selbst wenn sie ihm aufgrund der Höhenlage anfangs nicht so recht schmecken wollen (Vgl. ZB, S.82). Der Genuss von Alkohol und Zigarren passt insofern zu seinem Lebenswandel, als diese einen leisen Rausch Vgl. Lotti Sandt. Mythos und Symbolik im Zauberberg. S.152.

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über ihn kommen lassen sowie eine Neigung zur Schläfrigkeit, die ihrerseits wieder die Träumereien des Hamburgers begünstigt. Ähnliche Wirkung mag die von ihm hoch geschätzte Musik auf ihn haben, laut Sandt durchaus eine „dionysische Komponente, die zum Rauschhaften verführt.“211 Auch zeigt sich Hans Castorp als Nostalgiker, der halb bewusst in den Spuren seiner Ahnen wandelt. Die Taufschale und der Erbsiegelring seines Großvaters haben es ihm in jungen Jahren ganz besonders angetan. Wenn der Großvater von den sieben Urgroßvätern Hans Castorps spricht und davon, wie die Taufschale über deren Häuptern schwebte, lauscht der Knabe „mit träumerischen Augen und schläfrigem Mund“, er glaubt „modrig-kühle Luft“ zu atmen und empfindet zugleich „Ziehendes und Stehendes, eines wechselnden Bleibens, das Wiederkehr und schwindelige Einerleiheit war.“ (ZB, S.38ff.). Schon als Kind fügt sich Hans Castorp in die mythische Rolle, die die Wiederholung der großväterlichen Taufriten mit sich bringt und die mit einer Aufhebung seiner Individualität einhergeht. Er versucht „aus der Welt der Individuation auszubrechen“, indem er die Bindung zu den Vorfahren sucht und vollführt somit die von Clawdia Chauchat als notwendig bezeichnete Aufgabe seiner selbst. Dieser Vorgang der Entindividuation resultiert jedoch nicht, wie Lotti Sandt vermutet, in einer Individuation und einem Erkennen Hans Castorps seiner selbst als Einzelwesen,212 sondern sie entspricht dessen Bewusstsein, dass seine Figur mythische Züge annimmt und er nicht zufällig nach Davos verschlagen wurde. Überhaupt ist der junge Mann nicht so naiv und gewöhnlich, wie dies der Romananfang zunächst vermuten lässt. Zwar lauscht Hans Castorp seinen beiden Mentoren Naphta und Settembrini stets interessiert, kann ihnen aber innerlich nicht immer zustimmen und erhebt sich zu Ende des Romans, nicht zuletzt mit der Hilfe Mynheer Peeperkorns, über die beiden „Schwätzerchen“, da er einsieht, dass die Welt und der in ihr lebende Mensch nicht allein mithilfe des Verstandes fassbar sind. Diese Einsicht wird ihm auch in dem Kapitel „Forschungen“ zuteil, in welchem er trotz kosmologischer Studien u. ä. erkennt, dass das Trachten nach (Selbst-)Erkenntnis vergeblich sein muss, da das Leben nicht vom Geist getragen ist.213 Er nimmt sozusagen eine ironische Haltung an, welche seine kritische Distanz und Objektivität zu den Dualismen Settembrinis und Naphtas ausdrückt. Thomas Mann selber bezeichnete eine derartige Ironie einst als „Pathos der Mitte“, und in der Tat macht sich Hans Castorp, auch als Herrscher über die Gegensätze, eben jene Mittlerposition zu eigen, die für den Autor stets etwas typisch Deutsches symbolisierte.214 Und eben als dieser Mittler, als der Hans Lotti Sandt. Mythos und Symbolik im Zauberberg von Thomas Mann. S.141. Vgl. ebd. S.60. 213 Vgl. Klaus Dieter Sorg. Gebrochene Teleologie. Studie zum Bildungsroman von Goethe bis Thomas Mann. Winter Verlag. Heidelberg. 1983. S.180. 214 Vgl. Thomas Mann. Betrachtungen eines Unpolitischen. Große kommentierte Frankfurter Ausgabe. Bd. 13. 2009. S.103. 211

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Castorp auftritt, geradezu als Schnittpunkt und Schnittmenge der verschiedenen Figuren des Zauberbergs, in welchem sich die anderen Charaktere spiegeln, erscheint die Hauptfigur als Inkarnation des Hermes, dessen Hauptfunktion schon immer die des Mittlers gewesen ist. Die Erkenntnis, welche Hans Castorp während seines Aufenthaltes zuteil wird, bezeichnet eben das „zwischen“, welches die Synthese der Gegensätze impliziert. So teilen sich im Hebräischen das Wort für „zwischen“ und jenes für „Erkenntnis“ bezeichnenderweise den gleichen Wortstamm. 215 Stilistisch spiegelt sich das vermittelnde Element, das „Sowohl als auch“ vor allem in der Ironie Thomas Manns wider, die eines der häufigsten Stilmittel im Zauberberg darstellt. Sie versöhnt seiner Ansicht nach das „entweder oder“ und zeigt die Möglichkeit eines „sowohl als auch“ auf, wenn sie verschiedene Ansichten oder Phänomene nebeneinander bestehen lässt, ohne sie in Frage zu stellen.216 Die Ironie impliziert somit die Einheit allen Seins - etwa von Leben und Tod, Geist und Körper - und erhebt sich somit über einen vereinfachenden, ewig im Widerstreit liegenden Dualismus im Sinne Settembrinis und Naphtas. Die Analyse der Figurenkonstellation im Zauberberg legt nahe, dass auf dem Berghof eine weltanschauliche Hierarchie herrscht, die von Peeperkorn und Chauchat angeführt wird. Durch die Begegnung Castorps mit der östlichen Philosophie lernt er die Sünde als Kehrseite der Läuterung und damit die Koinzidenz der Gegensätze zu begreifen.

2.5.3 Die Reise zur Schattenwelt des Berghofes Bereits die Reise Hans Castorps hinauf zum Berghof lässt sich als Hadesfahrt deuten.217 In der Odyssee heißt es, „welch ein Wagnis zum Hades zu steigen!“ und auch Hans Castorp legt eine beachtliche Steigung zurück, „bergauf und bergab (…) über Schlünde, die früher als unergründlich galten.“ (ZB, S.11). Zu Ende ist Hans Castorp ganz verwirrt ob der Täuschungen, die das stetige Auf und Ab mit sich bringen. Schon früh stellt er fest, dass das Flachland in weite Ferne rückt, nicht nur von der tatsächlichen Distanz her, sondern auch aus seiner Empfindung heraus. Schnell geraten ihm Hamburg sowie sein Beruf aus dem Sinn, denn „Fernluft ist auch so ein Trank“. So scheint es, als habe er auch die Lethe überquert, welche ihm seine Gewöhnung an „eigentümlich dünne und spärliche Lebensbedingungen“, die auf dem Zauberberg herrschen, erleichtert. Später zeigt sich, dass diese Reise nicht nur seine Empfindungen, sondern auch seinen Intellekt stimulieren soll, und Vgl. Lotti Sandt. Mythos und Symbolik im Zauberberg von Thomas Mann. S.24. Vgl. Martin Walser. „Ironie als höchstes Lebensmittel oder: Lebensmittel des Höchsten“ In: Heinz Sauereßig. Besichtigung des Zauberbergs. Verlag Wege und Gestalten. Biberach an der Riss. 1974. S.188f. 217 Vgl. auch Walter Jens. Statt einer Literaturgeschichte. S.169. 215 216

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zu einer Reise ins Reich des Unbewussten und der Träume wird. Zudem lernt der junge Ingenieur durch seine Mentoren die verschiedenen philosophischen und politischen Strömungen Europas kennen: „Hans Castorp participe en un vertigieux sur-place du discours de tous les educateurs sur l'Europe.“218 Bei seiner Ankunft begegnet ihm eine an den Teufel gemahnende Gestalt, nämlich der hinkende Concierge, welcher sein Gepäck versorgt. Die Luft fügt sich in die infernalische Atmosphäre ein, da sie frisch ist, der Seele aber nichts zu sagen weiß. Wie die Schattengestalten, welche den Berghof bevölkern, ist auch sie seelenlos. Zudem entspricht Joachims eigentümliche Geschichte, dass die Leichen im Winter in Bobschlitten ins Tal transportiert werden, der makabren und düsteren Schilderung des Berges. Schon sehr bald spürt Hans Castorp die physischen Auswirkungen seines extremen Aufstiegs. Fieber plagt ihn, und dennoch friert und zittert er am ganzen Leibe. Sein Körper scheint sich nicht zwischen extremer Hitze und eisiger Kälte entscheiden zu können. Wie auch im Doktor Faustus ist die Unterwelt des Berghofes von Extremen geprägt, die es zu überwinden gilt. Der Atmosphäre gemäß gleichen die Patienten des Sanatoriums den Schatten der Unterwelt, da sie sich als typisierte Figuren kaum entwickeln und dem Leben des Flachlandes gänzlich entrückt sind. Auf der anderen Seite erinnern sie aber auch an die Seligen, welche das Elysium bewohnen, da sie sich ganz ihrer Krankheit, vor allem aber der Liederlichkeit des Lebens hingeben. Die Stimmung auf dem Berghof ist stets ausgelassen, sei es während der Mahlzeiten oder in abendlicher Runde. Häufig wird gespielt, auch wenn die Vorschriften des Hauses dies eigentlich verbieten. Es scheint allerdings so, als ob Verstöße, wie etwa das orgiastische Bachanal Peeperkorns, nicht geahndet würden. Der Hang zu Übermut und Entgrenzung offenbart sich Hans Castorp gleich am ersten Morgen seines Aufenthaltes, da er beschämt feststellen muss, dass seine russischen Nachbarn offenbar Beischlaf halten, wobei ihm aufgeht, dass er schon am vorigen Abend auffälliges Gestöhne und Gekicher vernommen zu haben glaubte (Vgl. ZB, S.63). Neben Einflüssen der homerischen Nekyia und der Vergilischen Aeneis scheinen zudem Motive der dantesken Vorhölle, des Limbus, in die Schilderung des Berghofes eingegangen zu sein, da dort die lauen und unentschiedenen Seelen weilen, und auch der Protagonist selber sich anfangs von allerhand Ansichten einnehmen lässt, ohne so recht Partei ergreifen zu wollen. Er legt ein gewisses Phlegma an den Tag, welches sich auch darin offenbart, dass er beim Auftreten Mynheer Peeperkorns - zum Missfallen Mme Chauchats - keineswegs eifersüchtig reagiert, sondern die Existenz eines Nebenbuhlers geradezu gelassen hinnimmt. Die zahlreichen katabatischen Motive machen den Aufenthalt auf dem Berghof zu einer Claude Herzfeld. La littérature, dernier refuge du mythe? L'Harmattan. Paris. 2007. S.49.

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existentiellen „Grenzerfahrung der Totenwelt“, welche ein mythisches Weltverständnis propagiert, „dessen Grundzüge Zeitlosigkeit, Realitätsferne und Geschichtsentfremdung bilden.“219 Die Inanspruchnahme historischer Wahrheiten durch die Geschichtsschreibung wird somit kritisch reflektiert und ad absurdum geführt, da auch der Berghof letztlich vom „Donnerschlag des Krieges“ erfasst wird. Nicht nur im Flachland strebt die Atmosphäre diesem Blutrausch entgegen, sondern „Stumpfsinn“ und „die große Gereiztheit“ scheinen auch in Davos den Krieg vorzubereiten. Langeweile und Überdruß veranlassen die Bewohner zu allerlei „Versuchungen der Hölle“ und resultieren in einer sich erst im Krieg entladenden Spannung.

2.5.4 Der Traum als Zugang zur internalisierten Unterwelt In Bezug auf die katabatische Motivik im Zauberberg sind besonders die Träume Hans Castorps von Bedeutung, da sie in das Reich des Unbewussten führen und zudem eine erste mögliche Koinzidenz der Gegensätze verheißen. Dierks betont überdies, dass die vielen Träume Castorps ihm nicht nur Auskunft über seine eigene Person, sondern auch über die Menscheit im Allgemeinen zu geben vermögen.220 Begünstigt werden Castorps Träume durch seine schon in der Kindheit auszumachende Neigung zu Trägheit und Schläfrigkeit,221 sowie durch seine Vorliebe für Alkohol, der ihn ebenfalls schläfrig werden lässt. Bereits an seinem ersten Morgen auf dem Berghof erinnert sich Hans Castorp eines recht wirren Traumes, in welchem er die jüngsten Eindrücke seines neuen Lebens verarbeitet. Von tiefenpsychologischer Bedeutung scheint aber erst der zweite Traum zu sein, welcher sich seinem ersten längeren Spaziergang anschließt: „Da fand er sich auf einmal in jene frühe Lebenslage versetzt, die das Urbild eines nach neuesten Eindrücken gemodelten Traumes war, den er vor einigen Nächten geträumt.“ (ZB, S.183). Hans Castorp träumt zunächst von einer tatsächlichen Begebenheit, nämlich wie er als junger Knabe den Bleistift seiner Jugendliebe Pribislav Hippe geliehen hatte. Nach langjähriger Verdrängung fällt ihm wieder ein, wie sehr er diesen Jungen damals still verehrte, ja sogar die Schnipsel seines Bleistiftes, welcher als Phallussymbol fungiert, in seinem Pult aufbewahrte, ehe seine Leidenschaft dann langsam wieder abflaute. Vor allem offenbart dieser Traum ihm aber, dass Rolf Geißler. Dekadenz und Heroismus. Zeitroman und völkisch-nationalsozialistische Literaturkritik. Deutsche Verlags-Anstalt. Stuttgart. 1964. S.120. 220 Manfred Dierks. „ »Spukhaft, was?« “ Über Traum und Hypnose im Zauberberg“ In: Thomas Mann Jahrbuch 24. Klostermann Verlag. 2011. S.73. 221 Gisela Bensch. Träumerische Ungenauigkeiten. Traum und Traumbewusstsein im Romanwerk Thomas Manns: "Buddenbrooks" - "Der Zauberberg" - "Joseph und seine Brüder" V & R Unipress. Göttingen. 2004. S.62. 219

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seine Faszination für Clawdia Chauchat nichts anderes als dieses Interesse für seinen Schulkameraden Hippe widerspiegelt. Überhaupt scheint er sich für die junge Russin derart zu begeistern, da sie jenem so sehr ähnelt: > Es war ganz Pribislav, wie er leibte und lebte. Ich hätte nicht gedacht, daß ich ihn je so deutlich wiedersehen würde. Wie merkwürdig ähnlich er ihr sah, - dieser hier oben! Darum also interessiere ich mich so für sie? Oder vielleicht auch: habe ich mich darum so für ihn interessiert? Unsinn! Ein schöner Unsinn. Ich muß übrigens gehen, und zwar schleunigst. < Aber er blieb doch noch liegen, sinnend und sich erinnernd. (ZB, S.189)

Auffällig an den Überlegungen Castorps ist der erneute Verdrängungsgedanke. Zunächst ist er sich ganz sicher, dass sein Interesse für Clawdia auf der Ähnlichkeit mit seiner Jugendliebe Hippe beruht. Daraufhin tut er diesen Gedanken mit einem entschiedenen „Unsinn“, worauf ein Ausrufungszeichen folgt, ab. „Ein schöner Unsinn“ schließlich wird nur noch von einem Punkt gefolgt, bis er schließlich doch liegenbleibt und weiter über den Zusammenhang der beiden Leidenschaften seines Herzens nachsinnt. Dies zeigt auch die Ambivalenz des Ausdrucks. Zum einen empfindet Castorp den Traum als kindliche und unsinnige Gedankenspielerei, den er als Unfug abtut. Auf der anderen Seite aber hängt Castorp diesem schönen Unsinn nach, da er in seiner Multiperspektivität die Vielzahl der Möglichkeiten (im Gedanken) aufzeigt. Das Verschmelzen der beiden Figuren verweist auf den mythischen Charakter der Erzählung. Sowohl die Berghofbewohnerin als auch der ehemalige Schulkamerad evozieren das Motiv des Todes, Clawdia durch ihre Ähnlichkeit zu Persephone, Pribislav Hippe aufgrund seines Namens. Auch ihre zaghafte, geradezu schwächliche Gestalt suggerieren Krankheit und Todesnähe. Die Entindividualisierung, welche hier durch die mythische Reinkarnation Hippes in der Person Clawdias ihren Ausdruck findet, zeigte sich zuvor schon bei Hans Castorp selber, wenn er in den Spuren seiner Ahnen zu gehen versucht und somit zur Selbstaufgabe seiner Person beiträgt. Ähnlich verhält es sich mit Mme Chauchat und Hans Castorps Jugendliebe, bei genauer Betrachtung aber auch mit Settembrini und Naphta, die augenscheinlich kaum unterschiedlicher sein könnten, gegen Ende des Romans dennoch in einen Topf geworfen werden, wenn sie als „Schwätzerchen“ abgetan werden, deren Gedankenkonstrukte ähnlich realitätsfern wie die zu Vereinfachung neigende Geschichtsschreibung sind. Der zweite nennenswerte Traum ist als solcher nur schwer zu erkennen, da er sich in einer Passage der fiktionalen Realität abspielt, die Castorp jedoch wie ein Traum erscheint. Dass es sich um einen tatsächlichen Traum Castorps handelt, in dem Chauchat und Settembrini Teilaspekte seines eigenen 102

Unbewussten darstellen,222 – so Luca Creszenzi – scheint hingegen zu weit gegriffen. In der Karnevalsnacht wiederholt sich die Hippe-Episode, während derer sich Hans Castorp einst einen Bleistift lieh. Daher bezeichnet dieser den Verlauf des Abends auch als „rêve bien connu“, wenn er sich wiederum einen Bleistift borgt, nur diesmal von der schönen Mme Chauchat, um mit geschlossenen Augen ein albernes Schweinchen zu zeichnen, eine Anspielung auf die Circe-Episode in der Odyssee, in welcher ebenfalls Ausschweifung und Liederlichkeit walten, ganz wie zu Fastnacht. Das Gespräch verläuft für Hans Castorp wie im Rausch, ein Traum wird wahr, womit die Karnevalsnacht für ihn die Erfüllung eines Wunschtraums im Sinne Sigmund Freuds realisiert. Dass Hans Castorp sich während des Gespräches vor allem des Französischen bedient, entspricht zunächst seiner Vermittler-Rolle, da er versucht, östliche und westliche Philosophie miteinander zu versöhnen, indem er sowohl die Philosophie Mme Chauchats als auch die Settembrinis zum Ausdruck bringt. Die Wahl des Französischen - anstelle des Deutschen, Russischen oder Italienischen - kann also als Ausdruck der Neutralität sowie des aufklärerischen Ideenguts gelten. Bedeutsam ist zudem, dass die Verwendung des Französischen Hans Castorp, zumindest dessen eigenem Empfinden nach, jedweder Verantwortung entbindet: „moi, parler francais, c'est parler sans parler, en quelque manière, - sans responsabilité, ou comme nous parlons en rêve.“ (ZB, S.511). Die Sprache der Liebe und der Fastnacht ermöglicht es ihm, seine sexuell motivierten Träume zu realisieren. Sie befähigt ihn, seine Schüchternheit und sein Pflichtbewusstsein zu vernachlässigen, um sich der fleischlichen Sünde hinzugeben, die Prämisse für seine Läuterung ist. Auch die Sprache Clawdias hat Symbolcharakter. Ihre Aussage, dass zu wahrer Moralität völlige Selbstaufgabe sowie der Durchgang durch die Sünde vonnöten seien, trägt starke Anklänge an das Luzifer-Evangelium, welches das „anarchische Ja-Sagen zu Auflösung, Krankheit und Tod“ lanciert.223 So bezeichnet Oskar Seidlin die Walpurgisnacht denn auch als Tiefpunkt Hans Castorps, da hier die Hölle losbreche und der Protagonist ganz der Fleischeslust anheimfalle. Seidlin vernachlässigt jedoch, folgt man der Auffassung Chauchats, dass der Durchgang durch den Tod zum Leben führt, der Durchgang durch die Sünde zu wahrer Läuterung, und die Episode somit durchaus positiven Charakter trägt, da sie Hans Castorp seiner Erkenntnis ein Stück näher bringt. Ulrich Karthaus liest dieses Kapitel sogar als Peripetie des Zauberbergs, in welcher die Erkenntnis, die Hans Castorp in „Schnee“ zuteil wird, vorweggenommen wird. 224 Ein weiteres Mal betonen die Aussagen Hans Castorps das Ineinanderfallen verschiedener Personen Luca Creszenzi. „Traummystik und Romantik. Eine Vision im Zauberberg“ In: Thomas Mann Jahrbuch 24. Klostermann Verlag. 2011. S.106ff. 223 Oskar Seidlin. „Das hohe Spiel der Zahlen: Die Peeperkorn-Episode in Thomas Manns Zauberberg“. S.121 222

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sowie verschiedener Zeiten. Menschheit und Geschichte werden in einem ewigen nunc stans begriffen: „C'est un rêve bien connu, rêvé de tout temps, long, éternel, oui, être assis près de toi comme à présent, voilà l'éternité. (…) Je t'ai déjà connue, anciennement, toi et tes yeux merveilleusem*nt obliques.“ Somit vereint der Protagonist im Geiste seinen alten Schulfreund Hippe und seine neue Liebe Clawdia Chauchat, darüber hinaus aber auch die Vorstellung von Liebe, Tod und Körper, denn „ces trois ne font qu'un. Car le corps, c'est la maladie et la volupté, et c'est lui qui fait la mort.“ (ZB, S.519). Mit dieser weiteren Verschmelzung dreier Elemente, welche häufig voneinander getrennt gedacht werden, scheint Hans Castorp auch die Idee der christlichen Dreieinigkeit wiederaufzunehmen und in gewissem Grade zu persiflieren, da die Synthese von Körper, Krankheit und Tod romantisch und dem Glauben feindlich anmutet. Diese Synthese nämlich ermangelt des spirituellen, transzendenten Momentes, welches für das Christentum von entscheidender Bedeutung ist. Schon während des Walpurgisnachtstraums wird also deutlich, dass die Träume Hans Castorps stets von der Erkenntnis begleitet werden, dass letztlich alles eins ist, dass die Schöpfung die Ganzheit allen Seins umfasst. Die scheinbaren Gegensätze von Mann und Frau, Körper – als Symbol für das Leben – und Tod koinzidieren. Bereits hier erscheint der junge Protagonist also als Herr der Gegensätze, welcher in seinem Weltverständnis über dasjenige eines Settembrinis oder eines Naphtas hinausgeht, indem er die Einheit und vielleicht auch die „Einerleiheit“ aller Dinge erkennt. Dies deckt sich auch mit dem vorletzten Satz des Romans, dass „Augenblicke kamen, wo dir aus Tod („Schnee“) und Körperunzucht („Walpurgisnacht“) ahnungsvoll und regierungsweise ein Traum von Liebe erwuchs.“ (ZB, S.1085). Der dritte Traum Hans Castorps bzw. dessen Deutung gehört zu den am meisten diskutierten Themenfeldern der Thomas-Mann-Forschung. Vieles ist über dieses Kapitel in der Mitte des Zauberbergs geschrieben worden, doch nur selten wurde es als Hadesfahrt gedeutet. Auch die vorliegende Arbeit wagt diese Behauptung nicht, versucht jedoch darzulegen, dass „Schnee“ als Erklimmen eines Läuterungsberges im Sinne Dantes gelesen werden kann und somit der Hadesfahrt zumindest insofern verwandt ist, als dieser Episode eine bedeutende Erkenntnis Hans Castorps innewohnt. So bezeichnet Wysling das Kapitel als „Durchbruch zum Mythos“,225 in dessen Sphären der mythisch besetzte Protagonist erstmals wirklich bei sich ist und die Weltenseele zu schauen vermag. Der Berg, welchen Hans Castorp mithilfe seiner Skier bezwingt, befindet sich fernab jeder Vgl. Ulrich Karthaus. „ »Il est plus morale de se perdre...« - Überlegungen zum Zauberberg“ In: Heinz Gockel; Michael Neumann; Ruprecht Wimmer (Hrsg.). Wagner, Nietzsche, Thomas Mann. Festschrift für Eckhard Heftrich. Klostermann Verlag. Frankfurt a.M. 1993. S.203. 225 Hans Wysling. „Probleme der Zauberberg-Interpretation“ In: Ebd. Thomas Mann Studien 13. Ausgewählte Aufsätze. 1963-1995. Klostermann. Frankfurt a.M. 1996. S.242f. 224

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Zivilisation. Er scheint aus der Welt gekommen und somit der Region des Geistes und weniger der des Lebens zugehörig. Umgeben von „wattierte(r) Lautlosigkeit“ und „Urstille“ - ein Wort, welches an die Taufschale des Großvaters erinnert - scheint sich Hans Castorp nicht nur ins Hochgebirge, sondern ins „Hochgefährliche“ zu begeben, welches Voraussetzung für seine spätere Erkenntnis ist.226 Das weiße Nichts, die weißliche Transzendenz, in welcher er sich bewegt, spiegelt die transzendente Erfahrung, welche dem Helden bevorsteht. Dieses Nichts jedoch wirkt äußerst bedrohlich auf den jungen Mann. Es ist, wie Mann selber es formuliert, das „Erlebnis der Ewigkeit, (…) des Todes, ein metaphysischer Traum“, welcher Furcht und Fremdheit zeitigt,227 dem Hans Castorp sich aber dennoch stellt. Zudem kann dieser Traum als Fortführung der Reise Hans Castorps gedeutet werden, und zwar sowohl des ersten Aufstieges zum Berghof, der so sehr einer Hadesfahrt glich, als auch des Spazierganges, welcher den Hippe-Traum zur Folge hatte und somit eine erste Steigerung von Hans Castorps Geist erkennen ließ.228 Während der Schneesturm im Hochgebirge immer wütender tobt und Hans Castorp den Eindruck hat, dass selbst sieben Mäntel der Eiseskälte auf dem Berg nicht wehren könnten, muss er nach einigem Herumirren entsetzt feststellen, dass er erneut an jenem Heuschober angelangt ist, an welchem er schon einmal vorbeigekommen war. „Das war des Teufels“ (ZB, S.733). Er hatte sich im Kreis bewegt. Diese Kreisförmigkeit der Bewegung Hans Castorps scheint auch den Ablauf der Geschichte zu versinnbildlichen, welche nach der Logik des Zauberbergs eben nicht linear verläuft: „Denn das sind lauter ausdehnungslose Wendepunkte, woraus der Kreis besteht, die Biegung ist unmeßbar, es gibt keine Richtungsdauer, und die Ewigkeit ist nicht >geradeaus, geradeausKarussell, KarussellDer Zauberberg< S.89. 228 Vgl. auch Borge Kristiansen. Thomas Manns Zauberberg und Schopenhauers Metaphysik. Bouvier Verlag. Bonn. 1986. S.208. 226 227

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eigentlich doch von alther Bekanntes erfahren wird. Er ist sich der Botschaft seines Traumes bereits bewusst, er fand sie ja schon in den vorigen Träumen in vager Gestalt vorweggenommen. In den folgenden Traumsequenzen jedoch soll sie sich manifestieren und zerebralen Ausdruck finden, also in das Bewusstsein Castorps Eingang finden. Nach den heimatlichen Eindrücken erscheint ihm ein tiefblaues Südmeer, vielleicht das des antiken Griechenlandes, einer ehemaligen Hochkultur, die für ihren Humanismus bekannt war und die somit schon die spätere Erkenntnis Hans Castorps vorwegnimmt. Das Panorama zeigt eine Bucht, Berge und Inseln. Am Strand tummeln sich wohlgesinnte „Sonnenleute“, deren Umgang miteinander und Ehrfurcht voreinander ebenfalls vorbildlich sind. Kristiansen beschreibt diese Szene als eine Art Wunschtraum Hans Castorps,229 und auch Wysling spricht von einem Menschheitstraum, welcher die Hoffnung auf ein goldenes Zeitalter hegt. 230 Das sich anschließende Blutmahl im Tempel, währenddessen zwei Hexen ein kleines Kind zerreißen und verschlingen, deutet er im Sinne Nietzsches, als Darstellung des dionysischen Prinzips, auf welchem alle apollinische Hochkultur fusst. In der Geburt der Tragödie entwickelt dieser die Theorie, dass die maßvolle apollinische Kunst die dionysische Kunst, welche mit ihr im Wettstreit liege, zum Unterbau habe, dass dieser Unterbau überhaupt erst die militärische und strenge apollinische Kunst ermögliche.231 Auffällig ist zudem, dass die Hexen im Heimatdialekt Hans Castorps sprechen und somit wiederum ein persönliches und vertrautes Element in den Traum einführen. Dies könnte nahelegen, dass das malträtierte Kind Hans Castorp symbolisiert, dessen Seele von den Philosophen Settembrini und Naphta hin und her gerissen wird. Ebenso plausibel erscheint jedoch die Annahme, dass der Dialekt der alten, grauen Weiber, die in vieler Hinsicht den Gorgonen ähneln, darauf schließen lässt, dass auch Hans Castorp das „böse“, dionysische Prinzip innewohnt, dass die Welt eben nicht dualistisch in Gut und Böse zu denken ist, sondern beide Eigenschaften miteinander vereint. Das kleine Kind fungiert dann als pars pro toto, um den Monismus der Welt zu exemplifizieren. Alle drei Phasen des „Schnee“-Traumes implizieren somit ein Wiedererkennen Hans Castorps, was ihm selber jedoch vor allem in Bezug auf die „Sonnenleute“ und die Welt der Antike auffällt. Er scheint sich an diese Vision regelrecht zu erinnern und beschreibt sie als ein „Wiedersehen“. Es scheint ihm, „man träumt nicht aus eigener Seele, (...) man träumt anonym und gemeinsam, wenn auch auf eigene Art. Die große Seele, von der du nur ein Teilchen, träumt wohl mal durch dich.“ (ZB, S.746). Dierks betont, dass Castorp hier an den platonischen Gedanken der Anamnesis

Vgl. Borge Kristiansen. Thomas Manns Zauberberg und Schopenhauers Metaphysik. S.225. Vgl. Hans Wysling. „Der Zauberberg“ S.413. 231 Vgl. Friedrich Nietzsche. Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik. S.12ff. 229 230

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anknüpfe, der ein metaphysisches Urbild der Liebe evoziere. 232 Dem visionären Traum des Protagonisten schließt sich dann sein „Gedankentraum“ an, in welchem Castorp eine eigene Interpretation des Geträumten darlegt und sich einer weitreichenden Erkenntnis bewusst wird: Der Mensch soll um der Güte und Liebe willen dem Tode keine Herrschaft einräumen über seine Gedanken. Und damit wach ich auf … Denn damit hab ich zu Ende geträumt und recht zum Ziele. Schon längst hab ich nach diesem Wort gesucht: am Orte, wo Hippe mir erschien, in meiner Loge und überall. Ins Schneegebirge hat mich das Suchen danach auch getrieben. Nun habe ich es. Mein Traum hat es mir deutlichst eingegeben, daß ich's für immer weiß. (ZB, S.748f.).

Hans Castorp erkennt in „Schnee“ den Tod als notwendigen Teil des Lebens an und vermag erstmals, sich über die Gegensätze innerhalb der Schöpfung zu erheben: Tod oder Leben – Krankheit, Gesundheit – Geist und Natur. Sind das wohl Widersprüche? Ich frage: Sind das Fragen? Nein, es sind keine Fragen, und auch die Frage nach ihrer Vornehmheit ist keine. Die Durchgängerei des Todes ist im Leben, es wäre nicht Leben ohne sie, und in der Mitte ist des hom*o Dei Stand – inmitten zwischen Durchgängerei und Vernunft – wie auch sein Staat ist zwischen mystischer Gemeinschaft und windigem Einzeltum. (ZB, S.747).

Hans Castorp übernimmt in diesem Kapitel also ganz die Mittler-Rolle des Hermes, wenn er zwischen philosophischen, aber auch politischen Gegensätzen vermittelt, anstatt diese scharf voneinander abzugrenzen.233 Thomas Mann selber betont, dass „Schnee“ somit eine Annäherung an das Positive bedeute, welche als Vorwegnahme der Synthese von Naphta und Settembrini gedeutet werden kann.234 Eine humanistische Ahnung weht den Protagonisten an, welche zu seiner Läuterung auf dem Zauberberg beiträgt. Rütten zufolge handelt es sich bei dieser Erkenntnis Castorps um eine Todesinitiation, die letztlich dem Leben dient, um eine „Verspottung des Todes und antiromantische Desillusionierung“, welche von der Lebensfreundschaft des Romanes zeugt. 235 Zudem wird dieser Traum eben nicht, wie gegen Ende des Kapitels vom Erzähler angedeutet, einfach vergessen, eine Ansicht, welche auch Borge Kristiansen vertritt, sondern bleibt Hans Castorps Gedanken verhaftet, da er selber ihn ja schon stets gewusst, schon lange geahnt hat, und nun endlich „weiß“ er ihn „für immer.“ 236 Manfred Dierks. „ »Spukhaft, was?« “ Über Traum und Hypnose im Zauberberg“ In: Thomas Mann Jahrbuch 24. Klostermann Verlag. 2011. S.79. 233 Vgl. hierzu auch Gerald Gillespie. Proust, Mann, Joyce in the Modernist Context. Catholic University of America Press. Washington D.C. 2003. S.199f. 234 Vgl. Thomas Mann. Selbstkommentare: >Der Zauberberg< S.76. 235 Vgl. Thomas Rütten. „Sterben und Tod im Werk von Thomas Mann“ In: Sprecher, Thomas (Hrsg.). Thomas Mann Studien 29. Lebenszauber und Todesmusik. Zum Spätwerk Thomas Manns. Klostermann Verlag. Frankfurt a.M. 2004. S.21ff. 236 Vgl. auch Hans Wysling. „Der Zauberberg“ S.415. 232

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In „Schnee“, wie auch in seinen anderen Träumen, offenbaren sich zum einen die Wünsche des Protagonisten, seien sie sexueller oder aber philosophischer Natur, zum anderen erfährt er aber eine weitreichende Erkenntnis, welche im Hochgebirge ihren Höhepunkt erfährt. „Schnee“ liefert somit die Synthese aller bisherigen Erfahrungen Hans Castorps und lässt ihn erkennen, dass der Tod Teil des Lebens ist und dieses zwar im stillen Hinblick auf die Vergänglichkeit geführt wird, die Gedanken jedoch stets auf das Leben als eigenständigen, vorherrschenden Wert gerichtet sein sollten. Der Mensch schafft also einen Ausgleich zwischen den Gegensätzen Tod-Leben, KörperGeist, Krankheit-Gesundheit und wird somit zum Beherrscher derselben. Hans Castorp fungiert in diesem Kapitel wahrlich als Hermes, welcher mit seinen geflügelten Skiern einen Berg bezwingt, dem die Funktion eines Läuterungsberges im Sinne Dantes zukommt, da Hans Castorp erst im Hochgebirge zu einer neuen Humanität findet, welche den Tod zwar akzeptiert, aber über diesen hinaus zu gehen vermag.

2.5.5 Ausleuchtung des Inneren Dass er sterben wird, begreift Hans Castorp erstmals während seiner Untersuchung im Durchleuchtungslabor des Hofrat Behrens. Auch diese Episode bietet Einblicke in das jenseitige Leben, was den Protagonisten einerseits sehr fasziniert, andererseits verstört. Der Hofrat begrüßt die Vettern als die Dioskuren Castor und Pollux, ein von Zeus abstammendes Zwillingspaar, welches aus der griechischen Mythologie bekannt ist und insofern der Szene entspricht, da die Brüder nach ihrem Tod täglich zwischen Hades und Olymp hin- und herwandeln und somit eine ähnliche Grenzgängerfunktion wie Hermes Psychopompos übernehmen. Behrens fährt fort mit den Worten: »Warten Sie nur, gleich werden wir Sie alle beide durchschaut haben. Ich glaube, Sie haben Angst, Castorp, uns Ihr Inneres zu eröffnen? Seien Sie ruhig, es geht ganz ästhetisch zu. Hier, haben Sie meine Privatgalerie schon gesehen?« Und er zog Hans Castorp am Arm vor die Reihen der dunklen Gläser, hinter denen er knipsend Licht einschaltete. Da erhellten sie sich, zeigten ihre Bilder. Hans Castorp sah Gliedmaßen: Hände, Füße, Kniescheiben, Ober- und Unterschenkel, Arme und Beckenteile. Aber die rundliche Lebensform dieser Bruchstücke des Menschenleibes war schemenhaft und dunstig von Kontur; wie ein Nebel und bleicher Schein umgab sie ungewiß ihren klar, minutiös und entschieden hervortretenden Kern, das Skelett. (ZB, S.327).

Auch hier zeigt sich die Vorliebe des Hofrats für die Physiologie des Körpers. Seine Röntgenmethode entspricht der „Seelenzergliederung“ Krokowskis, nur dass Behrens eben den Körper seiner Patienten zergliedert, um die einzelnen Teile desselben sichtbar zu machen. „Schemenhaft und dunstig“, wie diese sind, gleichen sie den Schattenseelen des homerischen Hades und versinnbildlichen die Vergänglichkeit der menschlichen Hülle. 108

Die Durchleuchtung Joachims schließlich gleicht einer wahren Zaubernummer, während derer Behrens die Rolle Mephistos übernimmt, um seinen Faust zu unterhalten: Zwei Sekunden lang spielten fürchterliche Kräfte, deren Aufwand erforderlich war, um die Materie zu durchdringen, Ströme von Tausenden von Volt, von hunderttausend, Hans Castorp glaubte sich zu erinnern. Kaum zum Zwecke gebändigt, suchten die Gewalten auf Nebenwegen sich Luft zu machen. Entladungen knallten wie Schüsse. Es knatterte blau am Meßapparat. Lange Blitze fuhren knisternd die Wand entlang. Irgendwo blickte ein rotes Licht, einem Auge gleich, still und drohend in den Raum, und eine Phiole in Joachims Rücken füllte sich grün. Dann beruhigte sich alles; die Lichterscheinungen verschwanden, und Joachim ließ seufzend den Atem aus. Es war geschehen. (ZB, S.328).

Danach ist Hans Castorp selber an der Reihe, eine Aufnahme seines Innersten machen zu lassen. Auch wenn Hofrat Behrens natürlich nur rein physiologische Prozesse zu durchleuchten vorgibt, wird deutlich, dass der Vorgang die Einsicht in das Unbewusste spiegelt, welches im Berghof gefördert und gesteigert wird. Das Röntgenbild ist ein Symbol für die Reise Hans Castorps in sein eigenes Innenleben, für die Suche nach der eigenen Persönlichkeit, welcher der Protagonist vor allem während der ausgiebigen Liegekuren nachgeht, indem er sich in seine Studien vertieft. Wie das vorige Kapitel gezeigt hat, wird ihm seine mythische Rolle jedoch nicht auf seinem Freibalkon, sondern während seiner visionären Träume bewusst. Als Ausdruck des Unbewussten führen sie Hans Castorp zu einer Ahnung seiner selbst und der Welt. Im Folgenden erlaubt der Hofrat ihm die Gebeine Joachims zu betrachten sowie seine eigene Hand: Und Hans Castorp sah, was zu sehen er hatte erwarten müssen, was aber eigentlich dem Menschen zu sehen nicht bestimmt ist und wovon auch er niemals gedacht hatte, daß ihm bestimmt sein könne, es zu sehen: er sah in sein eigenes Grab. Das spätere Geschäft der Verwesung sah er vorweggenommen durch die Kraft des Lichtes, das Fleisch, worin er wandelte, zersetzt, vertilgt, zu nichtigem Nebel gelöst, und darin das kleinlich gedrechselte Skelett seiner rechten Hand, um deren oberes Ringfingerglied sein Siegelring, vom Großvater her ihm vermacht, schwarz und lose schwebte. (…) Und zum ersten Mal in seinem Leben verstand er, daß er sterben werde. (ZB, S.333).

Als „spukhaft“ bezeichnet der Hofrat den Vorgang, und so kommt es wohl auch Hans Castorp vor, wenn er seinen eigenen Tod vorweggenommen sieht. Die in dieser Episode begangene Unterweltschau erinnert vor allem an die Befragung Teiresias durch Odysseus, welcher durch den Besuch der Schattenwelt die Prophezeiung seines eigenen Todes erhält und daraufhin getrost seine Heimfahrt fortzusetzen vermag. Sie entspricht einer Sinngebung, welche die Irrfahrten nicht als nutzloses Unterfangen, sondern als Reise beschreibt, die einem Telos entgegen läuft. Für Hans Castorp zeitigt diese auf Homer rekurrierende Reise in das eigene Innenleben eine sehr ernüchternde Erkenntnis, deren er sich bislang nur halb bewusst war und welche ihm seine Vergänglichkeit vor Augen führt. Es scheint dementsprechend, dass er den Gedanken an den eigenen Tod zunächst verdrängt, wenn er einige Zeit später, in seiner Balkonloge, seine Hand gegen 109

die Sonne hält, um zu schauen, ob auch diese sie zu durchleuchten vermag. Erleichtert stellt er fest, dass „die analytische Grube, die er damals offen gesehen“, sich wieder geschlossen hatte. Seine Hand ist wieder zu einer „Lebenshand“ geworden, deren „Lebensform unberührt, sogar noch dunkler und undurchsichtiger wurde“ vor der Lichtheit der Sonne (ZB, S.342). Während der Durchleuchtung durch Hofrat Behrens wird sich Hans Castorp das erste Mal seines eigenen nahenden Todes bewusst, dass Leben sterben heißt, wie der Arzt es formuliert, scheint diese Realität aber noch nicht gänzlich akzeptieren zu wollen. Die Annahme dieses Gedankens gelingt ihm erst im Hochgebirge, während seiner Vision im „Schnee“.

2.5.6 „Versuchung der Hölle“ - Spiritistische Sitzungen Auch dem Kapitel „Fragwürdigstes“ sind katabatische Motive unterlegt. Mann greift hier vor allem die christliche Vorstellung der Hölle auf, denn der Protagonist selber bezeichnet die okkultistischen Sitzungen auf dem Berghof, welche anfänglich durch Gläserrücken den Verstorbenen Holger ins Leben zurückrufen, als „Versuchung der Hölle“. Unter der Leitung des „Teufelsknechtes“ Dr. Krokowski und mithilfe des Mediums Elly kommt es zur Materialisierung von Händen, Gliedern und Endorganen, ein weiterer Hinweis auf die Vorliebe der Ärzte für die Segmentierung des Körpers in seine Bestandteile. Hans Castorp, welcher bei der ersten Sitzung zugegen war, bleibt den Treffen gegenüber jedoch kritisch distanziert, da er diese Form der Totenbeschwörung nicht für würdig erachtet und sie die von ihm so geschätzte Ehrhaftigkeit des Todes vermissen lässt: „Die vorausgeahnte innere Hoffnungslosigkeit und Abgeschmacktheit des Ganzen hatte sich ihm doch so unverkennbar aufgedrängt, daß es, so dachte er, bei diesen wenigen Flocken Höllenfeuers, die ihn angestoben, sein Bewenden haben mochte.“ (ZB, S.1010). Es fehlt den Veranstaltungen an Mystik und Weihe, welche seiner Ansicht nach der Beschwörung Verstorbener angemessen wären. Stattdessen geht es im „Rotdunkel“ „laut und abgeschmackt“ zu. Zur Untermalung der Sitzungen läuft Musik und die Gesellschaft unterhält sich angeregt, während Elly unter Krämpfen den ersten Kontakt zu den Verstorbenen aufbaut. Den Höhepunkt des Kapitels bildet die Erscheinung Joachims, welche so eindringlich wie kaum eine andere Passage des Romans beschrieben wird und tiefsten Eindruck auf den trauernden Vetter Hans Castorp macht. Dessen Niedergeschlagenheit über den Tod Joachims zeigt sich vor allem während seiner Abende vor dem Grammophon, wobei insbesondere ein Gebet aus der Faust-Oper Gounods ihn an den Vetter erinnert: „Jemand trat auf, jemand Erz-Sympathisches, der Valentin hieß, den aber Hans Castorp im stillen anders nannte, mit einem vertrauteren, wehmutsvollen Namen, dessen Träger er in hohem Grade mit der aus dem 110

Kasten laut werdenden Person identifizierte, obgleich diese eine viel schönere Stimme hatte.“ (ZB, S.984). Eben jene Trauer wird für Hans Castorp unerträglich, wenn er den geliebten Vetter zu einem Schatten verwandelt vor sich sieht: Es war Joachim mit den schattigen Wangenhöhlen und dem Kriegsbart seiner letzten Tage, in dem die Lippen so voll und stolz sich wölbten. Angelehnt saß er und hielt ein Bein über das andere geschlagen. Auf seinem abgezehrten Gesicht erkannte man, obgleich es von einer Kopfbedeckung beschattet war, den Stempel des Leidens und auch den Ausdruck von Ernst und Strenge wieder, der es so männlich verschönt hatte. Zwei Falten standen auf seiner Stirn zwischen den Augen, die tief in knochigen Höhlen lagen, doch das beeinträchtigte nicht die Sanftmut des Blicks dieser schönen, groß-dunklen Augen, der still und freundlich spähend auf Hans Castorp, auf diesen allein, gerichtet war. (ZB, S.1032).

Beim Anblick des jungen Offiziers in seiner preußischen Uniform stockt der ganzen Gesellschaft der Atem. In seinem militärischen Aufzug fungiert Joachim als Allegorie des nahenden Weltkrieges und zugleich als Kritik an diesem. Seine Abgezehrtheit und seine beängstigende Erscheinung nehmen die Gräuel der Kriegsjahre vorweg und lassen das Leiden sowohl der Soldaten als auch der Hinterbliebenen erahnen.237 Die Erscheinung Joachims erfüllt die Gesellschaft mit ehrfürchtigem Schweigen, doch Dr. Krokowski fordert Hans Castorp auf, seinen Vetter anzusprechen. Dieser jedoch vermag den Anblick des geliebten Menschen kaum zu ertragen. Er schluchzt, weint und beendet den seiner Empfindung nach abgeschmackten Spuk, indem er, wie einst Settembrini, das grelle Weißlicht einschaltet. Während dieser Szene zeigt sich ganz deutlich, welche Veränderung Hans Castorp erfahren hat. Zum ersten Mal in seinem Leben scheint er wahrlich um einen Menschen zu trauern, da er den Tod nicht mit der einstigen Ehrfurcht und Affinität wahrnimmt. Hatte ihm der Tod der Eltern sowie des Großvaters kaum etwas ausgemacht, so ist der Protagonist durch das Verscheiden seines Vetters wahrlich erschüttert und niedergeschlagen. Erstmals erscheint ihm das Leben lebenswert und somit wertvoller als der Tod. Er bedauert zutiefst, dass Joachim dieses Leben lassen musste. Das Einschalten des Lichtes lässt ihn zudem die Rolle des Aufklärers übernehmen, welcher die romantische Todesfaszination mit seinem Akt überwindet, um sich gänzlich den Lebenden zuzuwenden. Castorps Verhalten entmythisiert diese romantisch konnotierte Todesaffinität, welche sich sowohl in der Begeisterung für den Okkultismus als auch für den Ersten Weltkrieg ausdrückt und die diesen zu weiten Teilen mit veranlasst hat. Der Protagonist entzaubert somit schon vor dem finalen Donnerschlage den Kriegstaumel Europas, der zu Anfang des 20. Jahrhunderts um sich greift.

Vgl. Antje Rausch. „Okkultes“ in Thomas Manns Der Zauberberg. Lang Verlag. Frankfurt a.M. 2000. S.91.

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2.5.7 Inferno des Schlachtfeldes Wie Thomas Mann ausführt, veranschaulicht die Handlung des Zauberberges unter anderem den „Dualismus von Geist und Natur“, den „Widerstreit von civilen und dämonischen Tendenzen“ und schließt: „Im Krieg wird dieses Problem ja eklatant, und in die Verkommenheit meines Zauberbergs soll der Krieg von 1914 als Lösung hereinbrechen.“238 Dieser fatale Ausgang stand für den Autor schon lange fest, da er seinen Schützling Hans Castorp entzaubern würde und den „Siebenschläfer“ unsanft vor die Tore setzt, um ihn ins wahre Leben zu entlassen: „Er sah sich entzaubert, erlöst, befreit, nicht aus eigener Kraft, sondern an die Luft gesetzt von elementaren Außenmächten.“ „Elementar“ wird hier wieder im Sinne Behrens' verwandt und verweist somit auf das, was vom Menschen im Einzelnen, aber auch von der Menschheit im allgemeinen am Ende der großen Gereiztheit übrig bleibt. Mit Grauen begreift Hans Castorp dort, „daß am Ende aller Dinge nur das Körperliche blieb, die Nägel, die Zähne. Ja, ja, man mußte sich wohl schlagen.“ (ZB, S.1061). Stumpfsinn und Gereiztheit, welche während der letzten Zeit von Hans Castorps Aufenthalt auf dem Berghof geherrscht hatten, kulminieren in einer „betäubenden Detonation lang angesammelter Unheilsgemenge“ und entreißen den jungen Mann seinem träumerischen Zustand: Wo sind wir? Was ist das? Wohin verschlug uns der Traum? Dämmerung, Regen, Schmutz, Brandröte des trüben Himmels, der unaufhörlich von schwerem Donner brüllt, die nassen Lüfte erfüllt, zerrissen von scharfem Singen, wütend höllenhundhaft daherfahrendem Heulen, das seine Bahn mit Splittern, Spritzen, Krachen und Lohen beendet von Stöhnen und Schreien, von Zinkgeschmetter, das bersten will, und Trommeltakt, der schleuniger, schleuniger treibt.... (ZB, S.1080).

Das ist die Hölle Dantes, das Inferno, in welchem Myriaden von Sündern unsägliche Qualen erleiden müssen. Die europäische Gesellschaft, welche in ihrer Blutlust so sehr auf diesen Krieg gedrängt hatte und durch blinden Ästhetizismus der Barbarei verfallen war, wird hier ihrer gerechten Strafe zugeführt und im wahrsten Sinne des Wortes auseinander gesprengt. „Zerstückeltes Menschentum“ ist alles, was auf diesem Schlachtfeld übrig bleibt, womit die Philosophie Behrens', dass der Mensch rein physiologisch betrachtet werden müsse und Leben eigentlich schon Sterben heiße, eine letzte Steigerung erfährt. Inmitten dieses kriegerischen Infernos also watet auch der Held des Romans durch die Überreste der Menschheit, Schuberts Lindenbaumlied, welches an den Tod gemahnt, auf den Lippen: Er stürzt. Nein, er hat sich platt hingeworfen, da ein Höllenhund anheult, ein großes Brisanzgeschoß, ein ekelhafter Zuckerhut des Abgrunds. Er liegt, das Gesicht im kühlen Kot, die Beine gespreizt, die Füße gedreht, die Absätze erdwärts. Das Produkt einer verwilderten Wissenschaft, geladen mit dem Schlimmsten, fährt dreißig Schritte schräg vor ihm wie ein Teufel selbst tief in den Grund, zerplatzt dort unten mit gräßlicher Übergewalt und reißt einen haushohen Springbrunnen von Erdreich, Feuer, Eisen, Blei und zerstückeltem Menschentum in die Lüfte empor. (ZB, S.1084). Thomas Mann. Selbstkommentare: >Der Zauberberg< S.11.

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Es scheint, Luzifer selber stürze hier aus höchster Höhe ins niedere Erdreich, um die Menschheit mit sich zu reißen und sie im Schlamm des Schlachtfeldes untergehen zu lassen. Ausgeklügelte Großgeschosse, welche erstmals im Ersten Weltkrieg Verwendung finden, sowie das jüngst eingesetzte Giftgas, werden zur teuflischen Ausgeburt der modernen Wissenschaft, die sich, anstatt wie im Sinne Settembrinis, lebenserhaltenden Forschungen zuzuwenden, dem Vernichten des Lebens verschreibt und somit zum Werkzeug des Teufels wird. So entzaubert der Donnerschlag nicht nur den Romanhelden, sondern mit ihm die Hoffnung auf Forschung und Fortschritt, welche die Aufklärung prägten, sowie den Krieg als solchen. Der von vielen hochstilisierte und aufs Äußerste idealisierte Erste Weltkrieg erfährt hier eine seiner brutalsten Beschreibungen und Entmythisierungen in der gesamten Weltliteratur. Er ist der mythischen Welt des Zauberbergs diametral entgegengesetzt und erscheint als nackte und brutale Realität. Im Gegensatz zu vielen seiner Vorgänger und Zeitgenossen entscheidet sich Thomas Mann für eine höllenhafte Darstellung des Kampfgeschehens und illustriert somit die Grausamkeit des Krieges und die Sinnlosigkeit des Leidens. Gesteigert und ironisiert wird diese Darstellung des Kriegsgeschehens noch durch die Anklänge an den Ausgang eines Märchenendes, in welchem die Protagonisten noch leben, „wenn sie nicht gestorben sind“.239 Aber gerade der Tod scheint das Schicksal aller Soldaten zu sein, welche in den Krieg ziehen. Sie ziehen aus, um für das Vaterland zu fallen und nehmen dem Leser somit die Hoffnung auf ein Überleben des heldenhaften Soldaten, nicht zu denken an ein märchenhaft glückliches Lebensende. Die einzige Hoffnung, welche bis zum Schluss des Romans bestehen bleibt, ist, dass „auch aus diesem Weltfest des Todes, auch aus der schlimmen Fieberbrunst, die rings den regnerischen Abendhimmel entzündet, einmal die Liebe steigen“ wird. (ZB, S.1085). Inge Diersen betont, dass das Wort Liebe im Werke Manns „weder karitative Nächstenliebe“ meint, „noch eine allgemeine Menschenliebe etwa im Sinne des expressionistischen Wandlungspathos, sondern Liebe zur Menschheit als Auftrag zu Gesellschaftsveränderung auf der Grundlage praktisch-tätigen Humanismus.“240 Diese Hoffnung auf Liebe wird genährt von den Augenblicken, in welchen Hans Castorp „aus Tod und Körperunzucht ahnungsvoll und regierungsweise ein Traum von Liebe erwuchs“, ein Traum, welchen er tief in seinem Innersten immer schon gekannt hat und für immer im Herzen tragen soll. Als mythischer Vertreter, dessen Schicksal das von vielen darstellt, scheint es möglich, dass seine Ahnung und seine Erkenntnis eingehen in die Weltenseele und in ferner Zukunft Erfüllung finden. Denn auch wenn „sein kleines Schicksal vor dem allgemeinen verschwand, Vgl. Hans Robert Jauß. Zeit und Erinnerung in Marcel Prousts »A la recherche du temps perdu« Ein Beitrag zur Theorie des Romans. S.49. 240 Vgl. hierzu auch Inge Diersen. „Epochenverständnis und poetische Konzeption in Thomas Manns Romanen der Reifezeit“ In: Helmut Brandt; Hans Kaufmann (Hrsg.). Werk und Wirkung Thomas Manns in unserer Epoche. Ein internationaler Dialog. Aufbau Verlag. Berlin. 1978. S.16. 239

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drückte nicht dennoch etwas von persönlich gemeinter und also von göttlicher Güte und Gerechtigkeit sich darin aus?“ (ZB, S.1079). Hans Castorp wird somit zum Helden, welcher in die Unterwelt hinabsteigt, nicht etwa, um wie Herakles den Cerberos zu entführen, sondern um wie einst Dante in der Divina Commedia sich des Lebens und des Wertes desselben bewusst zu werden. So wie Hans Castorp in den Spuren seiner Urgroßväter und in den mythischen Spuren Odysseus' und Dantes geht, so werden andere in seine Fußstapfen treten und die von ihm erlangte Steigerung im Sinne einer neuen Humanität für Europa in die Welt tragen. Die Analyse des Romans hat gezeigt, dass der Zauberberg zahlreiche Mythologeme aus der Odyssee Homers sowie der Aeneis Vergils entlehnt, dass die Funktion des katabatischen Topos aber vor allem mit der Funktion der Divina Commedia korreliert. Interessant scheint insbesondere die Umkehrung, welche Thomas Mann dem Stoff verleiht, indem er den Läuterungsberg des „Schnee“-Kapitels dem Inferno vorausgehen lässt und somit die Steigerung seines Helden zurückzunehmen scheint. Er selber bemängelt diesen Umstand, wenn er schreibt, dass „Schnee“ das „eigentliche geistige oder seelische Ergebnis der Bildungsabenteuer Hans Castorps“ sei und der einzig kursive Satz des Romans - Der Mensch soll um der Güte und Liebe willen dem Tode keine Herrschaft einräumen über seine Gedanken - auch seine Quintessenz enthalte.241 Der Berghof gleicht zwar einer Schattenwelt, in welcher die Charaktere Stereotypen entsprechen und nur sehr einseitig entwickelt sind, das Inferno aber entfaltet sich erst auf den letzten Seiten des Romans, wo der Krieg ein Bild des Grauens entwirft. Hans Castorp aber wird während seines Aufenthaltes auf dem Berghof, insbesondere während seines Ausfluges in das Hochgebirge zum Stoff der Läuterung zum Höheren242 und scheint einen kurzen Blick hinter den Schleier der Maya zu tun. Der Zauberberg gleicht somit dem Versuch, den Tod zur komischen Figur zu machen und Hans Castorps Todesaffinität zu desillusionieren. Auch ist es ja nicht ganz richtig, daß Hans Castorp gar nichts lernt, zu gar keinem Entschluß und keiner Entscheidung gelangt an seinem schlimmen Ort. Einsicht in die menschliche Vereinbarkeit von aristokratischer Todesverbundenheit mit demokratischer Lebensfreundlichkeit (…), Liebe zum Tod läutert sich wenigstens moment- und erleuchtungsweise zu einer Ahnung neuer Humanität, die er im Keim im Herzen trägt. 243

Durch die Umkehrung der dantesken Struktur scheint die humanistische Funktion des Romanes zwar etwas zurückgenommen, ist aber den Kommentaren des Autors zufolge durchaus noch präsent. Vgl. Thomas Mann. Selbstkommentare: >Der Zauberberg< S.123/175. Vgl. Joachim Schoepf. Die pädagogischen Konzepte in Thomas Manns Zauberberg und ihre Wirkung auf die Hauptfigur Hans Castorp. S.103. 243 Thomas Mann. Selbstkommentare: >Der Zauberberg< S.56ff. 241 242

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So beschreibt Antal Madl den Tod in Venedig als Ausdruck der Mannschen Krise in seinem Ringen um einen neuen Humanismus-Begriff, den Zauberberg aber als eindeutige Hinwendung zu diesem.244 Wie Dante versucht auch Thomas Mann seine Leser zu erziehen und durch die Missstände auf dem allegorischen Zauberberg auf die Probleme seiner Epoche aufmerksam zu machen, auf die immer noch vorhandene Todesaffinität etwa, und die Begeisterung für Krieg und Barbarei. Der Zauberberg gleicht somit einer Hommage an den florentinischen Schriftsteller und Politiker, dessen Todestag sich kurz vor Erscheinen des Romans, im Jahre 1921, zum 600. Mal jährte. Dem Mythos kommt dabei eine ganz besondere Rolle zu: der Autor verwendet ihn, um das Zufällige, Alltägliche und Menschliche aufzuwerten und somit eine Humanisierung sowie Psychologisierung desselben zu erzielen, die teils ins Mystische und Initiatische hineinspielt.245 Mit der Verschmelzung verschiedenartigster Mythologeme im Zauberberg erreicht er die Schaffung eines neuen Mythos, dessen Funktion es ist, Humanismus und Lebensfreundschaft zu propagieren. Die Thomas-Mann-Forschung schloss an diese Begriffe die Diskussion an, ob der Zauberberg ein Bildungsroman sei und wiederum hat der Autor selber hierauf zahlreiche Hinweise gegeben. Er bezeichnete den Roman einst als „Wilhelm Meisteriade, worin ein junger Mensch (vor dem Kriege) durch das Erlebnis der Krankheit und des Todes zur Idee des Menschen und des Staates geführt wird.“ Der sich in vielerlei Hinsicht an dem Vorbild Goethes orientierende Autor führt aber insofern eine Neuerung des Bildungsromanes ein, da er den positiven Ausgang nicht mehr als zeitgemäß erachtet und seinen Helden im Schlachtengetümmel einem ungewissen Schicksal überlässt. Dennoch entwickelt Hans Castorp im Laufe seiner sieben Jahre auf dem Berghof einen neuen Begriff von Humanität, wendet diesen aber nur bedingt an und scheint seine tatsächliche Umsetzung auf ein späteres Leben zu verschieben. Hier spiegelt sich der Untergang des bürgerlichen Zeitalters während des Ersten Weltkrieges, welches durch die Beschwörung vergangener Epochen seinen eigenen Untergang provoziert. Durch die Darstellung einer Gesellschaft im Verfall führt der Zauberberg die verheerenden Auswirkungen der Dekadenz vor, konterkariert aber zudem die dem Bildungsroman typische Handlungsstruktur. Auch das Alter des Helden sowie seine relative Untätigkeit auf dem Berghof scheinen weniger einem Bildungs- als einem Initiationsroman zu entsprechen, in dessen Handlungsverlauf er zu Steigerung und Läuterung geführt wird. Durch die Erhebung des Lebenswertes über den des Todes will der Roman „eine Verspottung des Todes sein, eine antiromantische Desillusionierung und ein europäischer Ruf zum Vgl. Antal Madl. Thomas Manns Humanismus. Werden und Wandel einer Welt- und Menschenauffassung. Ruetten und Loening. Berlin. 1980. S.11. 245 Vgl. Lotti Sandt. Mythos und Symbolik im Zauberberg von Thomas Mann. S.39. 244

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Leben.“246

2.6 Die Hölle auf Erden – Doktor Faustus 2.6.1 Prädestination Adrians Ist Hans Castorp auf seinem hermetischen Zauberberg geradezu der Welt abhanden gekommen, um in die Unterwelt hinabzusteigen, so ergeht es Adrian Leverkühn umgekehrt. Der moderne Teufel, den Thomas Mann in seinem Spätwerk auftreten lässt, kommt auf die Erde und findet Eingang in die diesseitige Realität. Er geht über die katabatischen Figuren des Frühwerks hinaus, da er Teil der menschlichen Seele wird, wenn er Adrian von klein auf für sich einnimmt. Es scheint, dass die Prädestination Adrians, einen Bund mit dem Teufel einzugehen, schon vor seiner Geburt beschlossen sei, da der Einfluss des Bösen in der Figur des Vaters Jonathan angelegt ist. Wie auch der Protagonist leidet jener unter „Hauptweh“. Bereits in dieser Neigung zum Kopfschmerz offenbart sich die Präsenz eines säkularisierten Teufels, der innerlich und äußerlich in den Kosmos integriert ist.247 Jonathan ergibt sich zudem gerne dem Rausch, er raucht häufig Pfeife und nimmt gelegentlich einen Schlaftrunk zu sich. Schon bald wird klar, dass es sich auch bei der Geschichte Adrians „um die diabolische und verderbliche Enthemmung eines – noch jeder Bestimmung entbehrenden, aber offenbar schwierigen - Künstlertums durch Intoxikation“ handelt.248 Darüber hinaus befasst sich auch der Vater schon mit der Theologie. Er nennt eine Lutherbibel sein eigen, die noch aus dem Jahre 1700 stammt und in der er regelmäßig liest. Wie auch die Syphilis, an welcher Adrian bald erkranken soll, so gelangte auch jene Bibel über die Westindischen Inseln nach Frankreich und daraufhin in Jonathans Besitz. Neben den theologischen Studien widmet sich der Vater zudem naturwissenschaftlichen Forschungen und „spekuliert“ gemäß der Historia von D. Johann Fausti fleißig „die Elementa.“ Insbesondere die osmotischen Gewächse faszinieren ihn, da sie sowohl organische als auch anorganische Eigenschaften auf sich vereinen und somit zugleich Symbole des Lebens als auch des Todes sind. Dortmann zufolge heben Motive wie die Eisblumen im Doktor Faustus somit die Dichotomie zwischen Leben und Tod gänzlich auf und schaffen eine Doktrin der Ähnlichkeiten und Thomas Mann. Selbstkommentare: >Der Zauberberg< S.53. Erich Kahler. „Säkularisierung des Teufels: Thomas Manns Faust“ In: Die neue Rundschau 59. 1948. S.199. 248 Thomas Mann. Doktor Faustus. Die Entstehung des Doktor Faustus. In: Ebd. Essays VI. Große kommentierte Frankfurter Ausgabe. Bd. 19.1. Fischer Verlag. Frankfurt a.M. 2009. 1967. S.420. 246 247

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Parallelbildungen.249 Diese Zweideutigkeiten der Natur deckt der Vater Adrians mit Vorliebe auf. Aus diesem Grunde zeigt er seinem Sohn eines Tages auch die Schmetterlingsart „Hetaera Esmeralda“, einen Glasflügler, dessen durchsichtige Flügel bewirken, dass er sich seiner Umgebung perfekt anzupassen vermag. Gerade jene Absonderlichkeiten der Natur, die den Erzähler Zeitblom unheimlich anmuten, bringen den jungen Adrian oft zum Lachen. Seine abschätzige und kühle Lache, die ihn in den abstrusesten Situationen regelrecht erschüttert, kann als weiteres Motiv der Verfallenheit an den Teufel gedeutet werden. Schließlich heißt es in der Bibel von Cham, einem Sohn Noahs, dass er das einzige Kind gewesen sei, das unmittelbar nach seiner Geburt gelacht habe, was wiederum nur durch eine Beeinflussung durch den Teufel zu erklären sei (DF, S.128). Diese sardonische Säuglingslache kommt einem Verlachen der Schöpfung gleich, einer Verspottung des Geburtsschmerzes der Mutter und des Weltschmerzes im Allgemeinen. So lacht denn auch Adrian bei den eindrucksvollsten Erscheinungen, bei denen eigentlich Ehrfurcht geboten wäre. Er lacht, wenn andere weinen, und fühlt sich traurig, wenn andere lachen. Schon diese Angewohnheit zeigt sein Defizit in sozialen Belangen. Er vermag es nicht, in die Gesellschaft hineinzufinden, und bleibt immer ein wenig abseits. Dies resultiert auch aus einem weiteren Motiv der Teufelsverfallenheit, welches schon bei Dante Verwendung findet: der Kälte. Schon im untersten Kreis der Divina Commedia steckt der Höllenfürst im ewigen Eis und laut zahlreicher Erzählungen aus dem Mittelalter soll auch der Körper des Buhlteufels von eisiger Kälte ergriffen sein.250 So konstatiert Zeitblom im Hinblick auf seinen Freund: „Um ihn war Kälte“, wessen sich der Protagonist selber nur zu sehr bewusst ist: „Ich bin ein schlechter Kerl, denn ich habe keine Wärme. Es heißt zwar, verflucht und ausgespien seien die, die weder kalt noch warm, sondern lau sind. Lau möchte ich mich nicht nennen; ich bin entschieden kalt.“ (DF, S.191). Auffällig ist, dass Adrian hier selber eine Interpretation dieser Gefühlskälte vornimmt und sie als schlechte Charaktereigenschaft und Makel identifiziert. Dies bestätigt sich vor allem in dem kühlen Verhältnis zu seinen Kommilitonen, welche er zu siezen pflegt. Das „Wir“ geht ihm kaum über die Lippen. In der Regel spricht er für seine Person und erweist sich somit als radikaler Individualist, der das Kollektivgefühl zu vermeiden sucht, auch da er sich seiner Auserwähltheit und seines speziellen Charakters bewusst ist. Adrian Leverkühn ist zudem durch seine Umgebung prädestiniert, einen Pakt mit dem Teufel Andrea Dortmann. Winter Facets. Traces and Tropes of the Cold. Peter Lang Verlag. Bern. 2007. S.35. Vgl. Georges Minois. Histoire des enfers. S.179.

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einzugehen. Der Hof Buchel umfasst zahlreiche Orte, die an die Unterwelt erinnern. Die große Ulme in der Mitte des Hofes etwa ruft die Beschreibung der großen Ulme im Vergilischen Orkus ins Gedächtnis, an deren Blätter die Träume hängen.251 Der Schweinekoben erscheint den Kindern als unheimlicher und grausamer Ort, da ihnen zu Ohren gekommen ist, dass die Tiere auch kleine Kinder fräßen (Vgl. DF, S.41). Auch die beiden Teiche, die Kuhmulde und der Klammerweiher, fügen sich stimmig in die jenseitige Atmosphäre ein, weil sie überaus kaltes Wasser führen und an die zahlreichen Flüsse der antiken Unterwelt erinnern. Bemerkenswert ist, dass Adrian diese Umgebung als heimelig und vertraut empfindet und sie in seinem späteren Leben adäquat zu ersetzen sucht. Zeitblom beschreibt diese Heimatgebundenheit als ein „sich-Bergen im ÄltestAbgelebten der Kindheit, oder wenigstens ihren äußeren Umständen“ (DF, S.45), ein Verhalten, das eine Verbundenheit zum Mutterschoß erahnen lässt, eine tiefsitzende Existenzangst, die sich auch darin ausdrückt, dass Adrian der Gesellschaft und den großen Städten zu entgehen sucht, um sich stattdessen zurückzuziehen und ganz seinem Werk zu widmen. Auch die spätere Umgebung des Protagonisten evoziert die ständige Präsenz des Teufels. Insbesondere Kaisersaschern mitsamt seinen mannigfachen mittelalterlichen Elementen zeugt von einer Affinität zu der dämonischen Sphäre. Die Stadt kann nicht nur mit einem schauderhaften Foltermuseum aufwarten, sondern beherbergt darüber hinaus viele seltsame Gestalten, die dem Teufel verwandt zu sein scheinen. Auch die im Dorf aufbewahrten Schriften über die Zauberkunst verweisen auf eine schwarzkünstlerische Vergangenheit des Ortes. Wie auch Pfeiffering so wird Adrian die Stadt seiner Gymnasialzeit stets mit sich tragen: „Hat Kaisersaschern ihn jemals freigegeben? Hat er es nicht mit sich genommen, wohin immer er ging, und ist er nicht von ihm bestimmt worden, wann immer er zu bestimmen glaubte?“ (DF, S.124).

2.6.2 Lehrjahre Adrians – Dämonologie statt Theologie Selbst die Wahl seines Studiums weist Adrian Leverkühn als Teufelsbündner aus. Der junge Mann entscheidet sich für die Theologie, da er hofft, sie könne seinem Lachkitzel Einhalt gebieten. Bald jedoch wird deutlich, dass die theologische Fakultät in Halle viel eher eine dämonologische Fakultät geheißen werden sollte, da die Dämonologie als Kehrseite der Theologie zu betrachten ist und von den Professoren Kumpf und Schleppfuß vornehmlich gelehrt wird. Ehrenfried Kumpf gilt als „Vertreter jenes Vermittlungs-Konservativismus mit kritisch-liberalen Vgl. David J.T. Ball. Thomas Mann's recantation of Faust: Doktor Faustus in the context of Mann's relationship to Goethe. Akademischer Verlag. Stuttgart. 1986. S.135. 251

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Einschlägen“ (DF, S.142), der sich vor allem deshalb gut auf den Teufel versteht, da dessen obszönhumoristische Figur ihm näher steht als sein unnahbarer Gegenpart. Der Teufel ist volkstümlich inspiriert und erscheint oft fehlbarer und somit auch menschlicher, was Kumpfs Wohlwollen findet. So spricht er häufig „gut alt-deutsch, ohn' einige Bemäntelung und Gleisnerei“ (DF, S.142) von der „Hellen und ihrer Spelunk“, nennt den Teufel selber jedoch meist bei dessen „Necknämchen“, als fürchte er ihn insgeheim doch. Seine Sprache und neurotisch anmutende Furcht zeichnen ihn als Parodie Martin Luthers aus, der Zeit seines Lebens den Teufel im Nacken sitzen spürte. Wie dieser vermutet er ihn während des Abendmahls in einer Ecke seines Speisezimmers, wirft aber statt des Tintenfasses eine Brotsemmel nach dem Verführer. Privatdozent Schleppfuß hingegen wurde häufig schon als Sinnbild des Teufels gesehen, da er einzig und allein an der Universität zu lehren scheint, um den jungen Adrian zu verführen.252 Genau wie Adrian verbringt er nur zwei Semester in Halle und verschwindet danach spurlos und auf unerklärliche Weise. Auch sein Auftreten erinnert an frühere Teufelsgestalten im Werke Thomas Manns, insbesondere im Hinblick auf den Tod in Venedig. Sein schwarzer Umhang, sein breitkrempiger Hut sowie sein geteiltes Bärtchen, das bei seinen Vorlesungen regelmäßig erzittert, verleihen ihm ein diabolisch anmutendes Äußeres. Auch die splittrig-scharfen Zähne und die vermeintliche Neigung, den Fuß etwas hinter sich her zu ziehen, tragen zu diesem Eindruck bei (Vgl. DF, S.146ff.). Zudem katzbuckelt Schleppfuß auffällig häufig vor seinen Studenten, wenn er sie mit „Ganz ergebener Diener“ grüßt, so als nähere er sich seinen Opfern, indem er ihnen seine Dienste anbietet. 253 Die theologischen Ansichten des bizarren Privatdozenten beabsichtigen eine Aufnahme der Dämonologie ins Göttliche. Er betrachtet die Hölle als Teil der göttlichen Schöpfung und lehrt, dass die Existenz des Bösen zur Vollkommenheit der Schöpfung beitrage, da sie eine Allseitigkeit von Gottes Werk bedeute. Selbst den Begriff der Humanität unterzieht er dieser Zweideutigkeit, wenn er die Inquisition als Ausdruck derselben versteht, da diese eine Frau, die über lange Jahre hinweg Verkehr mit dem Teufel gehabt habe, durch ihr Geständnis unter „leichter“ Folter gerettet habe. Ihre bereitwillige Reue habe sie vermutlich Gott wieder zugeführt, sodass die Tätigkeit der Inquisition durchaus als Kultur und Humanität gelten müsse. Beide Lehrenden fungieren laut Pfaff als Werkzeuge des Teufels, da sie Adrians Geist für den Verführer empfänglich machen.254 Durch die stetige Beschäftigung mit der Dämonologie gewöhnt Vgl. David J.T. Ball. Thomas Mann's recantation of Faust. S.122. Vgl. Lucie Pfaff. The Devil in Thomas Mann's Doktor Faustus and Paul Valéry's Mon Faust. Lang Verlag. Bern. 1976. S.27. 254 Ebd. S.28. 252 253

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sich Adrian an den Umgang mit diabolischen Themenbereichen, sodass es in Leipzig zu der ersten tatsächlichen Berührung mit dem Teufel kommen kann.

2.6.3 Esmeralda – Erste Berührung mit dem Teufel Leipzig erscheint dem jungen Adrian gleich zu Beginn diabolische Züge zu tragen, da dort alle „teuflisch und gemein“ reden, als handele es sich um eine allgemeine „Ruchlosigkeit des Maulwerks“ (DF, S.205). Da der junge Student sich kaum auskennt, ist er froh über die Hilfe eines Fremdenführers, der ihm zunächst allerlei Kirchen zeigt, um ihn letztlich aber doch zu einem Ort der Sünde zu führen. Obwohl Adrian ihn bittet, ihn zu einem Gasthaus zu bringen, da er etwas zu sich nehmen möchte, geleitet der Fremde ihn zu einem Bordell, dessen rote Laterne und dessen Messinggeländer sein Äußeres wiederaufnehmen. Er trägt eine rote Mütze und eine Art Wetterumhang sowie ein Schild, das aus Messing gefertigt ist. Der Umstand, dass Adrian eigentlich speisen möchte, der Fremdenführer ihn jedoch den fleischlichen Gelüsten zuführt, erinnert entfernt an die Höllenvorstellungen der Mechthild von Magdeburg, deren Hölle durch das Verschlingen und Ausscheiden der Sünder geprägt ist. Tatsächlich scheint Adrians Appetit von den schönen Dirnen geweckt zu werden. Die „Nymphen“, „Töchter der Wüste“ und „Glasflügler“ bezaubern ihn, sodass ihm die Flucht aus dieser „Lusthölle“ nur kurzzeitig gelingt. Der Teufel tritt hier in Gestalt Esmeraldas auf, die ihrerseits als Glasflügler perfekt getarnt ist. Die Gleichsetzung mit einer Schmetterlingsart ist mitnichten zufällig gewählt. Schon Goethe weist darauf hin, dass Schmetterlinge als Symbol der „seligen Sehnsucht und des Selbstopfers“ gelten, da sie in ihrer Liebe zur Flamme verbrennen. Zudem stünden sie für die Neigung zum Flatterhaften, Augenblicklichen und Sinnlichen und somit für die Verfallenheit ans Weltlich-Vergängliche.255 Es scheint also, als lasse Adrian sich in dem Bordell das erste Mal in seinem Leben mit der Welt ein und als beschließe er mit Esmeralda einen vorzeitigen Teufelspakt, den der Leibhaftige in Palestrina lediglich erneuert. Besiegelt wird dieses stille Einvernehmen durch die Berührung zwischen Adrian und Esmeralda. Mit dem Arm streift sie seine Wange, was eine vorerst nur geistige Infektion zur Folge hat. Seit diesem Augenblick „brennt“ die berührte Stelle und Adrian wird von einer unsäglichen Sehnsucht verzehrt, die ihn der fremdländischen Prostituierten einige Zeit später wieder in die Arme treiben soll. Für den Moment jedoch vermag er sich zu retten, indem er zunächst den Gnadenakkord des „Freischützes“ auf dem Klavier anschlägt, um kurz darauf aus dem Freudenhaus Vgl. Doris Runge. „Hetaera Esmeralda und die kleine Seejungfrau“ In: Heinz Gockel; Michael Neumann; Ruprecht Wimmer (Hrsg.). Wagner, Nietzsche, Thomas Mann. Festschrift für Eckhard Heftrich. Klostermann Verlag. Frankfurt a.M. 1993. S.391ff. 255

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zu flüchten. Es ist bedeutsam, dass das Gnadenmotiv hier parallel zur Teufelsverfallenheit Adrians auftritt, so als impliziere die Möglichkeit der Sünde immer auch die Hoffnung auf Gnade. 256 Der Name der exotischen Schönen, „Esmeralda“, verweist auf den Smaragd, einen kostbaren Edelstein, und als solcher wiederum Sinnbild der Schätze und Geheimnisse der Erde beziehungsweise der Natur. Wie bereits die Teufelsgestalten im Tod in Venedig ist das Gesicht Esmeraldas vor allem durch die Stumpfnase geprägt. Ihre Mandelaugen und ihr großer Mund verleihen ihr einen verführerischen Ausdruck. Dass Adrian für die Sinnenlust durchaus empfänglich ist, liegt dem Erzähler Zeitblom zufolge daran, dass „stolzeste Geistigkeit“ häufig mit Lust und animalischen Trieb einhergehe (DF, S.216). Die Geschlechtlichkeit allerdings, der Adrian hier ganz unvermittelt gegenübersteht, ist schon laut Schleppfuß ein wirksames Mittel des Teufels (DF, S.154f.). In der nicht näher ausgeführten Liebesnacht mit Esmeralda wird der Paktschluss besiegelt. Der Entschluss Adrians fällt willentlich, da Esmeralda ihm gesteht, dass er sich mit der Syphilis, ihrerseits Symbol für die künstlerische Inspiration, infizieren könne, er aber dennoch auf seinen Wunsch besteht. Seine Seele scheint jedoch noch nicht verloren zu sein, denn die Verbindung entspringt nicht zuletzt der Liebe zum Werk, da die Infektion mit Syphilis zur Inspiration des Künstlers beiträgt.257 So spricht Zeitblom von dem „Gedanken der Wahl und (dem) Schimmer des Seelenglanzes“, der dem Liebesakt innewohnt und der auf ein potentiell hoffnungsvolles Ende des Romans hindeutet. Adrian selber bemerkt im Teufelsgespräch in der Mitte des Romans: „Das Bündnis, worin wir nach deiner Behauptung stehen, hat ja selbst mit Liebe zu tun.“ (DF, S.363).

2.6.4 Teufelsgespräch Adrian Leverkühn erwartet den Teufel insgeheim zwar schon lange, hätte jedoch nicht geglaubt, dass jener ihn in Palestrina, seiner zeitweiligen italienischen Wahlheimat, aufsuchen würde. Kaisersaschern hätte seiner Ansicht nach seinem Gesprächspartner besser zu Gesicht gestanden, jedoch bemerkt dieser scharfsinnig, dass, wo Adrian sei, auch Kaisersaschern sei (Vgl. DF, S.330). In der literarischen Tradition Dante Alighieris macht die Wahl des Ortes durchaus Sinn. Im 27. Gesang der Divina Commedia berichtet Guido da Montefeltro aus der Romagna, dass er einst ein Kriegsherr war, gegen Ende seines Lebens jedoch zum Franziskanismus fand und seine Sünden Vgl. Tobias Plebuch. „Vom Musikalisch-Bösen. Eine musikgeschichtliche Annäherung an das Diabolische in Thomas Manns Doktor Faustus.“ In: Werner Röcke (Hrsg.). Thomas Mann. Doktor Faustus. 1947 – 1997. Peter Lang. Europäischer Verlag der Wissenschaften. Bern. 2001. S.220. 257 Vgl. auch Herbert Lehnert. Thomas Mann. Fiktion, Mythos, Religion. S.194. 256

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aufrecht bereute. Dennoch lässt er sich von Papst Bonifaz VIII. überreden, ihm zu eröffnen, wie das Bollwerk Palestrina am besten zu erobern sei. Dieser bietet ihm für seine Hilfe vollkommene Absolution, was Guido wiederum so sehr reizt, dass er einschlägt und aufgrund seines Verrates an der Stadt ewiglich in der Hölle Dantes schmoren muss. Er ist Adrian insofern verwandt, als er die einzige Figur im dantesken Inferno darstellt, die nicht nur körperliche, sondern auch seelische Qualen zu erleiden hat. Dies verweist auf die psychischen Leiden Adrians bzw. auf die Möglichkeit der Schizophrenie, da nicht deutlich wird, ob der Teufel Thomas Manns, der in diesem Gespräch auftritt, eine reale Person ist oder aber ob er Adrians Einbildungskraft entstammt. Im Falle des letzteren handelte es sich um eine moderne Adaption, nämlich um die Internalisierung des Teufels, der während des Mittelalters und der Renaissance als volkstümliche, aber reale Gestalt verstanden worden war. Jene Verinnerlichung stellt insofern eine radikale Neuerung der Figur dar, als sie anerkennt, dass der Teufel kein jenseitiges, sondern vielmehr ein diesseitiges Phänomen ist, das jedem Menschen und jeder Nation innewohnt.258 Daher kann auch nicht von einem guten und einem bösen Deutschland gesprochen werden, wie Thomas Mann in „Deutschland und die Deutschen“ betont, sondern einzig von einem Deutschland, dass sich zum Bösen gewandt hat, dem das Gute aber nicht gänzlich abgeht.259 Auch Kahler betont, dass sich das Faustdrama des Adrian Leverkühns gänzlich im Innern abspielt. „Das Spiel zwischen Himmel und Hölle ist hereingeholt in die menschliche Person“260 und was im Innersten sich auftut, ist die Zweideutigkeit des Lebens, die schon Jonathan Leverkühn zeitlebens zu ergründen versuchte. Der Teufel ist Teil der göttlichen Schöpfung und somit Teil Gottes. Es ist unwahrscheinlich, dass, wie etwa Braun ausführt, der Teufel als tatsächliche, mittelalterliche Gestalt auftritt,261 aber letztlich macht es für die Realität des Teufels keinen Unterschied. Denn wie er im Gespräch mit Adrian selber betont: Du siehst mich, also bin ich dir. Lohnt es zu fragen, ob ich wirklich bin? Ist wirklich nicht, was wirkt, und Wahrheit nicht Erlebnis und Gefühl? Was dich erhöht, was dein Gefühl von Kraft und Macht und Herrschaft vermehrt, zum Teufel, das ist die Wahrheit, - und wäre es unterm tugendlichen Winkel gesehen zehnmal eine Lüge. (DF, S.354).

Vgl. Helmut Koopmann. „Doktor Faustus. Eine Geschichte der deutschen Innerlichkeit?“ In: Thomas Mann Jahrbuch Bd. 2. 1989. S.11. 259 Vgl. Thomas Mann. „Deutschland und die Deutschen“ In: Ebd. Werke. Das essayistische Werk. Bd.3 Politische Schriften und Reden. Herausgegeben von Hans Bürgin. Fischer Verlag. 1968. S.176f. 260 Vgl. Erich Kahler. „Säkularisierung des Teufels. Thomas Manns Faust“ S.201. 261 Vgl. Hanns Braun. „Welt ohne Transzendenz? Zu einer Kritik an Thomas Manns Faustus“ In: Hochland 41. 1948/49. S.599. 258

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Was Adrian denkt und fühlt, ist ihm real, auch da die von Mann dargestellte Weltsicht relativistisch zu werten ist: „In a relativistic universe, the devil is as real as any other aspect of the world which is felt and experienced within an individual mind.“ 262 Palestrina scheint aber auch daher ein geeigneter Ort für den Besuch des Teufels zu sein, da er empfänglich für Geister und spirituelle Phänomene ist. Die Atmosphäre im Hause Manardi mutet mystisch und esoterisch, wenn auch teils ironisch überspitzt, an, wenn die junge Amelia bei Tisch ihren Löffel fixiert und „Spiriti“ beschwört (DF, S.310). Es nimmt folglich nicht wunder, dass Adrian sich eines Abends „von schneidender Kälte getroffen“ fühlt, „so als säße Einer im winterwarmen Zimmer und auf einmal ginge ein Fenster auf nach außen gegen den Frost“ (DF, S.326). Vor ihm sitzt ein Strizzi, ein Ludewig, zu neudeutsch also ein Zuhälter. Er ist „spillerig von Figur“ und trägt eine Sportmütze übers Ohr gezogen. Für den Teufel bezeichnend sind jedoch vor allem seine rötlichen Haare, die unter der Kappe hervorlugen sowie seine rötlichen Augen und Wimpern, die in seinem „käsigen“ Gesicht besonders auffallen. Auch seine gelben Schuhe zeichnen ihn, wie schon Judas, als Versucher und Verräter aus. In dieser Erscheinung spricht er zunächst über die Bedingungen des Paktes, den Adrian mit Hetaera Esmeralda, seiner „Kleinen“, eingegangen ist. Das beste, was er zu verkaufen habe, sei Zeit, aber nicht irgendwelche Zeit, sondern „große Zeit, tolle Zeit, ganz verteufelte Zeit, in der es hoch und überhoch hergeht, - und auch wieder ein bißchen miserabel natürlich, sogar tief miserabel“ (DF, S.336), Zeit, die es Adrian ermöglichen soll, schöpferisch kreativ zu werden. Er und seinesgleichen „schaffen nichts Neues, sondern setzen lediglich frei.“ Sie lassen Adrian das Archaische, das Urfrühe, das Mythische erfahren und fungieren somit als Geburtshelfer für sein streng organisiertes Werk. Der Teufel fungiert folglich als „utilitaristisches Medium“ und Ideenlieferant, da er der krankenden Kunst durch Inspiration zum Durchbruch verhilft. 263 Mit dem Fortgang des Gespräches verändert sich auch das Erscheinungsbild des Teufels. Als die Sprache auf die Krise der Kunst kommt, nimmt der Gesprächspartner Adrians plötzlich die Züge eines Intellektuellen an, dessen weißer Kragen von einem „Schleifenschlips“ geziert wird und der eine auffällige Hornbrille trägt. Ganz die Ideen Adornos vertretend, hält er die Kunst, wie sie in der Vergangenheit existierte - nämlich als (schöner) Schein - nicht mehr für möglich. „Zulässig ist allein noch der nicht fiktive, der nicht verspielte, der unverstellte und unverklärte Ausdruck des Leides in seinem realen Augenblick.“ (DF, S.351). Die Parodie, auf die Adrian dann zu sprechen Bond Johnson. The Mode of Parody. An Essay at Definition and six studies. Peter Lang Verlag. Frankfurt a.M. 2000. S.105f. 263 Ulrike Hermanns. Thomas Manns Roman Doktor Faustus im Lichte von Quellen und Kontexten. Lang Verlag. Frankfurt a.M. 1994. S.247. 262

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kommt, könne zwar lustig sein, betont der Intelligenzler, „wenn sie nicht gar so trübselig wäre in ihrem aristokratischen Nihilismus“ (DF, S.353), womit er sie aus dem Kanon der musikalischen Möglichkeiten streicht. An dieser Stelle wird deutlich, dass der Teufel Manns sich deutlich von der nihilistischen Denkrichtung ganz allgemein abgrenzt, denn „wo nichts ist, hat auch der Teufel sein Recht verloren.“ (DF, S.345). Es scheint, als wolle der Teufel Adrian mit dem Gespräch über die Krise der Kunst ködern, als erhoffe er sich, aus dessen eigener schöpferischer Verzweiflung Profit zu schlagen.264 Doch letztlich ist der Pakt schon längst beschlossen und die Parteien „im Geschäft“. Die Funktion dieses Exkurses in das Reich der Kunst dient also eher der Bestärkung Adrians, endlich kompositorisch tätig und sich seiner „Steigerung“ bewusst zu werden. Anders als noch im Zauberberg, handelt es sich nämlich nicht um eine transzendente Steigerung im Sinne einer Läuterung, sondern es geht zunächst um die Erhöhung des musikalischen Genies Adrians. Dieser regelrechte Abfall vom Menschlichen hin zum reinen Ästhetizismus impliziert für Thomas Mann auch die Hinwendung Adrian Leverkühns zur Barbarei: „Die Epoche der Kultur und ihres Kultus wirst du durchbrechen und dich der Barbarei erdreisten, die's zweimal ist, weil sie nach der Humanität, nach der erdenklichsten Wurzelbehandlung und bürgerlichen Verfeinerung kommt.“ (DF, S.355). Mit dem erneuten Wandel des Gesprächs hin zu der Beschaffenheit der Hölle, wandelt sich auch die Gestalt des Teufels ein weiteres Mal. Vor Adrian sitzt nun die exakte Erscheinung Professor Schleppfußes mitsamt Umhang, Kremphut und geteiltem Bärtchen. Wie Röcke feststellt, handelt es sich bei den Beschreibungen, die der Academicus Adrian gibt, um eine akustische Hölle: 265 Richtig ist, daß es in der Schalldichtigkeit recht laut, maßlos und bei weitem das Ohr überfüllend laut sein wird von Gilfen und Girren, Heulen, Stöhnen, Brüllen, Gurgeln, Kreischen, Zetern, Griesgramen, Betteln und Folterjubel, so daß keiner sein eigenes Singen vernehmen wird, weil's in dem allgemeinen erstickt, dem dichten, dicken Höllengejauchz und Schandgetriller, entlockt von der ewigen Zufügung des Unglaublichen und Unverantwortlichen. Nicht zu vergessen das ungeheuere Ächzen der Wollust.“ (DF, S.358).

Bemerkenswert ist, dass diese Hölle in einem frappanten Gegensatz zu ihrer Aussenwelt steht. Sie wird von dicken Mauern des Schweigens umgeben, die ihre Qualen für Außenstehende verschleiern und unbegreiflich erscheinen lassen und wo selbst die Sprache nicht ausreicht, das Elend der Hölle zu schildern. Folglich handelt es sich um eine Hölle der Unaussprechlichkeit, da Worte die Gräuel der Gestapokeller, die hier versinnbildlicht werden, nicht auszudrücken vermögen. Die Hölle ist verbal nicht faßbar. Die einzige Möglichkeit, sie zu begreifen, wäre es, sie zu erleben, da die Qualen Juri Davydov. „Der Teufel des Adrian Leverkühn. Die Entfremdung der Kunst im Spiegel der bürgerlichen Kultursoziologie und – philosophie“ In: Weimarer Beiträge 12. 1966. S.212ff. 265 Vgl. hierzu auch. Werner Röcke. „Teufelsgelächter. Inszenierungen des Bösen und des Lachens in der Historia von D. Fausten (1587) und in Thomas Manns Doktor Faustus“. In: Ebd. (Hrsg.). Thomas Mann. Doktor Faustus. 1947 – 1997. Peter Lang. Europäischer Verlag der Wissenschaften. Bern 2001. S.187. 264

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unermeßlich sind.266 Das ist die geheime Lust und Sicherheit der Hölle, daß sie nicht denunzierbar, daß sie vor der Sprache geborgen ist, daß sie eben nur ist, aber nicht in die Zeitung kommen, nicht publik werden, durch kein Wort zur kritisierenden Kenntnis gebracht werden kann, wofür eben die Wörter »unterirdisch«, »Keller«, »dicke Mauern«, »Lautlosigkeit«, »Vergessenheit«, »Rettungslosigkeit« die schwachen Symbole sind. Mit Symbolis, mein Guter, muß man sich durchaus begnügen, wenn man von der Höllen spricht, denn dort hört alles auf. (DF, S.357).

Es ist naheliegend, diese Passage mit den Gräueln des Nationalsozialismus in Verbindung zu bringen. Die Hölle Adrians, die aufgrund ihrer akustischen Prägung zunächst wie eine individuelle, persönliche Hölle erscheinen mag, ist zugleich die nazistische Hölle, die ganz Deutschland fest im Griff hat. Thomas Mann selber betont in der Entstehung des Doktor Faustus: „Im Ohr die hysterischen Deklamationen der deutschen Ansager über den deutschen Freiheitskampf gegen die seelenlose Masse schrieb ich die Seiten über die Hölle, nicht denkbar übrigens ohne die innere Erfahrung des Gestapokellers.“267 Ein weiteres Merkmal der Hölle Adrians ist ihre Neigung zu Extremen. „Ihre Pointe ist, daß sie ihren Insassen nur die Wahl lässt zwischen extremer Kälte und einer Glut, die den Granit zum Schmelzen bringen könnte, - zwischen diesen beiden Zuständen flüchten sie brüllend hin und her, denn in dem einen erscheint der andre immer als himmlisches Labsal, ist aber sofort und in des Wortes höllischster Bedeutung unerträglich. Das Extreme daran muß dir gefallen“ (DF, S.360). Die hier geschilderte Hölle scheint bereits zu Lebzeiten über Adrian hereinzubrechen. Sein Dasein ist stets von einer frostigen Kälte bestimmt, die ihm soziale Kontakte nahezu unmöglich macht. In den späteren Jahren seines Lebens, während seiner Illumination und Schaffensphasen, beseelt ihn hingegen ein Feuer, das ihm die Röte in die Wangen treibt. Diese Welt der Extreme, die Hölle auf Erden, widerspricht aber gerade der Quintessenz, die noch der Zauberberg zu vermitteln suchte: Die Versöhnung der Gegensätze und die Mittlerposition des Menschen, der weiß, dass er gute und böse Eigenschaften auf sich vereint, aber dies als Gegebenheit und Vollkommenheit der Schöpfung ansieht und daher mit sich und der Welt im Reinen ist. Das Vermitteln zwischen Extremen jedoch, die Vereinbarung zweier Seelen in einer Brust, stellt Adrian Leverkühn auf eine innere Zerreißprobe und bereitet ihm im wahrsten Sinne des Wortes höllische Qualen. Am Ende des Gesprächs schließlich kommt der Teufel noch einmal auf die Bedingungen des Paktes zu sprechen und nimmt dementsprechend wieder die Physiognomie des Strizzis an. Er besteht auf Vgl. Ulrike Hermanns. Thomas Manns Roman Doktor Faustus im Lichte von Quellen und Kontexten. S.181. Thomas Mann. Die Entstehung des Doktor Faustus. S.488.

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einer einzigen Bedingung: „Liebe ist dir verboten, insofern sie wärmt. Dein Leben soll kalt sein.“ (DF, S.364). Adrian glaubt zunächst, den Teufel gelinkt zu haben, da das Bündnis ja mit der Liebe zum Werk und somit mit Liebe zu tun habe, aber der Teufel präzisiert, dass ihm die Liebe zu den Menschen verboten sei, so wie seine Natur dies ja schon nahelege. Insofern verstärke er nur, was sowieso schon gegeben sei, seine Inklination zu gesellschaftlicher Kälte. Er bekennt, dass Esmeralda eine seiner Helferinnen ist, die bewirken sollte, dass Adrian sich die „Illumination“ holte. Entscheidend scheint, dass auch hier die Idee der Willensfreiheit Bestand hat, denn nicht der Teufel holt Adrian, sondern Adrian holt sich die Illumination, die Gabe, die der Teufel ihm zu bieten hat. Er wird durchaus über die Bedingungen des Paktes, über die Syphilis und die mit ihr einhergehenden Schmerzen informiert, was ihn allerdings nicht abhält, mit Esmeralda zu schlafen.268 Ball spricht daher sogar von einer Schwächung des Teufels im Doktor Faustus, da dieser es nur mithilfe der sexuellen List vermag, Adrian in seine Fänge zu locken, die Entscheidung aber letztlich diesem selber überlassen bleibt. Er scheint aber die psychologischen Fertigkeiten dieses modernen und spitzfindigen Teufels zu unterschätzen. Die selbstauferlegte, psychologisch motivierte Hölle ist vielmehr eine Steigerung zur klassischen Hölle, die doch immer lokalisierbar, beschreibbar und bestimmbar war, aber so unerreichbar fern, dass sie beinahe irreal erschien. Die Hölle des Doktor Faustus hingegen, ebenso wie der darin auftretende Teufel, sind diesseitige Phänomene, die jedem Menschen innewohnen, deren Grausamkeit aber gerade aufgrund ihrer Diesseitigkeit und ihrer Omnipräsenz alle Vorstellungen übersteigt.

2.6.5 Niederfahrt in die Hellen – Nachtmeerfahrt Wie schon sein Vater Jonathan betreibt Adrian nach seiner Unterredung mit dem Teufel kosmologische und biologische Studien, in der Hoffnung, die Welt und ihre Zusammenhänge besser zu verstehen. Er „spekuliert die Elementa“ und beweist damit, dass es ihm nicht einzig um sein Künstlertum und seinen Ruhm zu tun ist, sondern auch um eine transzendente Erkenntnis. Laut Zeitblom „fingiert“ er sogar, selber auf den Grund des Ozeans hinabgefahren zu sein. Sein Begleiter ist ein schottischer Professor mit Namen Caperzailcie, was zu Deutsch so viel wie Auerhahn bedeutet und somit dem Spitznamen entspricht, bei welchem der Wagner des Volksbuches den Teufel nennen soll.269 In einer zwei Tonnen schweren Hohlkugel wollen die beiden einen neuen Tiefenrekord aufgestellt haben, wobei sie in Sphären vorgedrungen seien, die kein Vgl. David J.T. Ball. Thomas Mann's recantation of Faust. S.137. Ebd. S.124.

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Mensch je gesehen habe. Die Lage in ihrem ungewöhnlichen Gefährt beschreibt Adrian als überaus bequem und erinnert an die bereits in früheren Werken auftauchende Motivik um Grab und Mutterschoß, welche Geborgenheit und Urfrühe suggeriert. Die tiefe See, in welche sie vordringen, erscheint Adrian von „närrischer Fremdheit“ zu sein. Das Wasser trübt sich mehr und mehr ein, bis es zu einer undurchdringlichen Schwärze wird, zu einer „von keinem schwächsten Sonnenstrahl seit Ewigkeiten erlangte(n) Finsternis des interstellaren Raumes, die ewig stille und jungfräuliche Nacht, welche es sich nun hatte gefallen lassen müssen, von einem aus der Oberwelt mitgebrachten gewaltsamen Kunstlicht nicht kosmischer Herkunft durchhellt und durchsichtet zu werden.“ (DF, S.390). Adrian und sein „Cicerone“ zerreißen und durchleuchten diese Finsternis mit ihrem modernen und erleuchteten Gefährt und dringen somit gewaltsam in den hermetisch abgeschlossenen Kosmos der Meere ein. Sie scheinen von Voyeurismus beseelt, da sie alles zu sehen wünschen. Adrian selber empfindet diese „Indiskretion“ und „Sündhaftigkeit“, die ihrem „Erkenntniskitzel“ innewohnt. Trotz dieser peinlichen Berührtheit dringen sie aber weiter in das Dunkel und erblicken phosphoreszierende Fische, die Adrian als Irrlichter beschreibt, eine Namensgebung, die bereits auf Goethes Brocken Teuflisches verhieß, da Irrlichter bei vielen literarischen Vorläufern den Weg in die Unterwelt weisen.270 Die Leuchtorgane jener Fische wiederum sind zweideutig. Einige nutzen sie, um Beute zu fangen, andere, um damit „zur Liebe zu winken“. Auch in kosmischen Sphären zeigt sich also die Zweideutigkeit der Natur, die dasselbe Mittel zur Vernichtung, wie auch zur Reproduktion und Arterhaltung einzusetzen vermag. Wie Kinzel andeutet, könnten die „Irrlichter“ zudem eine Anspielung auf den gefallenen Engel Luzifer sein, da auch dieser aus sich selber heraus zu leuchten vermochte. 271 Die Reise in den Kosmos kann darüber hinaus als eine Reise in die Urfrühe des Menschen gedeutet werden, aus der heraus Adrian versucht, sein eigenes Schicksal zu erklären. Adrian erfährt durch dieses Eintauchen in die Urzustände der Welt, dass die Anlage zu Zweideutigkeit und Boshaftigkeit nicht aus seiner eigenen Vergangenheit resultiert, sondern von jeher in ihm selber angelegt ist. Ebenso verhält es sich mit Deutschland. Auch der Zweite Weltkrieg wird nie gänzlich durch die geschichtlichen und politischen Umstände zu erklären sein, sondern ist auch eine Folge der Paradoxität der deutschen Gesinnung, der deutschen Seele, die im Doktor Faustus unter anderem im Kridwiß-Kreis dargestellt wird. Auffällig ist, dass Mann in dieser Passage die Zweideutigkeit auch auf erzählerische Weise darstellt, indem er ähnlich wie schon im Zauberberg, die oberen und unteren Sphären miteinander vertauscht. Vgl. Isabel Platthaus. Höllenfahrten. S.158. Vgl. Ulrich Kinzel. Zweideutigkeit als System. Zur Geschichte der Beziehung zwischen der Vernunft und dem Anderen in Thomas Manns Roman Doktor Faustus. Lang Verlag. Frankfurt a.M. 1988. S.120. 270 271

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Der Kosmos, der für gewöhnlich außerhalb unserer Welt angesiedelt ist, wandert auf den Grund des Meeres. Die sich anschließende Fahrt ins Gestirn wird nur in ihren Ergebnissen geschildert. Wie Adrian erfahren hat, befindet der Kosmos sich in steter Explosion und ist dadurch in einer ständigen Ausdehnung begriffen. Er berichtet Zeitblom von dessen numerisch unvorstellbarer Größe, was der Humanist jedoch als „astronomischen Zahlenspuk“ und „Teufelsjux“ abtut. „Die Horrendheiten der physikalischen Schöpfung“ seien „auf keine Weise religiös produktiv.“ (DF, S.397f.). Im Gegensatz zu Adrian zeigt sich Zeitblom hier gewohnt skeptisch gegenüber der Wissenschaft und missbilligt den Versuch, das Universum aus der Evolution heraus zu erklären. Für ihn kommt das sezierende Auseinandernehmen der göttlichen Schöpfung einem Affront gegenüber dem Glauben gleich. Adrian aber beharrt auf seiner Meinung und betont, dass sie nichts Gotteslästerliches an sich habe: Die physische Schöpfung, dieses dir ärgerliche Ungeheuer von Weltveranstaltung, ist unstreitig die Voraussetzung für das Moralische, ohne die es keinen Boden hätte, und vielleicht muß man das Gute die Blüte des Bösen nennen – une fleur du mal. Dein hom*o Dei ist doch schließlich – oder nicht schließlich, ich bitte um Entschuldigung, aber vor allem einmal, ein Stück scheußlicher Natur - mit einem nicht gerade freigebig zugemessenen Quantum potentieller Vergeistigung. (DF, S.398).

Auf Baudelaire rekurrierend betont Adrian die Ambivalenz des Kosmos und des Menschen, der weder ausschließlich gut, noch ausschließlich böse, sondern immer beides zugleich ist. Neben dem Hang zur Zweideutigkeit zeigen die Fahrten Adrians aber auch seine schon vielfach beschriebene Neigung zu Extremen. Zunächst stellt er zusammen mit Professor Caperzailcie einen neuen Tiefenrekord auf, um nur wenig später die unendlichen Weiten des Kosmos zu erforschen. Die Erde jedoch bleibt ihm fremd. In Gesellschaft findet Adrian sich nicht zurecht und zieht sich daher auf den Hof im beschaulichen Pfeiffering, der in vielerlei Hinsicht an Buchel erinnert, zurück.

2.6.6 Versuche des Durchbruchs zur Welt und zum Leben Ein einziges Mal wird Adrian während seines Aufenthaltes in Pfeiffering die Möglichkeit gegeben, seiner Zurückgezogenheit und Innerlichkeit zu entfliehen. Der jüdische Musikagent Saul Fitelberg äußert sein Vorhaben ganz unverblümt: Wie lange leben Sie schon hier? Zehn Jahre? Ununterbrochen? Kaum unterbrochen? C'est étonnant! Oh, sehr begreiflich! Und dennoch, figurez-vous, bin ich gekommen, Sie zu entführen, Sie zu vorübergehender Untreue zu verführen, Sie auf meinem Mantel durch die Lüfte zu führen und Ihnen die Reiche dieser Welt und Ihre Herrlichkeiten zu zeigen, mehr noch, sie Ihnen zu Füßen zu legen... (DF, S.579).

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Fitelberg hat Großes vor mit dem noch als Insider gehandelten Komponisten. Er beabsichtigt, ihn seinem vergeistigten und kompositorischen Kleinstkosmos zu entreißen und ihn in die große Welt einzuführen, um ihn in den Salons von Paris mit anderen künstlerischen Größen seiner Zeit bekannt zu machen und um den künstlerischen Austausch zu fördern. Er spürt aber zugleich Adrians Abneigung gegenüber diesem Vorhaben. Eigentlich hatte er es schon im Vorhinein antizipiert, dass Adrian als rechter Deutscher außen vor bleiben möchte: Meine Herren, dies ist nun wirklich der Türgriff, ich bin schon draußen. Ich sage nur eines noch. Die Deutschen sollten es den Juden überlassen, pro-deutsch zu sein. Sie werden sich mit ihrem Nationalismus, ihrem Hochmut, ihrer Unvergleichlichkeitspuschel, ihrem Haß auf Einreihung und Gleichstellung, ihrer Weigerung, sich bei der Welt einführen zu lassen und sich gesellschaftlich anzuschließen, - sie werden sich damit ins Unglück bringen, in ein wahrhaft jüdisches Unglück, je vous le jure. Die Deutschen sollten dem Juden erlauben, den médiateur zu machen zwischen ihnen und der Gesellschaft, den Manager, den Impresario, den Unternehmer des Deutschtums – er ist durchaus der rechte Mann dafür, man sollte ihn nicht an die Luft setzen, er ist international, und er ist pro-deutsch... Mais c'est en vain. Et c'est très dommage! (DF, S.591f.).

Fitelberg erkennt in seinem Monolog als einer von wenigen den Charakter Adrians und somit auch die Gesinnung vieler Deutscher. Er versucht ihm klarzumachen, dass Hoffnung auf Rettung besteht, dass die Situation nicht so ausweglos ist, wie sie zu sein scheint, dass stets die Möglichkeit der Umkehr im Raume steht, doch Adrian bleibt seinen Argumenten gegenüber taub. Er ist zu stolz und zu hochmütig, um sich von Saul Fitelberg in die Welt und somit in die Gesellschaft einführen zu lassen. Er beharrt, wie auch Deutschland, auf seinem Sonderweg, seinem Einzelgängertum, seiner Individualität und verschmäht die ihm so vielfach angepriesene, fruchtreiche Gemeinschaft, die zu einer neuen Humanität führen könnte. Saul Fitelberg vermag es folglich nicht, Adrian in die große Welt zu entführen. Dafür bedarf es eines anderen Kalibers, einer Frau, zu der Adrian sich hingezogen fühlt, ja der er sogar einen Heiratsantrag zu machen gedenkt. Die Annäherung an die schöne Marie Godeau scheint einen möglichen Ausweg aus Adrians Isolation darzustellen. „Trat nicht in ihr ihm die »Welt«, vor der seine Einsamkeit scheute, – auch was man in artistisch-musikalischer Hinsicht »die Welt«, das Außer-Deutsche, nennen mochte, - in ernstest-freundlicher Gestalt, Vertrauen erweckend, Ergänzung verheißend, zur Vereinigung ermutigend entgegen?“ (DF, S.613). Mit der Verbindung Adrians und Maries hofft Zeitblom, dass sein Freund endlich den Durchbruch zur Welt schaffen möge. Und auch Adrian selber scheint diese Hoffnung zu hegen und glaubt sich somit den Menschen, aber vor allem der Menschlichkeit als solcher annähern zu können. So betont er gegenüber seinem langjährigen Freund: Sieh alles menschlich an. (…) Ich sage, nimm mich als Menschen, über den es wohl kommen kann, daß er, mit einer gewissen Angst vor dem Versäumnis, vor dem Zuspät, nach einem wärmeren Heim, einer im

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vollständigsten Sinn des Wortes zusagenden Gefährtin, kurz, nach milderer, menschlicherer Lebensluft verlangt, - nicht nur um des Behagens willen, um weicher gebettet zu sein, sondern auch vor allem, weil er sich für seine Arbeitslust und -kraft, den menschlichen Gehalt seines zukünftigen Werkes Gutes und Großes davon verspricht. (S.632).

Adrian sehnt sich erstmals nach einem normalen, nach einem gemäßigten Leben, wie es viele Menschen zu führen wünschen. Es scheint gar, als suche er Geborgenheit und ein „Heim“, das ihn den Fängen des Teufels zu entreißen vermag. Im Hintergrund dieses Verlangens steht jedoch wieder das Werk, das sein Leben bestimmt. Seine Kunst bedeutet ihm Leben und entfremdet ihn somit der Gesellschaft. Dennoch hofft er, seinem Werk von nun an eine menschliche Note geben zu können, um somit zu einer neuen Humanität, die ihm durch das Liebesverbot in seinem Handeln verwehrt bleibt, beizutragen. Er möchte, dass sein Werk zukünftig von Menschlichkeit zeuge. Zeitblom allerdings schaudert es bei Adrians Ausdrucksweise, da diese erzwungene Menschlichkeit seinem Freund nicht gut zu Gesicht steht. Er empfindet das Wort Mensch im Munde Adrians als „unpassend“, gar als „beschämend“. Humanität war Adrian schon als Kind nicht gegeben und so scheint es ihm, als habe sie auch im Leben des erwachsenen Komponisten nichts verloren, ebenso wenig wie in dessen Werk. So kann die ihm vom Teufel verbotene Liebe zu Marie nur in die Katastrophe führen. Halbbewusst schickt Adrian seinen Freund Rudi Schwerdtfeger vor, ihr in seinem Namen einen Antrag zu machen, den Mittler zu spielen zwischen ihm und der Welt. Jener verliebt sich bei dem Unternehmen jedoch selbst in die Schöne und die beiden werden ein Paar. Dies wiederum provoziert die Eifersucht der liebestollen und zutiefst romantischen Ines Institoris. Nicht zufällig erschießt sie ihren ehemaligen Geliebten in einer Münchener Trambahn. Wie auch im Werke Joyces werden jene Vehikel dem Teufel, zumindest aber dem Transport ins Jenseits zugeschrieben, wie auch die folgende Beschreibung eindrücklich belegt: Diese bayerisch-blauen Münchener Trambahnwagen sind ja sehr schwer gebaut und machen, liege es nun eben an dieser Schwere oder an besonderen Eigenschaften des Untergrundes, einen erheblichen Lärm. Elektrisches Feuer zuckte beständig unter den Rädern des Gefährtes und noch stärker oben an der Kontaktstange, von wo diese kalten Flammen zischend in ganzen Funkenschwärmen zerstoben. (DF, S.649).

Sowohl der Lärm der zuvor vom Teufel beschriebenen Hölle, als auch die Motive von Hitze beziehungsweise Kälte werden hier bewusst wieder aufgenommen, um zu verdeutlichen, dass der Teufel bei dem Mord an Rudi Schwerdtfeger seine Hand im Spiel hat. Die Katastrophe, welche mit diesem Unglücksfall über den Freundeskreis Adrians hereinbricht, ist dessen Verstoß gegen das Liebesverbot zuzuschreiben, sodass er sich in der den Roman beschließenden Klage selber als Mörder bezichtigt. 130

In dieser eindrucksvollen Szene, die zu weiten Teilen der Historia von D. Johann Fausti entlehnt ist, lädt er sich nicht nur die Schuld am Tode seines Freundes auf, sondern auch die Verantwortung für das Dahinscheiden seines kleinen Neffen Nepomuk Schneidewein, dessen Person hier kurz eingeführt werden soll, da sie als Antithese der zuvor beschriebenen Teufelsgestalten gelten kann. Der Neffe Adrians wird als „seliges Kind“ beschrieben und in der Tat zeigen die ihn umgebenden Frauen die Neigung, in seiner Nähe niederzuknien, als handele es sich um ein „Christuskind“.272 Häufig wird der verurteilte Christus mit zur Seite geneigtem Kopf dargestellt, um seine Bescheidenheit und seine Demut darzustellen. Ebenso neigt auch Echo, wie seine Verwandten ihn liebevoll nennen, als die Krankheit ihn zu vernichten droht, oft sein kleines Köpfchen zur Seite und erweist sich somit als „Schmerzensmann“, welcher den Hochmut des Onkels konterkariert. Er erinnert auch insofern an den Sohn Gottes, als er die Sünde Adrians auf sich nimmt und für ihn in den Tod geht, so wie Jesus sich einst die Sünden der Menschheit auflud und für sie starb. Auch die „drollige“ Sprache des Knaben, die etwas eigentümlich Fremdes an sich hat, zeichnet ihn als jemanden aus, der von „weither“ ist (DF, S.679). Seine für ein Kind ungewöhnlich entwickelten Eigenschaften und seine altertümlich anmutende Ausdrucksweise lassen den kleinen Echo als eine mythische Gestalt erscheinen, die schon einmal auf dieser Erde wandelte und die ihr Umfeld verzaubert. Mit seiner Hirnhautentzündung setzt auch das schon im Onkel vorgeprägte Hauptweh ein. Der Teufel belässt es allerdings nicht bei diesen körperlichen Qualen, sondern straft Adrian, beziehungsweise seinen Neffen, indem er ein „schielendes Verschießen seiner Himmelsaugen“ veranlasst, dass den Eindruck vermittelt, als sei das Kind vom Satan besessen. Auch der Umstand, dass er fortan in seinen Schmerzen mit den Zähnen knirscht verstärkt diesen Eindruck (DF, S.688f.). Letzteres bringt Echo darüber hinaus wieder mit der Bibel in Verbindung, da dort die Beschreibung des Weltenendes und des letzten Gerichts auch auf das Heulen und Zähneklappern in der Hölle verweist: „So wird es auch am Ende der Welt gehen: Die Engel werden ausgehen und die Bösen von den Gerechten scheiden und werden sie in den Feuerofen werfen; da wird Heulen und Zähneklappern sein“ (Mtt.13,49). Die Leiden Nepomuks, die Entstellung seines engelsgleichen Gesichtes und das Zähneklappern, welches den Krankheitsverlauf begleitet, verdeutlichen, dass der Neffe Adrians in der Hand des Teufels ist und dass folglich selbst der Tod keine Garantie auf Erlösung von seinen Schmerzen verheißt. Das langsame, grausam beschriebene Dahinscheiden des Kleinen stürzt Adrian in tiefe Verzweiflung und offenbart den Teufel als reale Figur, die ihren Einfluss nicht nur in der jenseitigen, sondern ebenso in der diesseitigen Welt gelten macht. Im Beisein Zeitbloms fährt Vgl. Karlheinz Hasselbach. Thomas Mann. Doktor Faustus. Oldenbourg Verlag. München. 1978. S.59.

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Adrian den Satan, welcher einzig ihm sichtbar ist, an: „Nimm ihn, Scheusal! (…) Nimm ihn, Hundsfott, aber beeil dich nach Kräften, wenn du denn, Schubiack, auch dies nicht dulden wolltest! (…) aber nein, woher soll der Gnade nehmen, der Gnadenferne, und gerade dies wohl mußt' er mit viehischer Wut zertreten. Nimm ihn, Auswurf!“ (DF, S.691). Nach dem Tod seines Neffen lässt Adrian schließlich jedwede Hoffnung fahren und beschließt, die Menschlichkeit, um die er sich in den letzten Jahren verstärkt bemüht hatte, die er zu einem Teil seines Lebens und seines Werkes hatte machen wollen, zurückzunehmen: „Ich habe gefunden (…) es soll nicht sein. (…) Das Gute und Edle (…), was man das Menschliche nennt, obwohl es gut ist und edel. Um was die Menschen gekämpft, wofür sie Zwingburgen gestürmt, und was die Erfüllten jubelnd verkündigt haben, das soll nicht sein. Es wird zurückgenommen. Ich will es zurücknehmen.“ (DF, S.692). Gemeint ist hier die Neunte Symphonie Beethovens, die Ode an die Freude und Hymne Europas. Trotz der anfänglichen Kühle seines Gemütes hat Adrian den Mangel an wärmender Liebe und Gefühl in seinem Leben als große Leere empfunden. Zweimal hat er daher versucht, sich einem Menschen anzunähern und beide Male hat der Teufel sein Vorhaben vereitelt und gestraft. Mit dem Tod des Freundes, Rudi Schwerdtfeger, sowie dem Tod des kleinen Nepomuk lässt Adrian nun alle Hoffnung auf Liebe und Humanität fahren. Nicht sein Leben, sondern einzig sein Werk vermag es, Hoffnung auf diese Humanität zu geben, nicht zuletzt durch die tragische letzte Aufführung Adrians, den vollendeten und unverfälschten Ausdruck des Leides, welcher Mitgefühl und Menschlichkeit in Mutter Schweigstill inspiriert.

2.6.7 Das Werk Adrian Leverkühns – Zeugnis der Hoffnung Bereits als Kind fühlt der junge Adrian sich der Musik zugetan. Die Lieder, die er mit der Stallmagd des Hofes Buchel zu singen pflegt, strahlen für ihn eine Wärme und Herzlichkeit aus, die ihn faszinieren. Dennoch erlernt er erst spät das Notenlesen sowie das Musizieren. Im Hause seines Onkels in Kaisersaschern zieht das Klavier ihn geradezu magisch an und der junge Knabe zeigt besonders viel Talent bei der Improvisation. So stellt sein Lehrer Kretzschmar denn auch bald fest, dass Adrian den „kompositorischen Blick des Initiierten“ hat (DF, S.188), dass er also für die Komposition großer Werke bestimmt sei. Die Musik ist ihm ein „hermetisches Laboratorium“, eine „Goldküche der Komposition“, wird also hier mit den schwarzen Künsten und der Alchemie in Verbindung gebracht. Zugleich ist sie das Mittel Adrians, der Welt zu entfliehen. Dies zeigt sich schon im Bordell, wo er die Szene durch das Anschlagen des Gnadenakkords zu entschärfen 132

versucht. Aber auch später in Pfeiffering dient seine Arbeit einer Art Eskapismus. Die Musik steht somit zwischen Adrian und der Gesellschaft. Anfangs hofft er noch, mit ihrer Hilfe zu den Menschen durchzubrechen, erkennt aber zunehmend, dass sie einzig seine Hölle widerzuspiegeln vermag, seine vom Teufel angeheizten Höhen und unermesslichen Tiefen. Die Musik wird somit zu einer Mauer, welche ihn von seinen Mitmenschen trennt und sein Außenseitertum noch potenziert. Das von ihm erwählte Künstlertum verlangt Kälte und Einsamkeit und entfremdet ihn somit der Welt. Zu Adrians kleineren Werken zählen verschiedene Gesänge, die er noch zu Anfang seiner Karriere komponierte. Besonders intensiv widmet er sich der Vertonung einiger Stellen aus Dantes Divina Commedia, etwa „wo der Dichter im Licht des Venusgestirns die kleineren Lichter – es sind die Geister der Seligen-, die einen rascher, die anderen langsamer, je nach der Art ihrer Gottesbetrachtung, ihre Kreise ziehen sieht.“ Allerdings wählt Adrian auch grausamere, wenn auch anrührende Verse, wo von der Verdammnis der Unschuld, der Unbelehrtheit die Rede ist und nach der unbegreiflichen Gerechtigkeit gefragt wird, die den Guten und Reinen, nur eben nicht Getauften, vom Glauben nicht Erreichten der Hölle überantwortet. Er hatte es über sich gewonnen, die donnernde Erwiderung in Töne zu setzen, welche die Ohnmacht des geschöpflich Guten vor dem Guten an sich verkündet, das, als Quelle der Gerechtigkeit, durch nichts, was unser Verstand ungerecht zu nennen versucht ist, von sich selber weichen kann. Mich empörte diese Verleugnung des Menschlichen zugunsten einer unzugänglich absoluten Vorbestimmung. (DF, S.236f.).

Adrian nimmt hier auf die danteske Vorhölle, den Limbus, Bezug, in welchem die ungetauften Kinder als auch die Heiden, darunter selbst Vergil, weilen und unter der ewigen Gottesferne leiden müssen. Der Limbus scheint ihm ungerecht, da heidnische Völker häufig nicht an ihrer vermeintlichen Ungläubigkeit schuld sind. Er empfindet die Verdammung der Nicht-Christen zudem als unbillig, da andere Religionen sowie Atheisten durchaus menschlich und humanistisch bemüht sein können. Auch die Werke seiner Reifezeit beschäftigen sich vor allem mit der Schicksalhaftigkeit menschlicher Existenz. Die Apocalipsis cum figuris, bereits zu weiten Teilen im streng durchorganisierten 12-Ton-System gesetzt, beschreibt den Himmel wie die Hölle mit den exakt gleichen Noten, wenn auch anders angeordnet. Das „Pandämonium des Lachens“, das den ersten Teil des Werkes beschließt, erscheint Zeitblom einem wahren Höllengelächter gleichzukommen, einem „grauenhaft anschwellenden, überbordenden, sardonischen Gaudium Gehennas, dieser aus Johlen, Kläffen, Kreischen, Meckern, Röhren, Heulen und Wiehern schauderhaft gemischten Salve von Hohn- und Triumphgelächter der Hölle.“ (DF, S.548). 133

Diese „Wiederaufnahme des Buffo-Lachens“ aus dem Tod in Venedig273 findet ihr Gegenstück in einem Kinderchor, der mit seiner Lieblichkeit wie Sphärenmusik auf den verzückten Hörer wirkt, welcher aber dieselben Noten wiederaufnimmt. In seinem Werk veranschaulicht Adrian die Extreme, die sein Leben bestimmen, aber auch die Zweideutigkeit jeder Note, jedes Systems. 274 Teufelsgelächter und Himmelschöre schöpfen aus denselben Mitteln der Musik. Gutes kann aus Bösem entstehen, ebenso wie umgekehrt. Schon Goethes Mephisto wußte dies, wenn er betonte, er sei „ein Teil von jener Kraft, die stets das Böse will und stets das Gute schafft.“ 275 Viele von Adrians Zeitgenossen halten die Apocalipsis cum figuris für den Ausdruck der Seelenlosigkeit des Komponisten und des aktuellen Barbarismus, den ja auch der Teufel Adrian schon prophezeit hatte, Zeitblom aber sieht das Werk des Freundes gnädiger als seine Mitmenschen: „Man verzeihe mir die gewissermaßen ins Blaue gerichtete Polemik, aber Barbarei, Unmenschlichkeit sehe ich darin, ein solches Verlangen nach Seele – das Verlangen der kleinen Seejungfrau – Seelenlosigkeit zu nennen!“ (DF, S.548). Gerade die Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung, die aus dem Werk Adrians sprechen und dem Freund die Tränen in die Augen treiben, zeugen doch von seiner aufrichtigen Suche und seinem Verlangen nach einer Seele, wie sie auch die kleine Meerjungfrau im Märchen Andersens sucht und begehrt.276 Dr. Fausti Weheklag ist das letzte Werk Adrian Leverkühns und dasjenige, welches am deutlichsten auf den literarischen Vorgänger, die Historia von D. Johann Fausti, Bezug nimmt. Es ist gänzlich im System der 12-Ton-Technik gesetzt, von seiner Form her also durchaus avantgardistisch, die Inhalte aber sind noch zu großen Teilen romantischem Gedankengut geschuldet.277 Diese These wird dadurch gestützt, dass die Klangchiffre h e ae es, ein Kürzel für die einstige Geliebte Hetaera Esmeralda, durchweg in diesem letzten Werk des Komponisten auftaucht. Die Liebe zum Werk, vielleicht aber auch die Liebe zu einem Menschen, spricht aus dieser musikalischen Würdigung an die Muse seiner Inspiration. Das „Lied der Trauer“ ist zudem die von Adrian vorgesehene Antithese zu Beethovens Neunter Symphonie, der Ode an die Freude.278 Es kündet von der negativen Seite der Religion, nicht jedoch Vgl. Helmut. Petriconi. Das Reich des Untergangs. S.181. Vgl. hierzu auch Jonas Lesser. Thomas Mann in der Epoche seiner Vollendung. Verlag Kurt Desch. München. 1952. S.394. 275 Johann Wolfgang von Goethe. Faust. Texte. In: Ebd. Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. Vierzig Bände. Herausgegeben von Friedmar Apel, Hendrik Birus, Anne Bohnenkamp, Dieter Borchmeyer, Albrecht Schöne (u.a.) Deutscher Klassiker Verlag. Frankfurt a.M. 1994. S.64. 276 Vgl. hierzu auch Hans Rudolf Vaget. „Thomas Mann und James Joyce. Zur Frage des Modernismus im 'Doktor Faustus' “ In: Thomas Mann Jahrbuch. Band 2. 1989. S.141.f. 277 Jens Rieckmann. „Zeitblom und Leverkühn: Traditionelles und avantgardistisches Kunstverständnis“ In German Quarterly 52. 1979. S.50. 278 Vgl. hierzu auch Viktor Zuckerkandl. „Die Musik des Doktor Faustus“ In: Neue Rundschau 59. 1948. S.207f. 273 274

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von ihrer Verneinung. Es ist ein Werk über den Versucher und die Verdammnis, die er über seine Opfer bringt, aber umso mehr ist es ein religiöses Werk. Wie das einstige Studium Adrians befasst es sich allerdings eher mit der Dämonologie als mit der Lehre Gottes. Zeitblom glaubt sogar, dass es ein Werk ist, aus dem die Hoffnung keimt, die Hoffnung jenseits der Hoffnungslosigkeit, die Transzendenz der Verzweiflung, - nicht der Verrat an ihr, sondern das Wunder, das über den Glauben geht. Hört nur den Schluß, hört ihn mit mir: Eine Instrumentengruppe nach der anderen tritt zurück, und was übrigbleibt, womit das Werk verklingt, ist das hohe g eines Cello, das letzte Wort, der letzte verschwebende Laut, in pianissimo-Fermate langsam vergehend. Dann ist nichts mehr, - Schweigen und Nacht. Aber der nachschwingend im Schweigen hängende Ton, der nicht mehr ist, dem nur die Seele noch nachlauscht, und der Ausklang der Trauer war, ist es nicht mehr, wandelt den Sinn, steht als ein Licht in der Nacht. (DF, S.711).

So wie die leise Hoffnung auf Seele, Gnade und Vergebung die letzte Komposition Adrians durchwirkt, so durchwirkt sie auch den Doktor Faustus Thomas Manns. Er selber wünschte diese Möglichkeit auf Umkehr und Gnade, die das hohe g des verklingenden Werkes verheißt, deutlicher herauszustellen, doch sein treuester Berater in musikalischen Belangen, Theodor W. Adorno, riet ihm davon ab, die Botschaft derart pointiert herauszustellen. Auch wenn Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit das Leben und das Werk des deutschen Tonsetzers Adrian Leverkühn bestimmen, auch wenn sie ihn niederzudrücken und zu zerschmettern drohen, klingt die Hoffnung jenseits der Hoffnungslosigkeit als leises, aber zentrales Motiv des Romans durch. Meyer betont, dass dieses Motiv auch als Symbol eines neuen Humanismus gelten kann, der das Böse in seine Vorstellung des Guten integriert.279 Wie der Teufel betont, sollte die moderne Musik jedoch aufgeben, den Schein zu wahren. Recht und eigentlich sei sie nur noch als Ausdruck des menschlichen Leides denkbar und ebendiese Forderung erfüllt Adrian am Ende seiner Schaffensperiode in seiner Klage an Freunde und Bekannte. Wir sahen Tränen seine Wangen hinunterrinnen und auf die Tasten fallen, die er, naß wie sie waren, in stark dissonantem Akkorde anschlug. Dabei öffnete er den Mund, wie um zu singen, aber nur ein Klagelaut, der mir für immer im Ohre hängengeblieben ist, brach zwischen seinen Lippen hervor; er breitete, über das Instrument gebeugt, die Arme aus, als wollte er es damit umfangen, und fiel plötzlich, wie gestoßen, seitlich vom Sessel hinab zu Boden. (DF, S.728f.).

Assmann beschreibt diesen versuchten Durchbruch zu Adrians Mitmenschen nur als bedingt gelungen.280 Zeit seines Lebens sucht Adrian die Kälte, welche ihn seinen Mitmenschen entfremdet, zu überwinden, die Puppe zu sprengen und zu einer neuen Humanität durchzubrechen, was ihm jedoch nur leidlich gelingt. In der Tat wendet sich der Großteil der Gesellschaft von Adrian ab, wenn er die Veranstaltung verstört und überstürzt verlässt. Doch Assmann lässt außer Acht, dass die Hans Meyer. „Thomas Manns Doktor Faustus. Roman einer Endzeit und Endzeit des Romans“ In: Ebd. Von Lessing bis Thomas Mann. Wandlungen der bürgerlichen Literatur in Deutschland. Verlag Günther Neske. Pfullingen. 1959. S.404. 280 Dietrich Assmann. Thomas Manns Doktor Faustus und seine Beziehungen zur Faust-Tradition. Suomalainen Tiedeakatemia. Helsinki. 1975. S.172. 279

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wenigen wahren Freunde Adrians an seiner Seite bleiben. Darüber hinaus dringt der Protagonist zu seiner Hausherrin Frau Schweigstill durch, die entgegen ihres telling names denn auch das letzte Wort in der eindrucksvollen Szene hat: „Viel hat er von der ewigen Gnaden g'redt, der arme Mann, und i weiß net, ob die langt. Aber a recht's a menschlich's Verständnis, glaubt's mir, des langt für all's!“ (DF, S.729). Adrian schafft den Durchbruch also sehr wohl, wenn auch nur zu einigen wenigen Menschen, zu solchen nämlich, die an der Humanität festhalten und sie auch zu Zeiten des nationalsozialistischen Terrors nicht verraten.

2.6.8 Höllenfahrt Deutschlands – eine Allegorie Die Thomas-Mann-Forschung hat häufig betont, dass die Geschichte des deutschen Tonsetzers Adrian Leverkühn die verhängnisvolle Geschichte des deutschen Volkes widerspiegelt. Es ist die „Geschichte der deutschen Seele“,281 das Ausbreiten einer deutschen Gemütslandschaft,282 in welcher Zeitblom auf einer zweiten Erzählebene stets auch die aktuellen Kriegsereignisse und die Leiden des deutschen Volkes porträtiert. Er übersetzt das Private somit ins literarisch Allgemeine, das Persönliche ins „Repräsentativ-Menschheitsgeschichtliche“ und schafft somit eine „mythischnormative Verknüpfung zwischen Literatur und Leben.“ 283 Teils geschieht dies durch eine explizite Schilderung der geschichtlichen Ereignisse, wenn Zeitblom, über seinem Schreibtisch brütend, das Geschehen während der Niederschrift gegen Ende des Krieges beschreibt. Teils ist diese Schilderung der Situation Deutschlands aber auch in der eigentlichen Romanhandlung verankert. So lassen die Passagen über den Studentenkreis Adrians schon erahnen, welchen Lauf das Schicksal der Deutschen nehmen soll, denn hier wird die Keimlegung für die Mythen des Nationalsozialismus geschildert, die umso bedenklicher ist, da sie selbst vor den akademischen Kreisen nicht haltmacht. Die Theologie-Studenten verklären die nationale Gesinnung, indem sie „Deutschtum“ mit dem „Trachten nach neuen Ganzheitsordnungen“ gleichsetzen. Wie Zeitblom im Nachhinein einsieht, ergab sich der Kreis schon damals „einem Mythos von zweifelhafter Echtheit und unzweifelhafter Hoffart“, „nämlich dem völkischen mit seiner Strukturromantik des Kriegertypus, die nichts weiter ist als christlich verbrämtes, naturales Heidentum und Christus zum >Herrn der himmlischen Helmut Koopmann. „Doktor Faustus. Eine Geschichte der deutschen Innerlichkeit?“ S.8. Vgl. Hanns-Erich Haack. „Das Teufelsbündnis. Betrachtungen zu dem letzten Werk von Thomas Mann“ In: Deutsche Rundschau 74. 1948. S.219. 283 Vgl. Irmela von der Lühe. „Es wird mein Parsival. Thomas Manns Doktor Faustus zwischen mythischem Erzählen und intellektueller Biographie“ In: Werner Röcke (Hrsg.). Thomas Mann. Doktor Faustus 1947 – 1997. Peter Lang. Europäischer Verlag der Wissenschaften. Bern 2001. S.267ff. 281 282

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Heerscharen< stempelt. Das ist aber eine entschieden dämonisch bedrohte Position...“ (DF, S.183). Diese schon indoktrinierte Studentenschaft findet ihre bürgerliche Entsprechung wenig später in der Schilderung des Kridwiß-Kreises, der die Auswüchse des Faschismus nicht nur akzeptiert, sondern sie auch maßgeblich unterstützt und somit die Paktschließung Deutschlands mit dem Teufel versinnbildlicht. Die Ideologie und Radikalität dieses Kreises zeigt sich vor allem in einer Diskussion bezüglich des Umgangs mit faulen Zähnen. Die mühsame Wurzelbehandlung, die über lange Zeit in der Zahnmedizin betrieben wurde, erscheint neuerdings zu aufwendig und der Mühe nicht mehr wert. Ratsamer sei es, den faulen Zahn einfach mitsamt seiner Wurzel auszureißen, eine schockierende Allegorie auf den Umgang mit den Juden zu Zeiten des Dritten Reichs und zugleich eine Kritik Manns an der Verherrlichung alles Gesunden und „Arischen“, die in der Ausrottung „unwerten“ Lebens resultiert.284 Der Autor entmythisiert somit die völkischen Mythen, welche die politische Führung der 30er und 40er Jahre propagierte. Im Doktor Faustus verurteilt er sowohl den „blutigen Barbarismus“ als auch den „blutlosen Intellektualismus“, der es nicht über sich zu bringen vermag, der Ideologie die Vernunft entgegenzuhalten. 285 Mann fürchtet jedoch, dass er stattdessen zu der Schaffung eines neuen Mythos beiträgt, der den Deutschen mit ihrer Dämonie schmeicheln könnte.286 Daher bemüht er sich in dem Roman darum, die Thematik europäisch zu behandeln. Er kreiert dabei tatsächlich einen neuen Mythos, aber nicht den Mythos der „schmeichelhaften“ Dämonie Deutschlands, sondern den Mythos einer neuen Humanität, die begreift, dass sie das dämonische Element integrieren muss, um zu funktionieren. Dass das Leben Adrian Leverkühns als Allegorie angelegt ist, wird zudem anhand der Rahmenhandlung des Romans deutlich. Schon nach gut einem Drittel des Textes konstatiert Serenus Zeitblom: Wir sind verloren. Will sagen: der Krieg ist verloren, aber das bedeutet mehr, als einen verlorenen Feldzug, es bedeutet tatsächlich, daß wir verloren sind, verloren unsere Sache und Seele, unser Glaube und unsere Geschichte. Es ist aus mit Deutschland, wird aus mit ihm sein, ein unnennbarer Zusammenbruch, ökonomisch, politisch, moralisch und geistig, kurz allumfassend, zeichnet sich ab, - ich will es nicht gewünscht haben, was droht, denn es ist die Verzweiflung, ist der Wahnsinn.“ (DF, S.255).

Verzweiflung und Wahnsinn bestimmen vor allem die letzten Jahre und Monate von Adrians Leben, wenn die Syphilis seinen Geist zu umnachten beginnt und er halluziniert, dass kleine Kinder ihn besuchen, die ihm sein Werk einflüstern, deren Erscheinung aber durch Insekten und Würmer an Arnold Busch. Faust und Faschismus. Thomas Manns Doktor Faustus und Alfred Döblins November 1918 als exilliterarische Auseinandersetzung mit Deutschland. Lang Verlag. Frankfurt a.M. 1984.S.135. 285 Thomas Mann. Die Entstehung des Doktor Faustus. S.523. 286 Ebd. S.448. 284

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den Pakt mit dem Teufel erinnern. Aber auch andere Charaktere scheinen dem Wahn zu verfallen. Vor allem die Schwestern Rodde können ihr Leben nicht in Einklang mit der Realität bringen. Clarissa hofft ihr Leben lang, als angesehene Schauspielerin Erfolg zu haben, ohne sich einzugestehen, dass sie schlichtweg nicht über darstellerisches Talent verfügt. Dass sie, ebenso wie Deutschland, den falschen Weg gegangen ist, will sie bis zuletzt nicht wahrhaben. Den einzig möglichen Ausweg stellt für sie daher der Suizid dar. Auch ihre Schwester Ines scheitert an der Realität. Von Haus aus im Bürgertum verhaftet, wünscht sie ihr behütetes Leben weiterzuführen und vermählt sich daher mit dem Universitätsprofessor Helmut Institoris, muss jedoch bald feststellen, dass dieser nicht im mindesten zu ihr passt. Ines nämlich zeigte immer schon eine Neigung zu Krankheit und Schwäche, verbunden mit einem Hang zu romantischem Ideengut. Institoris jedoch hegt, ähnlich dem Kridwiß-Kreis, eine regelrechte Obsession für alles Ästhetische, Starke und Gesunde, und vermag es daher nicht, seine Frau tatsächlich zu lieben. Auch Ines fühlt sich am Rande des Wahnsinns und beginnt die verhängnisvolle Affäre mit dem ebenfalls romantisch veranlagten Rudi Schwerdtfeger. In Zeiten der Inhumanität jedoch ist diesem kein langes Leben beschieden. Der Verzweiflung Deutschlands geht jedoch zunächst der dionysische Rausch voraus, genährt durch einen Hintertreppenmythus, die sträfliche Verwechslung des Heruntergekommenen mit dem, was es einmal war, den schmierenhaften Mißbrauch und elenden Ausverkauf des Alt- und Echten, des Treulich-Traulichen, des UrDeutschen, woraus Laffen und Lügner uns einen sinnberaubenden Giftfusel bereitet. Der Riesenrausch, den wir immer Rauschlüsternen uns daran tranken, und in dem wir durch Jahre trügerischen Hochlebens ein Übermaß des Schmählichen verübten, - er muß bezahlt sein. Womit? Ich habe das Wort schon genannt, in Verbindung mit dem Worte »Verzweiflung« sprach ich es aus.“ (DF, S.256).

Verblendet von den Volksmythen der politischen Führung und den Kriegsmärchen der Wochenschau steigert sich Deutschland in einen Rausch der Barbarei und der Inhumanität und bricht unwiderruflich mit jedweder Kultur und Humanität. Das Wort Rausch impliziert, dass es sich hierbei um einen dionysischen Mythos handelt, einen Mythos der Unterwelt also, der die alles zerfleischenden Mänaden in Erinnerung ruft, die selbst vor ihren eigenen Söhnen nicht Halt machen, da sie einem völligen Wahn verfallen sind. Daher glaubt Zeitblom an ein baldiges Ende für Deutschland: „Das Ende kommt, es kommt das Ende, es gehet schon auf und bricht daher über dich.“ (DF, S.629).

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Alles drängt und stürzt dem Ende entgegen, in Endes Zeichen steht die Welt, - steht darin wenigstens für uns Deutsche, deren tausendjährige Geschichte widerlegt, ad absurdum geführt, als unselig verfehlt, als Irrweg erwiesen durch dieses Ergebnis, ins Nichts, in die Verzweiflung, in einen Bankerott ohne Beispiel, in eine von donnernden Flammen umtanzte Höllenfahrt mündet. (DF, S.654f.).

Jedem Ende aber wohnt ein Anfang inne, um mit Hesse zu sprechen, was auch schon die vorigen Werke Thomas Manns andeuten. An diese Werke anknüpfend beschreibt der Autor auch im Doktor Faustus eine Höllenfahrt, die auf eine Wiederkehr hoffen lässt und sogar die Möglichkeit einer Läuterung impliziert. Der Schluss des Romans klingt dem Ende des Zauberbergs erstaunlich ähnlich und verheißt eine leise Hoffnung auf Liebe: Deutschland, die Wangen hektisch gerötet, taumelte dazumal auf der Höhe wüster Triumphe, im Begriffe, die Welt zu gewinnen kraft des einen Vertrages, den es zu halten gesonnen war, und den es mit seinem Blute gezeichnet hatte. Heute stürzt es, von Dämonen umschlungen, über einem Auge die Hand und mit dem andern ins Grauen starrend, hinab von Verzweiflung zu Verzweiflung. Wann wird es des Schlundes Grund erreichen? Wann wird aus letzter Hoffnungslosigkeit, ein Wunder, das über den Glauben geht, das Licht der Hoffnung tragen? Ein einsamer Mann faltet seine Hände und spricht: Gott sei euerer armen Seele gnädig, mein Freund, mein Vaterland. (DF, S.738).

Thomas Mann rekurriert hier auf die Hoffnung jenseits aller Hoffnungslosigkeit, die sich im Werk Adrian Leverkühns ankündigt und die auch er für die Zukunft Deutschlands hegt. Sagave betont, dass Mann hierbei der von Hans Castorp in „Schnee“ erlangten Ahnung und Hoffnung auf eine neue Humanität Ausdruck verleiht, dass der Mensch sich letztlich doch noch über die Gegensätze erheben möge.287

2.7 Die Unterwelt im Werk Thomas Manns – ein Resumée Sowohl in seinen Erzählungen als auch in seinen Romanen greift Thomas Mann den literarischen Topos der Unterwelt auf. Die katabatische Motivik sowie die Beschäftigung mit der Eschatologie stellen Fixpunkte in seinem Werk dar, nicht zuletzt, da sie den von Krieg und Grausamkeit geprägten Verlauf der europäischen Geschichte gezielt zu reflektieren vermögen. Nach eingehender Analyse scheint es, dass sich in seiner Verwendung des Topos eine Entwicklung nachvollziehen lässt. In seinem Frühwerk, insbesondere dem Tod in Venedig, rezipiert Thomas Mann überwiegend die antike, genau genommen, die griechische Mythologie. Die Novelle wird vor allem von der Gottheit Dionysos bestimmt und schildert mit ihrer Hilfe den leidenschaftlichen Vgl. Pierre-Paul Sagave. „Zum Bild des Luthertums in Thomas Manns Doktor Faustus“ In: Sinn und Form. Sonderheft 1965. S.356. 287

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(Liebes-)Rausch, welcher über den Künstler Gustav Aschenbach kommt. Neben Dionysos verweist Thomas Mann jedoch auch auf die Gottheiten Eros, Thanatos und Hermes, Götter der Liebe, des Schlafes und des Todes, welche den Übertritt Gustav Aschenbachs begleiten. Auch die Form der Novelle entspricht dieser klassischen Adaption der Mythologeme, da vor allem das vierte Kapitel in einem homerischen Duktus gehalten ist. Bei dieser Adaption scheint es dem Autor insbesondere um das Thema des Künstlers und seiner Rolle in der Gesellschaft zu gehen. Aschenbach fügt sich dem Leistungsideal seiner Eltern und seiner Nation und schafft aus strengem Arbeitseifer heraus kanonische Werke, welche der Erziehung der Jugend und der Gesellschaft im allgemeinen dienen. Mit zunehmendem Alter allerdings ermüdet ihn dieses Arbeitsethos und er besinnt sich auf die romantischen Ideale des aus den Leidenschaften und dem Rausch schöpfenden Künstlers. Wie sein dionysischer Traum ihm jedoch verheißt, bedeutet diese Hinwendung zur Leidenschaft auch eine Hinwendung zum (Blut-)Rausch der Mänaden. Aschenbach dient somit als Allegorie für den Künstler und Intellektuellen, welcher sich von den erzieherischen Ansprüchen und Idealen der Kunst abwendet, um in ihr sein Unbewusstes, seine Triebe und seine Leidenschaften zu erforschen, womit die Kunst zu einem Mittel der Selbstfindung wird. Der Begriff der Humanität spielt in der Novelle noch eine untergeordnete Rolle, soll im Folgewerk Thomas Manns aber zusehends Bedeutung erlangen. Lydia Baer sieht den Zauberberg als das Werk an, in dem die Humanität zu einem zentralen Begriff wird und als Zeichen der Lebensfreundschaft zu werten ist.288 Hans Castorp begreift, dass Leben und Tod, Körper und Geist keine Widersprüche darstellen, da der Mensch diese vermeintlichen Gegensätze als vermittelnde Instanz zu verbinden vermag. Der Zauberberg wird somit zu einem Läuterungsberg, welcher Castorp ein tiefgreifendes Weltverständnis eingibt und an Dantes Divina Commedia erinnert. Jedoch kommt es nicht zu der bei Dante erfahrenen Anschauung Gottes, sondern zu einem Verständnis des Menschen und seiner Funktion in dieser Welt und folglich zu der Erfahrung einer neuen Humanität. Da Hans Castorp diese Humanität, welche er in seinem Unterbewussten, seinem Gedankentraum erfahren hat, nicht ins Leben zu transponieren vermag, wäre es besser von der „Erahnung“ derselben zu sprechen. Hans Castorp, der Repräsentant seiner Epoche, welcher das Bürgertum und vor allem die ihm inne wohnende Neigung zur Romantik, zur Todesaffinität und zu dem völkischen Mythos überwindet, kann seine humanistische Mission nicht erfolgreich zu Ende bringen. Doch die mythische Struktur des Romans legt nahe, dass sich nicht lediglich die Ideenwelt und das Weltverständnis Castorps wandelt, sondern das der europäischen Gesellschaft überhaupt, und dass die neue Humanität, welche Castorp auf dem Zauberberg angeweht hat, in der Zukunft ihre Erfüllung finden könnte. Wie vor allem in seinen Essays deutlich wird, bedeutet diese Humanität für Thomas Mann auch Vgl. Lydia Baer. The Concept and Function of Death in the Works of Thomas Mann. S.59.

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gesellschaftlichen und politischen Fortschritt. In „Deutschland und die Demokratie“ beharrt er darauf, dass die Demokratie und damit die Republik Ausdruck und Rahmen dieser neuen Humanität seien und dass sie daher der Monarchie und ihren nationalistischen Tendenzen bei weitem vorzuziehen seien.289 Was die katabatischen Mythologeme anbelangt, so ist der Zauberberg vor allem homerisch geprägt. Hans Castorp wird von Settembrini mit Odysseus verglichen, der sich in das Schattenreich hinabwagt, wo nicht nur die seelenlosen Schatten hausen, sondern auch Minos und Radamanth das Zepter schwingen. Neben diesen antiken Elementen, die wohlgemerkt vor allem von dem Humanisten und Aufklärer Settembrini eingeführt werden, finden sich aber auch christliche Motive und Verweise. Dr. Krokowski etwa, eine Parodie auf den Psychoanalytiker Sigmund Freud, weist die Physiognomie ebenso wie die Charakterzüge eins christlichen Teufels auf. Wie in den übrigen Werken Thomas Manns finden verschiedene Mythologeme Eingang in den Roman, die dazu führen, dass der antike Mythos zwar nicht seine Bedeutung verliert, aber eine Umdeutung erfährt. Thomas Mann nutzt das mythologische Substrat im Zauberberg, um den Menschen und die neue Humanität in das Zentrum seines Romans zu stellen. Die Hinwendung zu christlichen Motiven lässt sich auch anhand der 1930 erschienen Novelle Mario und der Zauberer nachvollziehen, in welcher der verkrüppelte Cipolla sich des Willens seines Publiku*ms bemächtigt. Das stetige Anwachsen seiner Macht kann als Metapher für den in Italien und später auch in Deutschland aufkommenden Faschismus gedeutet werden und auf die Bereitwilligkeit der Völker, sich dessen Tyrannei zu unterwerfen. Mit dem abrupten Ende der Novelle, dem im Affekt begangenen Mord an Cipolla durch den gedemütigten Kellner Mario, macht der Autor dieser Schreckensherrschaft des Zauberers ein jähes Ende. Für das Publikum bedeutet der Mord zwar einen Schock, aber dennoch gilt er ihm als ein „befreiendes“ Moment, da sie dem zunächst nicht enden wollenden Schrecken der Vorführung stoppt. Mithilfe der Entthronung und des schändlichen Falles Cipollas setzt Thomas Mann sein lang gehegtes Vorhaben um, den Mythos den nationalsozialistischen Machthabern zu entreißen, „um ihn ins Humane“ umzufunktionieren. Dieses Vorhaben führt er schließlich in seinem Reiferoman Doktor Faustus fort, wo er die von Flammen umzüngelte Höllenfahrt Deutschlands mit der Lebensgeschichte des Tonsetzers Adrian Leverkühn verknüpft. Der von Natur aus „kalte“ Komponist entschließt sich (wissentlich und willentlich) zu einem Pakt mit dem Teufel, welcher ihm künstlerische Inspiration und Kreativität Vgl. hierzu Thomas Mann. „Deutschland und die Demokratie“ In: Essays II. Große kommentierte Frankfurter Ausgabe. Bd.15. 2002. S.948. 289

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verheißt. Das Mythologem der Höllenfahrt dient Thomas Mann hier nicht nur als Mittel der Erkenntnis des Selbst oder der Weltzusammenhänge, sondern als ein neuer Zugang zur Kunst, da sie Adrian musikalische Genialität und Inspiration verheißt. Einzige Bedingung des Teufels ist der Verzicht Adrians auf jegliche „wärmende“ Liebe. Zunächst scheint dem Komponisten dieser Preis nicht zu hoch zu sein, da er seiner sozialen Disposition entspricht und er ohnehin ein von der Gesellschaft isolierter Einzelgänger ist. Im Laufe des Romans jedoch wird deutlich, dass er der Liebe durchaus bedarf, um seiner selbst willen, aber auch im Hinblick auf sein Werk. Seine Annäherungsversuche an Marie Godeau ebenso wie an seinen Neffen Nepomuk Schneidewein straft der Teufel mit dem Tod seines Freundes Rudi Schwerdtfeger und der leidvollen Erkrankung des kleinen „Echo“. Trotz der Kälte und der Einsamkeit, welche das vergeistigte, im Abstrakten beheimatete Leben Adrians bestimmen, hält der Komponist an der „Hoffnung jenseits der Hoffnungslosigkeit“ fest, wie sein Spätwerk, Dr. Fausti Weheklag, eindrucksvoll beweist. Dieses „Lied der Trauer“ ist, wie Zeitblom es versteht, zutiefst religiös, da es einem verzweifelten Schrei nach Seele und nach Humanität gleichkommt. Das Entbehren der „wärmenden“ Liebe kommt eben nicht einer Negation derselben gleich, sondern macht Adrian bewusst, wie sehr diese in Zeiten der Inhumanität und der Barbarei vonnöten ist. Das hohe und einsame g eines Cello steht wie ein Licht in der Nacht und dient ihm als Bild für die Hoffnung, welche er insgeheim in die neue Humanität setzt. Dass diese Hoffnung nicht völlig ins Leere zielt, belegt die letzte Vorführung Adrian Leverkühns, welche dem „Ausdruck des Leides in seinem realen Augenblick“ dient und die zumindest einen teilweisen Durchbruch Adrians zu den Menschen bedeutet, da seine Haushälterin Frau Schweigstill sich zutiefst ergriffen zeigt.

3. Hölle und Hades im Werk James Joyces Auch die parallel zu dem Werk Thomas Manns entstehenden Texte des irischen Schriftstellers James Joyce rekurrieren auf den literarischen Topos der Unterweltfahrt. Schon in seinem ersten Prosawerk Dubliners, welches zwischen 1904 und 1907 entstand, aber erst 1914 veröffentlicht wurde, kündigt sich das Thema in der Form des Verfalls und des Niedergangs einer Stadtbevölkerung an und erinnert damit an den Tod in Venedig oder auch an den Erstlingsroman Thomas Manns, Die Buddenbrooks. Joyce selber bezeichnete es einst als seine Absicht, „a chapter of the moral history of my country and I chose Dublin for the scene because that city seemed to me the centre of paralysis.“290 Vgl. Herbert Gorman. James Joyce. A definitive biography. John Lane The Bodley Head. London. 1949. S.150.

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Der Erzählzyklus umfasst 15 Geschichten, die sich um Apathie, Paralyse und Niedergang drehen und ein düsteres Bild der irischen Metropole zeichnen.291 Dublin wird somit, wie das Venedig Thomas Manns, zu einer Nekropole, in der humanistische Werte zu leeren Hülsen verkommen sind, was Joyce mit Bedauern, aber auch mit einem Quäntchen Ironie schildert. Für Joyce kam Dublin dabei sowohl der Status einer europäischen Metropole zu292 als auch der ekklesiastische Rang einer „seventh city of christendom.“ Dublin rückt somit kulturell und rituell in das Zentrum Europas und spiegelt gezielt den Zeitgeist des Kontinents um die Jahrhundertwende wider. Joyce war sich dieser europäischen Tragweite durchaus bewusst.293 Zu seinem Freund Arthur Power soll er einst gesagt haben: „I always write about Dublin, because if I can get to the heart of Dublin I can get to the heart of all the cities of the world. In the particular is contained the universal.“ 294 Wie auch Thomas Mann macht Joyce in seinen Texten von der zyklischen Geschichts- und Mythosvorstellung Gebrauch, indem er seine Kurzgeschichten, den Jahreszeiten entsprechend, den Lauf eines Jahres beschreiben lässt.295 Sein Umgang mit Mythos wird unter anderem in den letzten beiden Geschichten, „Grace“ und „The Dead“ deutlich. Genau wie im Werke Manns steht in Joyces Verwendung des unterweltlichten Topos nicht mehr die Gestalt des Teufels oder eines Gottes im Vordergrund, sondern der Mensch selber wird zum zentralen Thema. Da der Autor zu enthüllen vermag, was höchst menschlich ist, nämlich die Laster und die Sündhaftigkeit der Bevölkerung Dublins, kann auch bei der Beschreibung seines literarischen Werkes von einem neuen Humanismus gesprochen werden. Joyce „seeks to attain to absolute sincerity, to all that is most human in us.“296

3.1 „Grace“ - Umkehrung der Divina Commedia Nicht zuletzt aufgrund der Beobachtung Stanislaus Joyces in seinem Buch My Brother's Keeper gilt es als nahezu gesichert, dass „Grace“ die Divina Commedia Dante Alighieris parodistisch aufgreift, Vgl. hierzu auch. William York Tindall. James Joyce. His Way of Interpreting the Modern World. Scribner. New York. 1950. S.6f. 292 Vgl. hierzu Josph Long. „Joyce, Beckett, Dante: Ecriture et Modernité“ In: Dante et ses Lecteurs (du Moyen Âge au XXème Siècle). Actes du colloque de la Jeune Équipe Identités, Représentations, Échanges, Université de Caen. La Licorne. Poitiers. 2001. S.180f. 293 Vgl. hierzu auch Gerrt Lernout. „European Joyce“ In: Richard Brown (Hrsg.). A Companion to James Joyce. Blackwell Books. Malden. 2008. S.94. 294 Vgl. Marvin Magalaner. Time of Apprenticeship. The Fiction of Young James Joyce. Abelard-Schuman. London. 1959. S.18f. 295 Vgl. André Joly; Dairine O'Kelly. „Dubliners. L'Alpha et l'Omega – Lecture sémiologique“ In: Pascal Bataillard; Dominique Sipière (Hrsg.). Dubliners, James Joyce. The Dead, John Huston. Ellipses Market. Paris. 2000. S.28. 296 Paul Léon, „In Memory of James Joyce“ In: Maria Jolas (Hrsg.). A James Joyce Yearbook. Transition Press. Paris. 1949. S.117. 291

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wobei die Erzählung die Reise Dantes durch die Hölle, das Fegefeuer und das Paradies ironisch unterlegt.297 Harry Levin betont, dass „Grace“ einen Unterwelttopos schildere, „where Hell is drunkenness, Purgatory a hangover, and Paradise a Jesuit retreat.“298 Ebenso wie Dante befindet sich der Protagonist der Erzählung, Tom Kernan, in einem „dunklen Wald“, auf einem bedenklichen Weg. Er ist ein moralisch zweifelhafter Teehändler und sozial Absteigender,

dessen

Fall

die

Treppe

hinunter

seinen

gesellschaftlichen

Niedergang

versinnbildlicht. Das parodistische, tragische Element der Erzählung besteht darin, dass Tom Kernan jedoch nicht, wie Dante, auf den rechten Weg zurückfindet, dass er nicht umkehrt, um über den Umweg durch die Hölle zu Gott zu finden, sondern dass er umso tiefer fällt, je weiter die Handlung fortschreitet. Obwohl die letzte Szene eine Bekehrung darstellen soll, welche mit einer Messe für Businessmänner begangen wird, gleicht sie einer Farce, da die „reuevollen“ Geschäftsmänner einzig auf ihren Vorteil bedacht sind und ihnen spirituelle und religiöse Einkehr und Reue nicht möglich sind. Don Gifford umreißt die Handlung von „Grace“ als „fall, repentance and rehabilitation of Thomas Kernan (that) follows the progress of Dante through Hell, Purgatory and Heaven.“ 299 Auch Magalaner betont die mythische Tragweite der Geschichte und ihre Wiederaufnahme des dantesken Infernos: Joyce first experiments seriously with gentle juxtaposition of a public and universal mythical structure, on the one hand, and, on the other, a sordid contemporary narrative. (…He) deliberately sacrifices his own flair of colorful display in order that, by contrast with the weak and degraded picture of modern Hell which he draws, Dante's magnificent conception may appear even more gorgeous. By association, the firm and beautiful Catholic religious structure of the past may put to shame the pallid shell of orthodoxy that, in Joyce's opinion, passed for true belief in the Dublin of 1900.300

Die Geschichte handelt von dem Sturz Tom Kernans im Toilettenbereich einer Kneipe und von seiner sich anschließenden „Läuterung“, die ihm von seiner Frau und seinen sogenannten Freunden aufgezwungen wird. Wie Jean Michel Rabaté betont, gliedert sich die Handlung hierbei in drei Teile: den Sturz in der Kneipe, den sich anschließenden Krankenbesuch der Freunde Kernans, währenddessen sie eine moralische Umkehr planen, und den diese Umkehr besiegelnden Kirchenbesuch. 301

Vgl. Stanislaus Joyce. My Brother's Keeper. Faber & Faber. London. 1958. S.228. Harry Levin. Contexts of Criticism. Harvard University Press. Cambridge, Massachusetts. 1957. S.138. 299 Don Gifford. Joyce Annotated. Notes for Dubliners and A Portrait of the Artist. University of California Press. Berkeley. 1982. S.247. 300 Marvin Magalaner. Time of Apprenticeship. S.129f. 301 Jean Michel Rabaté. James Joyce. Hachette supérieur. Paris. 1993. S.53f. 297 298

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3.1.1 Die Trunksucht Kernans – Ignoble Inferno Besonders die peinliche Lage Kernans im Bereich der Toilettenräume zu Beginn der Erzählung erinnert an die Sünder im Dritten Höllenkreis von Dantes Inferno, wo die Gefräßigen und Gierigen in einem See aus Kot liegen. Denn auch der gestürzte Tom findet sich auf dem schmutzigen Boden vor den Toiletten wieder: „He lay curled up at the foot of the stairs down which he had fallen (...) His clothes were smeared with the filth and ooze of the floor on which he had lain, face downwards (...) No one knew who he was“ (D, S.117). Laut Magalaner wählte Joyce „the dirty floor of a lavatory in a pub as his symbol of the wretchedness of Hell.“302 Die zusammengekauerte Haltung Kernans erinnert an die eines Säuglings, an eine Schutz- oder Abwehrhaltung, die sicher auch von seinen Schmerzen herrührt. Tom Kernan hat sich während seines Falls ein Stück seiner Zunge abgebissen, was zur Folge hat, dass er „very thickly“ spricht und von den Umstehenden nur mühsam verstanden werden kann. Gifford geht soweit, diesen Verlust als eine Art Kastration zu werten, die den Geschäftsmann zumindest eines Teiles seiner Macht beraubt. Dies treffe umso mehr zu, wenn man bedenke, dass der Gefallene Teehändler sei, der sich auf seinen Geschmackssinn verlassen können müsse.303 Bevor Tom Kernan seiner Verletzung gewahr wird, ist er ohnmächtig. Die übrigen Männer in der Kneipe tragen ihn die Treppen hinauf, wo ihm zunächst niemand zu helfen vermag und wo ihn auch niemand kennt, was umso erstaunlicher ist, als Kernan später sagt, er sei mit zwei Bekannten unterwegs gewesen. Bereits zu Beginn der Erzählung kündigt sich folglich an, dass seine „Freunde“ ihm nicht beistehen, sondern einzig auf den eigenen Nutzen bedacht sind. Dass ihn niemand zu kennen scheint, obwohl er ein ehemals erfolgreicher Geschäftsmann ist, verwundert ebenso und unterstreicht die Anonymität, welche in einer (damaligen) Großstadt wie Dublin herrschte. So erfährt auch der Leser erst nach einigen Seiten, um wen es sich bei dem Verunglückten handelt. Auch Kernans Retter, der „man in a cycling suit“, kennt ihn nicht, hilft ihm aber dennoch. Wie aus dem Nichts taucht er in der Kneipe auf, wäscht das Blut des Verletzten ab und bittet um einen Schluck Brandy, der unvermittelt Wirkung zeigt. Ähnlich wie Finn in dem Gedicht „Finnegans Wake“ wird Tom durch das „Wasser des Lebens“ wieder belebt. Magalaner vergleicht den Radfahrer daher mit dem Guten Samariter im Lukas-Evangelium, „(who) immediately takes command of the situation to rescue Kernan from the Hell in which he finds him. His actions are decidedly consistent with Christian religious symbolism.“304 Der Helfer in der Not trage sogar Züge von Christus oder einer Art Schutzengel, der Kernan zur Seite stehe. Marvin Magalaner. Time of Apprenticeship. S.130. Vgl. Don Gifford. Joyce Annotated. S.254. 304 Marvin Magalaner. Time of Apprenticeship. S.131f. 302 303

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Wieder bei Bewusstsein, wiegelt der Gestürzte den Unfall ab und dankt dem jungen Mann mehrfach mit „I'm very much obliged to you...“. Endlich taucht auch Mr Power auf, ein Bekannter des Verunfallten, und hilft dem jungen Mann, Kernan aus der Kneipe zu tragen, wobei sich die Menge vor ihnen teilt. Die Figur des Radfahrers erinnert aufgrund ihrer geleiterischen Funktion an Hermes, den geflügelten Götterboten und Führer ins Reich des Todes. Mit diesem Verweis nimmt Joyce eine weitere Entmythisierung vor, da er das heroische Moment des Totengeleits in die volkstümliche und pietätslose Szenerie der Kneipe einbettet. Da die Menge sich vor ihm teilt, erinnert der Radfahrer zudem an Moses' Auszug aus Ägypten. Bei der Betrachtung des Mannschen Werkes fällt auf, dass er - insbesondere in den Joseph-Romanen Ägypten als katabatischen Ort schildert. Dass der Auszug aus der Kneipe dem Auszug aus Ägypten gleicht, ist also nicht bloßer Zufall, sondern verdeutlicht, dass dieser Ort Ausdruck von Kernans persönlicher Hölle ist. Da er der Trunksucht verfallen ist, wird die Kneipe zu einer infernalischen Stätte. Seine Abhängigkeit vom Alkohol ließe sich gleich zwei Todsünden zuordnen, zum Einen der Gula, also der Maßlosigkeit und der Völlerei, zum Anderen aber der Luxuria, der Genusssucht.305 Als Teeliebhaber und dem Alkohol zugetaner Mensch versündigt sich Kernan folglich gegen die Gebote Gottes. Der junge Mann nun befreit Kernan vorläufig aus dieser Hölle, indem er ihn zunächst vom Blut reinwäscht, ihn dann stärkt und schließlich aus der Kneipe hinausführt: „The young man washed the blood from the injured man's mouth and then called for some brandy. (...) In a few seconds he opened his eyes and looked about him. He looked at the circle of faces and then, understanding, strove to rise to his feet.“ (D, 118). Wenig später führen Jack Power und der junge Herr Tom aus der Kneipe, wobei sie die Menge der Kneipengänger teilen, wie einst Moses das Meer geteilt hat: „The young man in the cycling-suit took the man by the other arm and the crowd divided.“ (D, S.118). Carl Niemeyer geht soweit, den Mann im Fahrradanzug als den einzigen Hoffnungsträger der gesamten Geschichte zu bezeichnen, denn nur er vermöge es, Hoffnung auf tatsächliche Gnade Gottes geben.306 In der Tat scheint der junge Mann, dessen Identität im Dunkeln bleibt, der Einzige zu sein, der aus humanen und altruistischen Gründen handelt, ohne dabei einen Nutzen für sich selbst zu sehen. Er steht somit im krassen Gegensatz zu den übrigen Figuren und sogenannten Freunden Kernans, die, wie sich im Laufe von „Grace“ herausstellt, selbstsüchtige und habgierige Geschäftsleute sind. Die Vgl. hierzu auch Yvonne Studer. „ 'Grace' after Piers Plowman – A Comparison of 'Grace' and the Medieval Allegory of Glotoun in William Langland's Piers Plowman“ In: Mary Power; Ulrich Schneider (Hrsg.). New Perspectives on Dubliners. Rodopi. Amsterdam. 1997. S.248f. 306 Carl Niemeyer. „Grace and Joyce's Method of Parody“ In: College English 27. 1965. S.200. 305

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vermeintlich selbstlose Versammlung im zweiten Teil der Erzählung, welche die Bekehrung Kernans zum Ziel hat, gleicht einer Parodie auf das Letzte Abendmahl Jesu Christi, bei dem Whisky statt Brot (und Wein) gereicht und halbherzige Umkehrung beschlossen wird, um das eigene Gewissen zu beruhigen und den pseudoreligiösen Konventionen der Dubliner Gesellschaft zu entsprechen. Neben dem jungen Radfahrer kommt auch Jack Power eine entscheidende Rolle zu. Niemeyer vergleicht ihn mit Vergil, der Dante in seiner Göttlichen Komödie durch die Hölle führt. Zunächst scheint er tatsächlich Tom Kernan helfen zu wollen, der ihn aus dem Sumpf der Kneipe und der Trunksucht herauszuführen vermag. Später jedoch wird deutlich, dass auch Power eigene Interessen verfolgt und keine wahre Läuterung des Freundes bewirkt. Wie auch Vergil im dritten Teil der Göttlichen Komödie kaum noch Erwähnung findet, so verliert die Figur Jack Powers im Laufe der Geschichte an Bedeutung. Erst nach dem „Auszug“ aus der infernalischen Kneipe wird die Identität des Protagonisten Kernan näher beleuchtet. Im untersten Höllenkreis kannte niemand seinen Namen bis auf den verspätet eintreffenden Jack Power. Der Autor schildert Tom Kernan als einen untersetzten „commercial traveller“, einen Teeverkoster und -händler, einen Connaisseur. Sowohl sein Beruf als auch seine rundliche Figur legen nahe, dass er „glutton“, also gefräßig und gierig ist. Dies wird von der Tatsache gestützt, dass er, wie die Gefräßigen in der Hölle Dantes, im Schmutz der Latrinen aufgefunden wurde. Zudem achtet er aus einer gewissen Eitelkeit heraus auf gute, ein wenig dandyhafte Kleidung, welche letztlich verschleiert, dass Tom Kernan innerhalb der letzten Jahre einige Rückschläge einstecken musste und sich gesellschaftlich wie wirtschaftlich auf dem absteigenden Ast befindet. Er erlebt gerade, ganz im Gegensatz zu Jack Power, dem ein sozialer Aufstieg vergönnt ist, einen „decline“, einen sozialen und persönlichen Niedergang, der durch seinen Sturz die Kellertreppe hinunter versinnbildlicht wird. Zwar wird er von einigen seiner „Freunde“ noch immer als Persönlichkeit, die es einmal zu etwas gebracht hatte, geschätzt, in Wahrheit jedoch ist dieses Bild seiner Bekannten ein geschönter und nicht mehr zutreffender Eindruck. Geschickt spielt Joyce hier mit dem Themenkomplex um Schein und Sein und rückt somit auch die restliche Bevölkerung Dublins in ein zweifelhaftes Licht. Der Niedergang und soziale Abstieg des Protagonisten manifestiert sich zudem im Benehmen seiner Kinder. Als Martin Cunningham Kernan einen Besuch abstattet, um dessen Frau von der geplanten Umkehr in Kenntnis zu setzen, treiben die Kinder ihren Schabernack mit ihm: „The children – two girls and a boy, conscious of their father's helplessness and of their mother's absence, began some horseplay with him. He was surprised at their manners and at their accents, and his brow grew thoughtful.“ (D, S.120). Hier kündigt sich bereits die Fortsetzung des sozialen Niederganges an 147

bzw. der Übergriff auf die Nachkommenschaft. Ihre schlechten Manieren und ihr Akzent lassen vermuten, dass auch die Kinder Kernans dem gesellschaftlichen Abstieg ihres Vaters nur schwerlich entgehen können. In Großbritannien und Irland wird dem Akzent immense Bedeutung beigemessen, da er auch auf die Herkunft und auf die soziale Schicht, der man angehört, schließen lässt. An der Sprechweise einer Person lässt sich in der Regel ihre Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Klasse festmachen. Der Akzent des Sprechers dient somit als Indikator für seinen gesellschaftlichen Stand und Erfolg.

3.1.2 Katerstimmung – Lähmung oder Läuterung? Der zweite Teil der Erzählung beschreibt den Krankenbesuch Kernans durch mehrere seiner sogenannten Freunde. „In this section Joyce comes out from behind a veil of parody and symbolism to report coldly and disgustedly on the state of current religious ecstasy in Dublin.“ 307 In der Tat enthüllen sowohl das Verhalten des ungläubigen und zögernden Kernans als auch die ungebildeten Diskussionen, welche die Runde im Munde führt, die Scheinheiligkeit und Intoleranz der Dubliner Geschäftsleute. James Joyce mokiert sich über diese im Niedergang befindliche Gesellschaft und wird somit zum „witness of the muddled conglomeration of religious misstatements and distortions sincerely espoused alike by the piously and impiously ignorant. Mottoes in questionable Latin, glib clichés, take the place of real thought. Small inanities pompously uttered pass for weighty observations in the vapid atmosphere of decaying Dublin.“ 308 Tom Kernan liegt aufgrund seines Unfalls noch immer im Bett und scheint beinahe stolz zu sein auf die Unordnung, die in seinem Zimmer herrscht und die seine derzeitige desolate Situation spiegelt. Cunningham, Power und M'Coy wollen versuchen, Kernan aus seiner unglücklichen Situation herauszuhelfen, realisieren jedoch nicht, dass sie dazu nicht fähig sind, da ihre eigene Lage teils selber hoffnungslos ist. M'Coy zum Beispiel war einst ein namhafter Tenor, hält sich seit einiger Zeit allerdings mit verschiedensten Jobs über Wasser. Auch der zunächst als intelligent und charmant beschriebene Martin Cunningham zeigt unerwartete Schwächen. Es heißt, er habe eine sehr gute Menschenkenntnis, was jedoch paradox wirkt, wenn man bedenkt, dass er eine Frau geehelicht hat, die in steter Regelmäßigkeit die Möbel des Hauses verpfändet, um für ihre Alkoholsucht aufzukommen. Auch Mrs Kernan bildet keine Ausnahme, wenn es um die ambivalente Beschreibung der Charaktere in Dublin geht. Sie glaubt nicht aus innerer Überzeugung Marvin Magalaner. Time of Apprenticeship. S.132. Ebd. S.137.

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an Gott, sondern aus simpler Gewohnheit und entpuppt sich somit als eine Mitläuferin, welche die Gegebenheiten ihrer Zeit und Umgebung nicht zu hinterfragen wagt: „Religion for her was a habit, and she suspected that a man of her husband's age would not change greatly before death.“ (D, S.123). Dennoch bemühen sich die Versammelten, einen der Ihrigen zu bessern, oder sich dies zumindest einzureden. Zunächst befragen sie Tom Kernan bezüglich des nämlichen Abends und wie es zu dem Unfall gekommen sei, wobei sich herausstellt, dass dieser sich kaum noch an seine Trinkgenossen erinnern kann. Der eine sei Mister Harford gewesen, ein stadtbekannter, fadenscheiniger Wucherer, der auch den Spitznamen „Irish Jew“ inne hat. Bei dem zweiten Begleiter habe es sich um einen Kerl mit sandfarbenem Haar gehandelt. Zum Zeitpunkt des Unfalls allerdings haben beide ihren „Freund“ im Stich gelassen, da sie plötzlich unauffindbar waren. Sie hatten die Kneipe wohl schon vor dem Vorfall verlassen. Doch auch die Freunde, welche den Krankenbesuch unternehmen, kommen in Joyces Beschreibung schlecht weg. Nachdem sie Kernan ihr Anliegen, die gemeinsame Reue und Umkehr im Rahmen einer Art Messe, mitgeteilt haben, wendet sich die Unterhaltung verschiedenen, der Religion verwandten Themen zu. Zunächst wird über die Jesuiten diskutiert, später über Papst Leo XIII. In beiden Fällen nehmen die Anwesenden es mit den Fakten jedoch nicht sehr genau und entpuppen sich als halbgebildete Ignoranten, die im weiteren an die „penny-a-week school“ und die guten alten Zeiten zurückdenken. Die neuen Lernmethoden tun sie als „modern trumpery“ ab, beweisen durch ihr Halbwissen jedoch, dass auch ihre eigene Schulbildung um keinen Deut besser gewesen sein kann. Dies ist eine von zahlreichen Stellen, an denen Joyce seine Dubliner ironisch beleuchtet, um die ihnen selber vollkommen unbewussten Schwächen aufzudecken. Ebenso verhält es sich, wenn die Sprache auf die örtlichen Pfarrer kommt. Die Besucher erläutern Kernan, dass Father Purdon die Messe halten wird: „Father Purdon is giving it. It's for business men, you know (...) Fine jolly fellow! He's a man of the world like ourselves.“ (D, 128). Bereits hier wird deutlich, dass es der Gruppe Handelstreibender nicht um eine tatsächliche Läuterung oder um ein spirituelles Erlebnis zu tun ist. Statt eines Geistlichen bedürfen sie eines „man of the world“, eines weltlichen Vertreters, den sie als ihresgleichen betrachten können, der ihnen aber dennoch die Absolution erteilen soll. Dass der Priester „jolly“, also fröhlich und ausgelassen sowie von roter Gesichtsfarbe ist, spricht für seine Lebenslust und unter Umständen sogar für eine Neigung zu Völlerei und Alkoholgenuss. Ein weltlicher Geistlicher ist aber in gewissem Sinne ein Paradoxon und erscheint daher zwielichtig, wie auch der von Joyce gewählte Name Purdon nahelegt. Dieser

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nämlich spielt auf die stadtbekannte Purdon Street an, das Rotlichtmilieu Dublins.309 Darüber hinaus erinnert der Name an die Entschuldigungsformel „Pardon“, welche den Pfarrer selbst als ein Versehen erscheinen lässt, für das es sich zu entschuldigen gilt. Zudem ironisiert Joyce die „Freunde“ Kernans, wenn das Gespräch auf den ehemaligen Geistlichen der Gemeinde, Father Tom Burke, kommt. Jener war Protestant, was Martin Cunningham zu der Aussage veranlasst, dass nur der katholische Glaube der wahre Glaube sei: „Our religion is the religion, the old, original faith.“ (D, S.129). Da auch der Rest der Anwesenden dieser Aussage durchaus zustimmt, offenbart er sich als verbohrt und intolerant. Trotz der nur lückenhaften Bildung in Sachen Religion, welche die vorangehende Diskussion gezeigt hat, erlauben sie sich ein Urteil über den Protestantismus und dienen als trauriges Exempel dafür, wie es zu dem tragischen Konflikt in Nordirland kommen konnte. Auch das Hinzustoßen Mr Fogartys, eines „bescheidenen Lebensmittelhändlers“, ändert wenig an der niveaulosen Diskussion. Im Gegenteil: er scheint die Runde durch den von ihm mitgebrachten „special whisky“ noch zu beleben. Durch den Verzehr dieses gebrannten Korns anstelle der Kommunion, also dem Verzehr des „göttlichen Brotes“, der Hostie, parodiert die Runde das letzte Abendmahl bzw. die Kommunion, aber auch sich selber, da sie ja eigentlich „umkehren“ möchte. Um Kernan zu überzeugen, sich der „retreat“ in der Kirche anzuschließen, bedarf es gewisser Anreize. „Appeal must be made to social prestige, self-interest, personal vanity, before the religious ritual will be embraced“,310 aber letztlich willigt der Verunfallte in das Vorhaben ein, jedoch nur unter einer einzigen Bedingung, nämlich dass sie keine Kerzen tragen sollen: „No, damn it all, (...) I draw the line there. I'll do the job right enough. I'll do the retreat business and confession, and … all that business. But … no candles! No, damn it all, I bar the candles!“ (D, S.134). Diese mit Flüchen gespickte Aussage Kernans ist bezeichnend für den Charakter der Männer und ihre Einstellung zum Katholizismus. Für Kernan ist die Messe keine spirituelle Erfahrung, sondern, wie er mehrfach betont, ein „Job“ oder ein „business“, mehr Arbeit als Segen. Sie dient ihm nicht als Rückzug ins Spirituelle und Religiöse, sondern lediglich der Wiederherstellung seines stark geschädigten Ansehens. Die Wortwahl Kernans lässt beinahe auf einen Kontraktcharakter der Messe schließen, die Gewinn mit sich bringen sollte. Denn die „retreat“ würde ihn zum einen von seinen Sünden frei sprechen, zum anderen sein Ansehen in der Dubliner Gesellschaft steigern, was wiederum seinem Geschäft zu Gute kommen dürfte. Interessant ist die Wahl des Begriffs ebenfalls, da dieser ursprünglich in der Militärsprache Verwendung gefunden hat. „Retreat“ bezeichnet zunächst einen militärischen Rückzug oder einen Abzug der Streitkräfte. Joyce setzt den Begriff folglich ein, um Vgl. Yvonne Studer. „ 'Grace' after Piers Plowman – A Comparison of 'Grace' and the Medieval Allegory of Glotoun in William Langland's Piers Plowman“ S.251. 310 Marvin Magalaner. Time of Apprenticeship. S.132. 309

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die Paradoxität der Situation und des Vorhabens zu unterstreichen. Die gewieften, weltlich geprägten Geschäftsmänner versuchen der Spiritualität ihren Duktus aufzuzwingen und diese damit von Grund auf zu untergraben. Der Begriff der ekklesiastischen „retreat“, der Rückzug ins Geistige und in die Besinnung auf den Glauben, wird somit gänzlich ausgehöhlt. Die Kerzen würden die Angelegenheit für Kernans Geschmack zu sehr ins Spirituelle und ins Religiöse rücken und müssen daher unter den Tisch fallen. Kernan setzt sozusagen eine „retreat light“ durch, welche kaum noch dieser Bezeichnung gerecht wird. Ganz anders versteht Martin Cunningham die Institution der Kirche. Mit einer Jahrhunderte alten Erzählung scheint er sie mythisieren zu wollen, um ihre Macht und ihre Vorherrschaft zu unterstreichen. Die Diskussion kreist um die Unfehlbarkeit des päpstlichen Wortes, sofern es ex cathedra gesprochen wird. Cunningham beharrt darauf, dass dieses Dogma tatsächlich zutreffe und selbst einfältige oder verrückte Päpste im Amt nur Wahres gepredigt hätten. In seiner Erzählung berichtet er von zwei Kardinälen, die die päpstliche Unfehlbarkeit einst nicht haben anerkennen wollen: There they were at it, all the cardinals and bishops and archbishops from all the ends of the earth and these two fighting dog and devil until at last the Pope himself stood up and declared infallibility a dogma of the Church ex cathedra. On the very moment John MacHale, who had been arguing and arguing against it, stood up and shouted out with the voice of a lion: "Credo!" (...) That showed the faith he had. He submitted the moment the Pope spoke. (…) The German cardinal wouldn't submit. He left the Church.“ (D, S.132f.).

Hier wird deutlich, wie Cunningham sich selber, aber auch den Anwesenden den katholischen Glauben schmackhaft zu machen versucht, indem er seine mythische, beinahe paranormale Seite beleuchtet und somit seine Vormachtstellung unterstreicht.

3.1.3 Paradoxes Paradies – ein Himmel voller Heuchler Im letzten Teil der Geschichte schildert Joyce die vielfach besprochene „retreat“, die Niemeyer zufolge einer „ingration and pointless farce“ gleichkommt 311 und die auf einer tatsächlichen Umkehr basiert, die Joyces Vater einst in Angriff genommen haben soll.312 Die Kirche füllt sich mit anständig, weitgehend schwarz gekleideten Männern, allesamt Wucherer und Geldfüchse, wie Magalaner anmerkt. Da wären Mr Harford, der Geldverleiher, der Kernan in der Kneipe im Stich gelassen hat, Mr Fanning, der „registration agent and mayor maker of the city“ sowie Michael Grimes, „the owner of three pawnbroker's shops.“ Die Kirche, das Paradiso der Erzählung, gleicht Carl Niemeyer. „Grace and Joyce's Method of Parody“ S.201. Vgl. Stanislaus Joyce. The Complete Dublin Diary of Stanislaus Joyce. Cornell University Press. Ithaka; London. 1971. S.105. 311

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somit einem „usurer's heaven“,313 einem von Wucherern bewohnten Himmel. Da M'Coy keinen Platz in den Reihen seiner Bekannten findet, setzt er sich allein in die mittlere Bank, sodass von oben betrachtet die Anordnung eines Quincunx entsteht. Er versucht darüber zu witzeln, merkt aber schnell, dass dies der in der Kirche gebotenen Ehrfurcht abträglich scheint, und fügt sich in die allgemeine Andacht. Auch Kernan fühlt sich zunächst nicht wirklich wohl in seiner Haut. Erst als er mehrere bekannte Gesichter entdeckt, beginnt er, sich etwas zu entspannen. Dennoch ist die Gruppe innerlich abwesend, beschäftigt sich mit den Umstehenden, aber nicht mit sich selber. Anstatt in sich zu gehen, haben die Businessmen nur Augen für das Geschehen um sie herum.314 Wie auch die übrigen Besucher sind sie „much more interested in the care of their bodies and of their material possessions than of their souls.“315 Father Purdon macht da keine Ausnahme. Auch er scheint nicht auf Läuterung und spirituelle Erweiterung des Geistes aus zu sein, sondern konzentriert sich in seiner Predigt auf weltliche, diesseitige Aspekte. Die Szene gleicht laut Rabaté sogar einem „abjet travestissem*nt de l'évangile“,316 nicht zuletzt da der Sermon des Priesters einer Farce gleichkommt. In dieser greift Father Purdon eine sehr schwierig zu deutende Bibelstelle aus dem Buch Lukas auf, die Geschichte des untreuen Verwalters. Für ihn sei die Geschichte eine diesseitige Geschichte, die Ratschläge für die tatsächliche Welt und für das Geschäftsleben insbesondere erteile. Denn Jesus wisse, dass die Mehrheit der Menschen nicht für das religiöse und zurückgezogene Leben eines Priesters bestimmt sei. Daher solle man seine tatsächlichen Konten auf ihre Richtigkeit prüfen und bei Bedarf richtig stellen. Wie Robert Sumner Jackson jedoch richtig anmerkt, fordert Jesus dies gar nicht. Im Gegenteil, er vergibt dem Menschen seine Fehler- und Sündhaftigkeit und erlässt ihm seine Schuld(en).317 Zudem ist die Geschichte metaphorisch zu verstehen und bezieht sich durchaus auch auf das spirituelle Wohl des Menschen und das Leben nach dem Tod. Der gute Katholik wird angehalten, in dieser Welt gut zu wirtschaften und die Schulden seiner Schuldner zu erlassen, um im späteren Leben Vergeltung dafür zu erhalten. Denn dadurch, dass der Verwalter seinen Schuldnern ihre Rückstände erlässt, erhofft er sich später, nach seiner Entlassung, eine Unterkunft bei ihnen zu finden. So sollen auch die Menschen großzügig – im Sinne von großherzig und nachsichtig miteinander umgehen, damit sie später eine Wohnung im Hause Gottes finden. Die Geistlichen im Werke Joyces jedoch sind Menschen von Welt, denen der wahre Glaube Marvin Magalaner. Time of Apprenticeship. S.134. Vgl. hierzu auch Ulrich Schneider. „Cruxes and Grace Notes: A hermeneutic approach to 'Grace' “ In: Ulrich Schneider; Mary Power (Hrsg.). New Perspectives on 'Dubliners'. Rodopi. Amsterdam. 1997. S.286. 315 Marvin Magalaner. Time of Apprenticeship. S.134. 316 Jean Michel Rabaté. James Joyce. S.53. 317 Robert Sumner Jackson. „A Parabolic Reading of James Joyces Grace“. In: Modern Language Notes 76. 1961. S.723. 313 314

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abhanden gekommen ist, und die, wie die restlichen Dubliner auch, vor allem auf ihren eigenen Nutzen und ihr Ansehen in der Gesellschaft bedacht sind. In dieser Hinsicht gleicht „Grace“ der Divina Commedia, da in beiden Texten die Begriffe „Schein“ und „Sein“ voneinander abgesetzt werden. Sowohl die Geschäftswelt als auch der Klerus scheinen von „hypocrits“, von Heuchlern und Scheinheiligen, bevölkert zu sein, denen es lediglich um ihren eigenen Vorteil zu tun ist. In der Gesellschaft jedoch stellen sie sich gänzlich anders dar, nämlich als großzügige, wohltätige und soziale Katholiken. Somit entzaubern sowohl Dante als auch Joyce die Gesellschaft ihrer Zeit und ihrer Stadt. Dante stellt das Florenz um 1300 als Sumpf der Korruption und der Habgier bloß, in welcher die in der Hölle Schmorenden nicht auf das Seelenheil hoffen dürfen. Ähnlich verfährt Joyce mit dem Dublin des frühen 20. Jahrhunderts, wenn er seine Einwohner als gefräßige und genusssüchtige Heuchler abtut, die trotz ihrer Scheinheiligkeit nur wenig mit Gott zu schaffen haben.318 Neben den Geschäftsleuten selber fallen darunter auch die Frau und die Kinder Kernans. Für Mrs Kernan ist Religion lediglich „a habit“, eine Gewohnheit, die man, wie ein Kleidungsstück, beliebig an- oder ablegen kann. Mrs Kernan verkörpert somit die Bigotterie des frömmelnden, in Wahrheit aber engstirnigen und intoleranten Dublins. Es ist von Bedeutung, dass in beiden Texten die moderne, eng vernetzte Stadt als Unterwelt fungiert. Der Vergleich zu der biblischen Legende um Sodom und Gomorra liegt mehr als nahe. Auch diese Städte waren von Sündhaftigkeit und Unglaube geprägt, denn obwohl Lot die Einwohner warnt, dass Gott die Sündigen strafen und die Städte zerstören werde, beharren sie auf ihrem Lebenswandel, sodass Gott seine Drohung wahrmacht und Feuer und Schwefel auf die Sündenpfuhle regnen lässt. Das Motiv der höllischen Stadt findet sich jedoch nicht nur bei Dante, sondern auch bei Vergil und bei Milton. In Hinsicht auf Korruption und Prostitution, welche in der Stadt allgemein vorherrschen, ist dieses Motiv durchaus schlüssig. Ein weiteres Merkmal der Hölle Dantes, welches Joyce wieder aufgreift, ist die Potenzierung des Wesenskerns der unterweltlichen Bewohner. Auerbach macht dies vor allem an der Textstelle deutlich, wo Dante auf Farinata und auf Cavalcante trifft. Ersterer fällt durch seine Größe, seine Anmut und seinen Stolz auf, letzterer durch seine Trauer, Angst und Leidenschaft. Die Seelen in der Hölle Dantes verblassen folglich nicht, wie etwa die Schatten des homerischen Hades, sondern sie treten in ihren Haupteigenschaften umso lebhafter und glaubwürdiger auf. Auerbach scheint es sogar, dass erst das Jenseits die Menschen vollende, da hier ihr wahres Wesen in seiner Gänze ans Licht komme.319 Ähnlich verhält es sich mit den Figuren Joyces. Tom Kernan galt lange als erfolgreicher und zuverlässiger Geschäftsmann sowie als gläubiger Katholik. Dieses geschönte Bild Vgl. hierzu auch Jacques Aubert. Introduction générale In: Ebd. (Hrsg.). James Joyce Œuvres. Edition Gallimard. Paris. 1982. S.xi. 319 Vgl. Erich Auerbach. Mimesis. S170ff. 318

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des Protagonisten wird im Laufe der Erzählung jedoch demontiert, da an mehrfacher Stelle deutlich wird, dass Kernans Geschäfte mehr als schleppend laufen und er, etwa bei Mr Fogarty, Schulden angehäuft hat. Wie Mrs Kernan Arthur Power gesteht, versäuft ihr Ehemann das Wenige, was ihm noch bleibt und enthält seiner Familie und insbesondere seinen Kindern somit Nahrung und Bildung vor, weswegen sie Mr Power gegenüber ungehobelt und sogar frech auftreten. Dass es mit Kernans Glaube nicht weit her ist, beweist schon die Unterredung mit seinen „Freunden“, da er keine Kerze tragen möchte. Dies hat für ihn einen spirituellen und mystischen Charakter, dem er nichts abgewinnen kann, ja gegen den er sich sogar vehement sperrt. Der Fall und der Niedergang Kernans, sein sozialer Abstieg, seine ganz persönliche Hölle, offenbaren neben seiner Sündhaftigkeit und seinen Makeln folglich auch seinen wahren Charakter, sein eigentliches Wesen. In seiner Analyse der Göttlichen Komödie stellt Auerbach zudem fest, dass die Bewohner der dantesken Unterwelt durch ihre Plastizität, aber auch durch ihr überbordendes Interesse am Diesseits und an der Zeitgeschichte, durchaus vital und lebendig dargestellt werden. Diesen Effekt bezeichnet Auerbach als den Realismus Dantes, welcher die Wirklichkeit nachahme und folglich Mimesis sei. Nachahmung der Wirklichkeit heiße in diesem Falle vor allem „Nachahmung der sinnlichen Erfahrung des irdischen Lebens, zu dessen wesentlichen Merkmalen doch seine Geschichtlichkeit, sein Sich-Verändern und Sich-Entwickeln zu gehören scheint“.320 Die Hölle Dantes ist folglich nicht geschichtslos, sondern sie ist aufs engste mit der Zeitgeschichte verknüpft. Ebenso verhält es sich in dem Werk Joyces, wo die Hölle stets von konkreten Ereignissen geprägt und von spezifischen Personen durchwandert wird. Hierauf deutet auch die Aussage Stephens im Ulysses, das Geschichte ein Albtraum sei, aus dem er zu erwachen versuche. Wie insbesondere das Kapitel 3.4.5 sowie das Kapitel 4.4 zeigen werden, ist das Motiv des Traumes der Hadesfahrt insofern verwandt, als dass zum einen schon literarische Vorläufer wie Cicero in seinem Somnium Scipionis darauf zurückgegriffen haben, die Protagonisten aber zum anderen die Möglichkeit haben, in ihr Unbewusstes einzutauchen, um ihren Wünschen und ihren Ängsten zu begegnen und sich ihnen zu stellen. Die in „Grace“ vorgenommene Abrechnung mit dem katholischen Glauben und der irischen Scheinreligiosität, kann, wie Gifford betont, als Ausdruck der tiefgreifenden Desillusionierung Joyces gedeutet werden.321 Eine Desillusionierung, die sich nicht nur in seinem literarischen Werk ausdrückt, sondern auch tatsächliche Konsequenzen für sein Leben in der Gesellschaft hat. Die falsche Frömmigkeit Irlands sowie die Engstirnigkeit seiner Bewohner veranlassten den Autor Ebd. S.183. Don Gifford. Joyce Annotated. S.265.

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schon in jungen Jahren ins freiwillige Exil zu gehen, zunächst nach Paris, später dann auch nach Pola, Triest und Zürich. Der dritte Teil von „Grace“, im übertragenen Sinne das Paradiso der Geschichte, enthüllt, dass die „retreat“ der Dubliner Geschäftswelt nur eine scheinbare ist. Im Gegensatz zu dem literarischen Vorbild Dante erfahren die Dubliner aufgrund ihrer Scheinheiligkeit und ihrer mangelnden Reue keine Gnade. Niemeyer mutmaßt sogar, dass sie nicht weiter von ihr entfernt sein könnten, als in dieser „himmlischen“ Szene. Vielmehr handelt es sich um einen Abfall von Gott und somit auch um einen Abfall von der göttlichen Gnade, einen „Fall from Grace“, wie Magalaner es treffend formuliert.322 Dass Joyce Dantes Divina Commedia als literarisches Vorbild und als mythologische Folie für seine Erzählung wählt, dient vor allen Dingen Zwecken der Parodie. Kernan und seine Freunde treten eben nicht in die Fußspuren Dantes, welcher durch den dunklen Wald, über das Inferno zum Läuterungsberg und zum Paradiso, der Anschauung und der Gnade Gottes, findet. Im Gegenteil: trotz des Sturzes zu Anfang der Erzählung, welche auf eine positive Wendung des Schicksals Kernans hoffen lässt, fällt dieser, in moralischen Belangen, nur umso tiefer. Sein Sturz die Kellertreppe hinunter vollzog sich im Suff und wäre zu entschuldigen, sein scheinheiliges und heuchlerisches Benehmen aber und die sinnentleerte „retreat“ sind es nicht. Kernan erklimmt im Gegensatz zu Dante keinen Läuterungsberg und erfährt daher auch keine Läuterung. Er versinkt lediglich tiefer in dem Sumpf aus Eitelkeit, Trunksucht, Scheinheiligkeit und Habgier, welchen Joyce in dieser Erzählung portraitiert. Wie auch im Ulysses gibt es jedoch einen Mann, der die Hoffnung auf Humanität und Nächstenliebe nährt, den „man in a cycling-suit“.

3.2 „The Dead“ - Schattenreich der Nostalgie 3.2.1 Nostalgie, Trunksucht, Nationalismus – ein ewiger Teufelskreis Die letzte, erst später hinzugefügte Geschichte des Dubliner-Zyklus, „The Dead“, greift den Themenkomplex um den moralischen Verfall der irischen Gesellschaft, der bereits in „Grace“ von Bedeutung ist, wieder auf. „The Dead“ beschreibt dies jedoch nicht auf religiöser Ebene, sondern im Rahmen eines Familienfestes, also in einem sozialen Kontext. Besonders der Protagonist Gabriel Conroy bekommt diesen Verfall Irlands zu spüren. Er selber zählt sich zur europäisch orientierten Marvin Magalaner. Time of Apprenticeship. S.131.

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und gebildeten Elite des Landes, wird jedoch im Kreise seiner Familie mit nationalistischen Anhängern der Gälischen Liga, Unbildung und Naivität in Person seiner Tanten sowie Trunksucht und körperlichem Verfall am Beispiel Freddy Malins konfrontiert. Véga-Ritters Darstellung, dass das Fest ein Erfolg auf ganzer Linie für den jungen Gabriel sei, ist somit kaum nachzuvollziehen. Bei „The Dead“ handelt es sich gerade nicht um eine „récit de convivialité chaleureuse et de célébration“,323 sondern um eine Parodie auf eben diese warmherzige Menschlichkeit und Feierlichkeit. Tatsächlich scheitert Gabriel in mehrfacher Hinsicht und hat daher wenig Grund in die allgemeine, eher aufgesetzte Heiterkeit einzustimmen. Zu Beginn der Geschichte versucht er der jungen Lily, welche die Herrengarderobe beaufsichtigt, ein Kompliment zu machen, indem er mutmaßt, dass sie doch sicher bald heiraten werde. Daraufhin antwortet sie jedoch voll Bitterkeit: „The men that is now is only all palaver and what they can get out of you.“ (D, S.202). Es scheint, dass Lily vor kurzem eine Enttäuschung in Liebesdingen erfahren, dass ein junger Mann sie lediglich benutzt hat. Gabriel ist dieses Geständnis sichtlich unangenehm und er bereut, sie auf ihr Liebesleben angesprochen zu haben, zudem da die Aussage der jungen Frau schon impliziert, was auch die restlichen Gäste später am Abend konstatieren, nämlich dass die Zeiten sich geändert haben. Früher war auf die Männer noch Verlass, heute jedoch verlassen sie ihre Freundinnen nach ein paar vergnüglichen Monaten. Dass er Lily derart auf dem falschen Fuße erwischt, wirkt umso tragischer, als sie ihm, zumindest der christlichen Symbolik zufolge, anhängen müsste. Dort nämlich gilt die Lilie als Attribut des Erzengels Gabriel. Wie Gifford bemerkt, ist sie darüber hinaus auch ein Symbol für Tod und Wiedergeburt, für die Auferstehung Jesu und deutet somit auf die Todesmotivik der Erzählung hin, aber auch auf deren Ende, da Gabriel dort eine tiefgreifende Einsicht erfährt, wobei er beschließt, sich mit den eigenen Wurzeln und der Vergangenheit seines Heimatlandes auseinanderzusetzen. Die „journey westward“, welche er sich vornimmt, wurde in der irischen Mythologie häufig als Reise in das Land der Toten gedeutet. 324 Gleich bei seinem Eintreffen mit Lilys Enttäuschung über die verkommenen Tugenden der Männer und impliziten Vorwurf gegen das männliche Geschlecht als solches konfrontiert, eilt Gabriel weiter, der brüsken Antwort des Garderobenmädchens jedoch bleibt er eingedenk. „The girl's bitter and sudden retort (...) had cast a gloom over him which he tried to dispel by arranging his cuffs and the bows of his tie.“ (D, S.140f.). Während er die Tischrede, welche er jährlich zu diesem feierlichen Anlass zu halten pflegt, noch einmal überfliegt, befallen ihn Zweifel, ob diese vielleicht nicht zu intellektuell für seine eher Max Véga-Ritter. „Désir et Pulsion de Mort“ In: Pascal Bataillard; Dominique Sipière (Hrsg.). Dubliners, James Joyce. The Dead, John Huston. Ellipses Market. Paris. 2000. S.114. 324 Vgl. Jean Michel Rabaté. James Joyce. S.62. 323

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ungebildete Zuhörerschaft sein könnte. „He would fail with them just as he had failed with the girl in the pantry. He had taken up a wrong tone. His whole speech was a mistake from first to last, an utter failure.“ (D, S.141). Im Laufe des Abends überkommen jene Zweifel Gabriel immer wieder. Zweimal scheint er sogar Fluchtgedanken zu hegen. Die Hitze des Raumes veranlasst ihn im Fenstererker sehnsüchtig nach draußen, in die offene Landschaft, zu blicken: „How cold it must be outside. How pleasant it would be to walk out alone, first along by the river and then through the park.“ (D, S.151). Er sehnt sich nach der Einsamkeit der Natur, ein beinahe romantisch inspiriertes Bild, welches durch den Kontrast gegenüber der schönen und authentisch wirkenden Natur die Gesellschaft bzw. die moderne Zivilisation in all ihrer Heuchelei und Niederträchtigkeit vorführt. Auch kurz vor seiner Tischrede überkommt Gabriel jenes Verlangen nach einer Flucht in die Natur: „People, perhaps, were standing in the snow on the quay outside, gazing up at the lighted windows and listening to the waltz music. The air was pure there. In the distance lay the park, where the trees were weighted with snow.“ (D, S.159). Die Luft dort ist rein und klar, wie er betont, nicht wie im Speise- oder im Tanzsaal seiner Tanten, wo die Luft stickig ist und die angestaubte und muffige Atmosphäre des nationalistischen Irlands der Jahrhundertwende versinnbildlicht. Gabriel behält mit seiner Vermutung, die Rede könne für das Publikum nur wenig angemessen sein, zumindest teilweise recht, etwa wenn er die Damen des Hauses mit den drei Grazien der griechischen Mythologie vergleicht: „Aunt Julia did not understand, but she looked up, smiling, at Gabriel, who continued in the same vein.“ (D, S.161). Trotz der intellektuellen Kluft, welche ihn von seiner Zuhörerschaft trennt, ändert Gabriel seine Diktion nicht und redet somit weiterhin am Großteil seines Publiku*ms vorbei. Auffällig ist, wie er in seiner Rede die Dinge verklärt und regelrecht mythisiert. Seine drei Verwandten, welche das Fest ausrichten, werden zu Grazien, dem Inbegriff der Schönheit, stilisiert. Auch wenn er dies abstreitet, lässt ihn das im Lichte Paris' erscheinen, der zwischen den Damen zu wählen hat. Neben der Mythisierung seines verwandtschaftlichen Umfeldes, überhöht er vor allem die Vergangenheit und die Repräsentanten derselben: Listening to-night to the names of all those great singers of the past it seemed to me, I must confess, that we were living in a less spacious age. Those days might, without exaggeration, be called spacious days: and if they are gone beyond recall, let us hope, at least, that in gatherings such as this we shall still speak of them with pride and affection, still cherish in our hearts the memory of those dead and gone great ones whose fame the world will not willingly let die. (D, S.160).

Mit dieser Mythisierung und Glorifizierung der Vergangenheit und ihrer Protagonisten trifft Gabriel den Nerv seiner Zeit. Wie man der vorangegangen Unterhaltung über einst große Opernsänger entnehmen kann, schwelgt die Gesellschaft in vergangenen, vermeintlich besseren Zeiten und 157

vermag es nicht, die Gegenwart und die neu aufkommende Affinität zu England oder Europa nachzuvollziehen. Allerdings ist dies nicht der Kernpunkt von Gabriels Rede. In dieser nämlich fährt der junge Mann wie folgt fort: „Our path through life is strewn with many such sad memories: and were we to brood upon them always we could not find the heart to go on bravely with our work among the living. We have all of us living duties and living affections which claim, and rightly claim, our strenuous endeavours.“ (D, S.160). Gabriel versucht das Interesse auf die Aufgaben und die Neigungen der Gegenwart zu lenken, scheitert jedoch insofern, als die schattenhafte, der Vergangenheit anhängende Gästeschaft eingefleischter und rückständiger Iren ihm weder zu folgen vermag noch folgen will. Selbst die Jugend hängt der Vergangenheit an und verklärt diese, wie am Beispiel der jungen Kollegin Gabriels, Miss Ivors, deutlich wird. „She was a frank-mannered, talkative young lady, with a freckled face and prominent brown eyes. She did not wear a low-cut bodice, and the large brooch which was fixed in the front of her collar bore on it an Irish device.“ (D, S.147). Die streng und traditionell irisch gekleidete Frau sagt, sie habe mit Gabriel ein Hühnchen zu rupfen, da dieser Rezensionen für den Daily Express schreibt, eine britisch orientierte Zeitung, die ihrer Vorliebe für die irische Kultur und Politik zuwider läuft. Sie geht so weit, ihn deswegen in aller Öffentlichkeit zu beleidigen: „Well, I'm ashamed of you. (...) To say you'd write for a rag like that. I didn't think you were a West Briton.“ (D, S.148). Gabriel ist perplex und verwirrt. Er liebt es schlicht und einfach, Rezensionen zu schreiben, und sieht darin, wie er behauptet, nichts Politisches, woraufhin Miss Ivors ihr Aufbrausen als „joke“ abtut. Die Stimmung zwischen den beiden bleibt jedoch auch im weiteren Verlauf des Abends frostig. Miss Ivors macht den Vorschlag, dass er und Gretta sie auf ihrem Trip zu den Aran Inseln im Westen Irlands begleiten sollen, um das eigene Land, die eigene Sprache und Kultur noch besser kennenzulernen. Gabriel jedoch hat gänzlich andere Vorstellungen von einem gelungenen Urlaub. Er zieht es vor, mit Freunden eine Radtour durch Europa, vielleicht durch Frankreich, Belgien oder Deutschland, zu machen, um seine Fremdsprachenkenntnisse zu vertiefen und neuen Kulturen zu begegnen. Dies veranlasst Miss Ivors, ein weiteres Mal einen vorwurfsvollen und nationalistischen Ton anzuschlagen: „And why do you go to France and Belgium (...) instead of visiting your own land? (...) And haven't you your own language to keep in touch with – Irish? (...) And haven't you your own land to visit (...) that you know nothing of, your own people, and your own country“ (D, S.149). Die Umstehenden beginnen schon, sich nach dem streitenden Paar umzusehen, was Gabriel sichtlich peinlich ist. Jedoch lässt er sich von Miss Ivors derart in Rage bringen, dass ihm die Verachtung für sein eigenes Land, für seine Engstirnigkeit und Kleinkariertheit von der Zunge rutscht: „O, to tell you the truth. (...) I'm sick of my own country, sick of it!“ (D, S.149). Gabriel 158

sieht sich weniger als Ire denn als Europäer. Was sich im Ausland zuträgt, interessiert und begeistert ihn, da er weltoffen gegenüber fremden Kulturen und innovativer Politik ist. Nach der Auseinandersetzung mit Miss Ivors jedoch ist er, wie auch schon nach dem Treffen mit Lily, verstimmt und frustriert: Gabriel tried to banish from his mind all memory of the unpleasant incident with Miss Ivors. Of course the girl, or woman, or whatever she was, was an enthusiast, but there was a time for all things. Perhaps he ought not to have answered her like that. But she had no right to call him a West Briton before people, even in joke. She had tried to make him ridiculous before people, heckling him and staring at him with her rabbit's eyes. (D, S.150).

3.2.2 Gabriels Rede Gabriel nimmt sich vor, sich für diese Schmach und seinen verletzten Stolz zu rächen, indem er in seiner Rede die Einstellungen und Geisteshaltung von Miss Ivors bemängelt, verfehlt jedoch wiederum sein Ziel, da diese schon vor dem Essen aufbricht. Dennoch hält Gabriel es für notwendig, die junge Generation aufgrund ihres Fanatismus und mangelnden Humanismus zu tadeln: A new generation is growing up in our midst, a generation actuated by new ideas and new principles. It is serious and enthusiastic for these new ideas and its enthusiasm, even when it is misdirected, is, I believe, in the main sincere. But we are living in a sceptical and, if I may use the phrase, a thought-tormented age: and sometimes I fear that this new generation, educated or hypereducated as it is, will lack those qualities of humanity, of hospitality, of kindly humour which belonged to an older day. (D, S.160).

Gabriels Kritik an diesem Punkt richtet sich vor allem gegen Miss Ivors und gegen die Bestrebungen vieler Iren, die irische Sprache und Kultur wieder aufleben zu lassen. Er tadelt diese Bestrebungen vor allem, da sie häufig mit einer gewissen Radikalität und Intoleranz einhergehen. Miss Ivors möchte von England oder vom Kontinent nichts wissen, so als existierten sie gar nicht. Für Gabriel allerdings bedeutet der Kontakt mit Europa, der rege Austausch, aus dem ein industrieller, wirtschaftlicher und technischer Fortschritt entstehen könnte, eine Verbesserung der Lebensbedingungen in Irland selber und damit eine Hinwendung zum Menschlichen und zum Humanen. Wie die Freimaurer Lodovico Settembrini und Leopold Bloom setzt er Fortschritt und Weltoffenheit mit Menschenfreundlichkeit und Humanität gleich. Doch auch jener Punkt seiner Rede läuft Gefahr, von der nur mäßig gebildeten Gesellschaft nicht verstanden zu werden, sodass sein Anliegen durchaus als gescheitert bezeichnet werden kann. Dieses Scheitern liegt an der Diskrepanz, welche zwischen Gabriel und seinen Mit-Dublinern besteht. Wie auch schon in „Grace“ versucht James Joyce in dieser letzten Geschichte der 159

Dubliners, die Falschheit und Scheinheiligkeit der Stadtbewohner zu enthüllen. Die Tanten etwa glauben, ähnlich wie Miss Kernan in „Grace“, nur bedingt an Gott respektive an die Katholische Kirche. Aunt Kate regt sich über die strikten Regularien und „unchristlichen“ Zeiten auf, zu denen Aunt Julia proben und singen muss, „six o'clock on Christmas morning! And all for what?“ (D, S.153). Es ist ihr unverständlich, dass sich jemand aus tiefer Überzeugung oder auch aus karitativem Idealismus heraus derart engagieren könnte, und sie hat den Eindruck, die Kirche nutze die Gutmütigkeit ihrer Schwester aus. Auch wenn die Sprache auf die Mönche von Mount Melleray kommt, zeigt Aunt Kate sich einfältig und naiv. Als Mr Browne sich wundert, dass die Ordensanhänger nachts in Särgen statt in Betten schlafen, antwortet sie „firmly“: „That's the rule of the order.“ Und auf weiteres Nachfragen bezüglich der Hintergründe dieser seltsamen Sitte wiederholt sie noch einmal, dass dies nun einmal die Regel sei, „that was all.“ (D, S.158). Im Gegensatz zu ihrem Gesprächspartner hinterfragt sie diese Regel nicht, sondern akzeptiert sie als Diktat des Ordens. Joyce übt hier jedoch nicht nur Kritik an der Beschränktheit einiger Dubliner, sondern auch am Formalismus einer bestimmten Religions-Ausübung, welche vor allem die Kritik Luthers an der katholischen Kirche ins Gedächtnis ruft. Er spielt auf die naive Folgsamkeit und die Regelwut der katholischen Kirche an, welche ebenfalls an die Religionspraktiken der biblischen Pharisäer gemahnt, die für ihre Strenge in der Einhaltung der religiösen Riten bekannt waren. So hielten sie sich strikt an das Gebot, am Sabbat zu ruhen, und empfanden die Wunderheilungen Jesu an jenem Wochentag für eine Übertretung dieses Gebotes. Aufgrund ihrer Regelkonformität schien ihnen zudem eine gewisse Arroganz gegenüber anders Gläubigen oder Ungläubigen anzuhaften.325 Luther hingegen hielt nichts von jenen Gläubigen, die sich durch die strenge Einhaltung kirchlich bestimmter Gebote, einen Platz bei Gott „erkaufen“ wollten. So polemisierte er mit seiner Idee des „sola fide“ gegen die Ablassbriefe und sprach sich für einen Glauben aus, der lediglich auf der geistigen Nähe zu Gott beruht. Der Glaube gehe zudem nicht vom Menschen aus, sondern sei von Gott geschenkt, weshalb Gott das Subjekt des Glaubens sei, die göttliche Heilszusage das Objekt. 326 Gabriels Außenseitertum und Scheitern wird auch im Verhalten Aunt Kates deutlich, da diese ihn bei seiner Ankunft misstrauisch ausfragt, ob er sich auch um eine geeignete Unterkunft bemüht habe, ob er diese auch richtig überprüft habe: „'But tell me, Gabriel,' said Aunt Kate, with brisk tact. 'Of course, you've seen about the room.' “ (D, S.142). Obwohl dieser ein erwachsener und Vgl. hierzu Josef Schmid. 'Pharisäer' In: Lexikon für Theologie und Kirche. 2., neu bearbeitete Auflage. Bd.2. Herausgegeben von Josef Höfer; Kurt Rahner. Verlag Herder. Freiburg. 1963. S.438f. 326 Vgl. hierzu Klaus Haendler. 'Sola Fide' In: Lexikon für Theologie und Kirche. 2., neu bearbeitete Auflage. Bd.9. Herausgegeben von Josef Höfer; Kurt Rahner. Verlag Herder. Freiburg. 1963. S.859f. 325

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erfolgreicher Lehrer ist, nimmt sie sich noch immer das Recht heraus, ihn zu bevormunden, da sie ihm in häuslichen Dingen nicht vertraut. Neben den Tanten wird aber auch der Rest der anwesenden Gäste kritisch beleuchtet. So etwa Freddy Malins, dessen Name nichts Gutes verheißt (frz. malin - boshaft, trickreich). Noch bevor er in persona auftritt, schädigen die Tanten seinen Ruf, da sie befürchten, er könne, was in seinem Fall keine Ausnahme darstelle, betrunken auftauchen und sich selber sowie auch die Gastgeberinnen beschämen. Und tatsächlich erweist sich die Vermutung als wahr. Vielleicht gerade weil er sich seines schlechten Rufes bewusst ist, torkelt Freddy den übrigen Gästen entgegen: In fact right behind her Gabriel could be seen piloting Freddy Malins across the landing. The latter, a young man of about forty, was of Gabriel's size and build, with very round shoulders. His face was fleshy and pallid, touched with colour only at the thick hanging lobes of his ears and at the wide wings of his nose. He had coarse features, a blunt nose, a convex and receding brow, tumid and protruded lips. His heavy-lidded eyes and the disorder of his scanty hair made him look sleepy. He was laughing heartily in a high key at a story which he had been telling Gabriel on the stairs and at the same time rubbing the knuckles of his left fist backwards and forwards into his left eye.“ (D, S.145).

Freddy ist ein nachlässiger und ungehobelter Gewohnheitstrinker, der die Gesellschaft, insbesondere aber die Gastgeberinnen in Verlegenheit bringt, auf der anderen Seite aber durchaus zur Belustigung und guten Laune der Anwesenden beiträgt, etwa wenn er das Lied nach Gabriels Tischrede mit der Gabel dirigiert. Auch ist er stets gut gelaunt. Schon bei seiner Ankunft lacht er herzlich über eine Geschichte, die er Gabriel erzählt und im folgenden auch direkt an Mr Browne weitergibt. Die regelrechten Lachkrämpfe, die ihn schütteln, gemahnen an die Todesfiguren im Werk Manns, welche ebenfalls von infernalischen Lachsalven geschüttelt werden. Diese Tendenz zum ausufernden und übertriebenen Lachen scheint dem höhnischen und verachtenden Lachen des Teufels in seiner Funktion als Schalk verwandt zu sein.327 In mancher Hinsicht wirkt Freddy jedoch weniger infernalisch als vielmehr infantil. Seine Neigung zum Schabernack sowie das mehrfach erwähnte Reiben des linken Auges mit seiner linken Faust erinnern an die Gewohnheit von Kleinkindern und sogar Säuglingen. Als Vertreter der Kindlichkeit strahlt er eine gewisse Natürlichkeit und Ehrlichkeit aus, welche ihn von den restlichen Gästen unterscheidet. Er ist eine der wenigen Figuren, welche nicht durch ihre Scheinheiligkeit auffallen, sondern zu ihren Lastern und Makeln stehen. Auch Mr Browne, dessen Trinkgewohnheiten in „The Dead“ recht detailliert wiedergegeben werden, spricht dem Alkohol eifrig zu. Mehrfach bedient er sich des Whiskys und scheint, wie auch Freddy, ein eher humorvoller Geselle zu sein. Er witzelt über sein Faible für Spirituosen und behauptet sogar, der Arzt habe ihm dazu geraten, viel zu trinken. Sein rotes und heißes Gesicht lassen jedoch auf übermäßigen Alkoholkonsum schließen. Gleichwohl ist er einer der wenigen Vgl. hierzu auch Andrew Lytle. „A Reading of Joyce's The Dead“ In: The Sewanee Review 77. 1969. S.195.

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Charaktere, die sich durch kritische Reflexion und Denkfähigkeit auszeichnen, wie das Gespräch über die Gewohnheiten der Mönche beweist. Wer nicht, wie Mr Browne oder Freddy Malins, durch schlechtes Benehmen auffällt, erweist sich aufgrund seiner Heuchelei als ambivalente Figur. Scheinheilige, wie Aunt Kate, sind James Joyce zufolge „the worst kind of villain yet under the appearance of virtue he conceals the worst of vices.“328 Gerade weil der Scheinheilige sich seiner Tugendhaftigkeit rühme, zähle er zu den verabscheuungswürdigsten „Missetätern“. In den Dubliners finden sich ihrer nicht wenige. Während Marie Janes Klavierkonzert etwa sind einige der Herren gar nicht zugegen, klatschen aber nach Beendigung der Vorstellung um so lauter: „The most vigorous clapping came from the four young men in the doorway who had gone away to the refreshment-room at the beginning of the piece but had come back when the piano had stopped.“ (D, S.147). Angesichts der Niederträchtigkeit der Charaktere spricht Anthony Burgess von einer „Seelenfäulnis“ der Dubliner.329 Er vergleicht das Übel, welches die Bevölkerung befallen hat, mit einer Krankheit. Ganz ähnlich sieht dies Rabaté, demzufolge der Erzählzyklus „revèle une maladie aussi physique que morale.“330 Physisch wie moralisch befindet sich die Stadt in einem unaufhaltsamen und hoffnungslosen Niedergang. Gabriel scheint diesen Niedergang am eigenen Leib zu spüren, kann sich diesem jedoch selber schwerlich entziehen. So bemüht er sich um eine offene und humane Weltsicht, ist in mancher Hinsicht aber ebenso verlogen wie der Rest der Gästeschaft. Dies wird vor allem in seiner Rede deutlich, in der er seine Tanten und Marie Jane als drei Grazien stilisiert und ein regelrechtes Loblied auf sie anstimmt. In seinen vorangehenden Überlegungen jedoch wird deutlich, dass er sie aufgrund ihrer Ignoranz und ihrer Naivität zu einem gewissen Grad verachtet: „Very good: that was one for Miss Ivors. What did he care that his aunts were only two ignorant old women?“ (D, S.151). Gabriel nimmt hier eine überhebliche Haltung gegenüber seinen eher einfältigen Tanten ein und macht sich damit einer Todsünde schuldig: der Superbia. Zwar setzt er sich in seinem Denken und Handeln von den übrigen Dublinern ab, fällt aber dennoch durch ein unwürdiges und tadelhaftes Verhalten auf, welches zeigt, dass auch er in dem Sumpf menschlicher Sündhaftigkeit befangen ist, dass er fehlbar und somit menschlich ist.

James Joyce. „Trust not Appearances“ In: Ellmann, Richard; Mason, Ellsworth (Hrsg.). Joyce, James. The Critical Writings of James Joyce. Faber & Faber. London. 1959. S.16. 329 Anthony Burgess. Here comes everybody. An introduction to James Joyce for the ordinary reader. Faber & Faber. London. 1965. S.40. 330 Jean Michel Rabaté. James Joyce. S.25. 328

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3.2.3 Drifting Apart – Divergenzen zwischen Gabriel und Gretta Nicht nur Gabriels Tischrede entspricht einer Täuschung der Zuhörer, sondern auch sich selber macht er etwas vor. An zahlreichen Stellen offenbart sich sein Selbstbetrug, wenn er Gretta zur liebenden und ihm treu anhängenden Seelenverwandten verklärt. In Wahrheit sind die Divergenzen, welche das Paar zu überbrücken versucht, mannigfach. Zunächst fällt auf, dass Gabriel ein Ästhet ist, welcher vor allem auf visuelle Reize reagiert. Während der Rest der Anwesenden dem Musikstück Marie Janes lauscht, betrachtet er ein Gemälde, welches eine Szene aus Shakespeares Romeo and Juliet darstellt. Später wandert sein Blick dann zu einer Fotografie, die seine Mutter zeigt. Er erinnert sich, dass sie Gretta anfangs verachtete, weil sie „country cute“ sei. Gabriels Desinteresse an Musik zeigt sich zudem während des Tischgesprächs, wo er sich ganz seinem Essen zuwendet, um nicht an der Unterhaltung über Operngrößen vergangener Zeiten teilnehmen zu müssen. Wie auch am Ende des Abends deutlich wird, fühlt er sich vielmehr der bildenden Kunst und insbesondere der Malerei zugetan. Kurz vor ihrem gemeinsamen Aufbruch sieht er Gretta am oberen Ende der großen Treppe stehen, in Halbschatten gehüllt und in Gedanken versunken der Musik lauschend: Gabriel had not gone to the door with the others. He was in a dark part of the hall gazing up the staircase. A woman was standing near the top of the first flight, in the shadow also. He could not see her face but he could see the terracotta and salmonpink panels of her skirt which the shadow made appear black and white. It was his wife. She was leaning on the banisters, listening to something. Gabriel was surprised at her stillness and strained his ear to listen also. But he could hear little save the noise of laughter and dispute on the front steps, a few chords struck on the piano and a few notes of a man's voice singing. He stood still in the gloom of the hall, trying to catch the air that the voice was singing and gazing up at his wife. There was grace and mystery in her attitude as if she were a symbol of something. He asked himself what is a woman standing on the stairs in the shadow, listening to distant music, a symbol of. If he were a painter he would paint her in that attitude. Her blue felt hat would show off the bronze of her hair against the darkness and the dark panels of her skirt would show off the light ones. Distant Music he would call the picture if he were a painter. (D, S.165).

Gabriel bemüht sich, die Melodie, welche seine Frau so sehr in Bann schlägt, zu hören und zu verstehen, aber er vernimmt nur die Streitigkeiten und das Gelächter der aufbrechenden Gäste. Er stilisiert seine Frau zum Motiv eines Gemäldes, welches er Distant Music betiteln würde. Die Bezeichnung, welche Gabriel für das Gemälde wählt, erinnert an Dickens David Copperfield, dessen gleichnamiger Protagonist gegen Ende des Romanwerks an seine erste große Liebe Dora denken muss, die mittlerweile verstorben ist: „With the unerring instinct of her noble heart, she touched the chords of my memory so softly and harmoniously, that not one jarred within me; I could listen to the sorrowful, distant music, and desire to shrink from nothing it awoke. How could 163

I, when, blended with it all, was her dear self, the better angel of my life!“331 Die Szene sowie der Verweis auf die verstorbene erste Liebe David Copperfields verdeutlichen die Distanz, welche Gabriel und seine Frau trennt. Majola-Leblond nimmt an, dass Gabriel das Wesen seiner Frau bereits hier erkenne und dass die Treppe, an deren unterem Ende er steht, ihm einen Aufstieg und eine Annäherung an sie ermögliche.332 Tatsächlich vollzieht sich die Erkenntnis Gabriels jedoch erst im Hotelzimmer, wenn er einsehen muss, dass seine Gedanken und die Grettas sich den ganzen Abend über mit gänzlich anderen Dingen befasst haben. Folgt man der Philosophie Nietzsches, dann wäre Gabriel ein Anhänger der apollinischen Kunst, der maßvollen, bildenden Künste. Gretta jedoch hegt eine passionierte Begeisterung für die Musik, da diese ihre sublimierten Leidenschaften und Gefühle adäquat auszudrücken vermag. Sie kann somit als Anhängerin der dionysischen Kunst gelten, welche die Abgründe ihrer Seele ebenso wie ihre Vergangenheit spiegelt. Die altirische Ballade „Lass of Aughrim“, welche die Feierlichkeit beschließt, lässt Gretta in ihrer Vergangenheit schwelgen, da ihr einstiger Geliebter im Westen des Landes dieses Lied für sie sang, obwohl er schwer erkrankt war und bald darauf starb. Sowohl ihre unterschiedliche Vergangenheit als auch die Wahrnehmungsart der Welt um sie herum entfernen die Ehepartner zusehends voneinander. Gretta ist im Gegensatz zu ihrem Mann ein auditiv veranlagter Mensch, der sehr stark auf Musik und ihren Einfluss auf das Gemüt reagiert. Nach ihrem Aufbruch hängt sie noch immer der Melodie und den durch sie ausgelösten Erinnerungen nach: „She was in the same attitude and seemed unaware of the talk about her. At last she turned towards them and Gabriel saw that there was colour on her cheeks and that her eyes were shining. A sudden tide of joy went leaping out of his heart.“ (D, S.167). Gretta hegt, ähnlich Hans Castorp, eine gewisse Affinität zur Musik, die sie träumerisch werden lässt und die auch ihre romantische Ader hervorkehrt. Dies wiederum lässt auf ihre künstlerische und schwermütige Seite schließen, das Empfinden des Weltschmerzes und der Todesnähe. Sie ist aufgrund ihrer Erinnerungen an ihre Jugendliebe emotional aufgewühlt, sodass sie die Unterhaltung um sie herum kaum mehr wahrnimmt. Ihre Gesicht ist gerötet und ihre Augen leuchten bei dem Gedanken an den verblichenen Micheal Furey. Gabriel jedoch deutet dies falsch und glaubt, sie sei wie er freudig erregt im Hinblick auf die bevorstehende gemeinsame Nacht im Hotel, fern der Kinder und des Alltags. Erst nach ihrer Rückkehr in das Hotelzimmer erkennt er seinen Irrtum, welcher ihn in die Charles Dickens. David Copperfield. Edited by Nina Burgis. Oxford University Press. Oxford; London (u.a.). 1981. 718f. S. 332 Vgl. Claire Majola-Leblond. „La cinquième Saison, Prélude et Fugue: «Araby» et «The Dead»“ In: Pascal Bataillard; Dominique Sipière (Hrsg.). Dubliners, James Joyce. The Dead, John Huston. Ellipses Market. Paris. 2000. S.99. 331

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ernüchternde Realität zurückholt. Bereits auf dem Weg zum Hotel hatte er sich ausgemalt, wie er seine Frau verführen würde: „He would call her softly. (...) Perhaps she would not hear at once: she would be undressing. Then something in his voice would strike her. She would turn and look at him...“ (D, S.169). Während Gretta in ihrer Vergangenheit mit Michael Furey schwelgt, gedenkt Gabriel der gemeinsam verlebten Momente mit ihr. Er erinnert sich an die Zeiten, als ihre Liebe noch stürmisch war, und an einen Brief, den er ihr einst geschrieben hatte: „Like distant music these words that he had written years before were borne towards him from the past. He longed to be alone with her.“ (D, S.169). Er stilisiert die bevorstehende Liebesnacht als Flucht aus dem Alltag und als leidenschaftliches Abenteuer, welches ihr ehemaliges „secret life together“ wieder auffrischen könnte. Im Hotel angekommen kann Gabriel das Verlangen nach seiner Frau kaum in Zaum halten. Da er jedoch merkt, dass Gretta noch immer abwesend ist und ihre Aufmerksamkeit nicht ihm zuwendet, versucht er ein Gespräch zu eröffnen, in dem er sich möglichst vorteilhaft und großzügig darstellt. Er erinnert Gretta daran, dass er Freddy Malins ein Pfund geliehen hatte, welches dieser nun zurückgezahlt habe. Gretta hakt nach, ohne von Gabriels Verlangen nach ihr Notiz zu nehmen: „He was trembling with annoyance. Why did she seem so abstracted? He did not know how he could begin. Was she annoyed, too, about something? If she would only turn to him or come to him of her own accord! To take her as she was would be brutal. No, he must see some ardour in her eyes first. He longed to be master of her strange mood.“ (D, S.171). Als Gretta nachfragt, wann er ihm das Pfund geliehen habe, kann sich Gabriel kaum noch beherrschen: „Gabriel strove to restrain himself from breaking out into brutal language about the sottish Malins and his pound. He longed to cry to her from his soul, to crush her body against his, to overmaster her.“ (D, S.171). Er ist derart in Rage, dass er nicht einmal mehr hört, wie sie vom Fenster zu ihm herüberkommt, um ihm einen Kuss zu geben und seine Großzügigkeit zu loben. Wieder deutet er ihre Gestik und Mimik falsch und glaubt, nun einen Vorstoß wagen zu können. Er fragt sie, was sie denke, woraufhin sie ihm endlich ihre Gefühle gesteht und von der Erinnerung an Michael Furey erzählt, der sie einst geliebt habe und sogar für sie gestorben sei. Kurz vor ihrem Aufbruch nach Dublin in eine katholische Mädchenschule kam er, um sich des Nachts von ihr zu verabschieden, obwohl er schwer krank war. Wenige Wochen darauf erfuhr sie, dass er gestorben sei, und fürchtet, es könne die kühle Nachtluft und der Regen jener Nacht gewesen sein, die seinen Tod besiegelten. Der Name des ehemaligen Geliebten ist ein telling name. Furey leitet sich von dem englischen Wort „fury“ ab, zu Deutsch „Wut“ oder „Rage“, und lässt auf einen leidenschaftlichen und aufbrausenden Charakter des jungen Mannes schließen, der selbst den Tod nicht scheut, um seine Angebetete vor ihrer Abreise noch einmal zu sehen. Zudem erinnert der Name an die Furien bzw. die Erynnien der griechischen 165

Mythologie, Rachegöttinnen, die von einer „Ambivalenz des unterweltlichen Charakters“ geprägt sind. Sie sind zum einen eng mit dem Totenglauben verknüpft, gelten zum anderen aber als Spender der Fruchtbarkeit und der Erneuerung.333 Überdies erinnert der Vorname des jungen Mannes, ebenso wie der Gabriels, an die biblische Überlieferung, an den Erzengel Michael, den Bezwinger Satans, der die christlichen Heerscharen anführt. Wie Gifford ausführt, kommt Michael mehrere Male mit Satan in Kontakt, etwa wenn er mit diesem über die Leiche Moses' streitet: „He is mentioned in the Bible as disputing with Satan about the body of Moses (Jude 9) and as warring against the dragon, Satan, and his forces in the upper regions (Revelation 12:7-9).“334 Michael übernimmt zudem am Tage des jüngsten Gerichtes das Abwägen der Seelen und somit eine ganz ähnliche Funktion wie der ägyptische Mondgott Thot, welcher im Totengericht die Herzenswägung notiert. Wie Hermes Psychopompos geleitet der Erzengel Michael darüber hinaus die Seelen in das Totenreich. Jene Funktion übernimmt auch Michael Furey am Ende der Erzählung, wenn Gabriel seine eigene Identität aufgibt, um das Reich der Toten und der Vergangenheit näher zu erkunden. Gabriel ist ebenfalls nach einem Erzengel benannt. Der Erzengel Gabriel war vor allem ein Bote der Verkündung Gottes, der unter anderem Jesu Auferstehung prophezeite und die Gnade Gottes verhieß. Zunächst scheint es fraglich, ob auch Gabriel diese Rolle zuzuschreiben ist, da er sich häufig unchristlich, ja geradezu bigott verhält, am Ende der Erzählung jedoch wird ihm eine weitreichende Einsicht zuteil, welche sein Leben in Zukunft verändern soll. Erst nach dem Geständnis Grettas versteht Gabriel die Aufregung seiner Frau und ihre Introversion richtig zu deuten. Er fühlt sich beschämt bei dem Gedanken, geglaubt zu haben, sie sehne sich nach ihm, während sie in Wahrheit ihrer verflossenen Liebe nachtrauerte: Gabriel felt humiliated by the failure of his irony and by the evocation of this figure from the dead, a boy in the gasworks. While he had been full of memories of their secret life together, full of tenderness and joy and desire, she had been comparing him in her mind with another. A shameful consciousness of his own person assailed him. He saw himself as a ludicrous figure, acting as a pennyboy for his aunts, a nervous, well-meaning sentimentalist, orating to vulgarians and idealizing his own clownish lusts, the pitiable fatuous fellow he had caught a glimpse of in the mirror. Instinctively he turned his back more to the light lest she might see the shame that burned upon his forehead. (D, S.173).

Während dieser Epiphanie erkennt Gabriel, dass Gretta und er nicht mehr das verliebte Pärchen von einst sind. Vielleicht sind sie es sogar nie gewesen. Sie ist ein Mädchen aus dem Westen Irlands, welches ihrer Heimat noch immer verhaftet ist und gerne mit Miss Ivors zurückkehren würde, wenn Vgl. [Art.] 'Erinnyen' In: Der Kleine Pauly. Lexikon der Antike. Bd. 2. Herausgegeben von Walter Sontheimer; Konrat Ziegler. Alfred Druckenmüller Verlag. Stuttgart. 1967. S.358f. 334 Don Gifford. Joyce Annotated. S.125. 333

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auch nur um Urlaub zu machen. Er jedoch bewegt sich in anderen Sphären, wenn er sich für die Literatur, die Politik und die Sitten auf dem Kontinent interessiert. Er verachtet Irland gar für seine Ignoranz und Engstirnigkeit. Aufgrund der Enttäuschung und Desillusionierung, die Gabriel in dieser Szene erfährt, vergleicht Lansing Smith sie mit einer regelrechten Nekyia, „a burial place of memory and desire.“335 Darüber hinaus wird Gabriel klar, dass er seine Liebe zu Gretta idealisiert hat und diese in Wahrheit auf „clownish lusts“ und somit auf reinem Egoismus beruht. Wie Gustav Aschenbach im Tod in Venedig sieht er sich als Vertreter einer intellektuellen Elite, der es zunächst nicht über sich bringt, sein sexuelles Verlangen als solches anzuerkennen. Er redet sich ein, es handele sich um „platonische“ Liebe und um Seelenverwandtschaft, muss jedoch erkennen, dass auch er unter der allseits gegenwärtigen Seelenfäulnis leidet. Sein „secret life“ mit Gretta beruht auf einer Lüge, der Lüge ihrer Liebe.

3.2.4 Fading out – Gabriels Eingang in das Reich der Toten Nachdem Gabriel erkannt hat, dass Gretta noch immer Gefühle für Michael Furey hegt, beginnt er seinerseits Grettas Jugendliebe zu idealisieren bzw. zu mythisieren. Furey wird aufgrund seines Liebestodes, den er für Gretta gestorben ist, zu ihrem ewigen und unerreichbaren Liebhaber: „A vague terror seized Gabriel at this answer, as if, at that hour, when he had hoped to triumph, some impalpable and vindictive being was coming against him, gathering forces against him in its vague world.“ (D, S.174). Anstelle des sexuellen Triumphes über Gretta eröffnet sich ihm eine Schattenwelt, der er nicht entfliehen kann und gegen die er nicht ankommt. Denn auch Gretta idealisiert diesen jungen Liebhaber und scheint sein Bild ihr Leben lang in ihrem Herzen getragen zu haben: „It was a young boy I used to know (...) named Michael Furey. He used to sing that song. The Lass of Aughrim. He was very delicate. (...) I can see him so plainly. (...) Such eyes as he had: big, dark eyes! And such an expression in them – an expression!“ (D, S.172f.). Neben seiner Erscheinung ist ihr vor allem seine romantische Veranlagung in Erinnerung geblieben. In der Nacht bevor sie auf die Klosterschule nach Dublin gehen soll, wirft er Steine an ihr Fenster, damit sie hinunter zu ihm in den Garten komme. Trotz Regen und Kälte möchte er sie noch einmal sehen. Als Gretta ihn heim schickt, da er sich sonst den Tod hole, sagt er, dass er ohne sie ohnehin nicht mehr leben wolle. Evans Lansing Smith. Ricorso and Revelation. An Archetypal Poetics of Modernism. Camden House. Columbia. 1995. S.23. 335

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Nachdem sich seine Frau in den Schlaf geweint hat, denkt Gabriel noch lange über das Vorgefallene nach. Er erkennt, dass seine Eroberungslust und seine Wut aufgrund der Zurückweisung durch Gretta auch Folge seiner Misserfolge während des Festes sind: „He wondered at his riot of emotions of an hour before. From what had it proceeded? From his aunt's supper, from his own foolish speech, from the wine and dancing, the merry-making when saying good night in the hall, the pleasure of the walk along the river in the snow.“ (D, S.175). In der Tat ist „The Dead“ eine Geschichte der Misserfolge für Gabriel Conroy, insbesondere von Misserfolgen mit dem weiblichen Geschlecht. Gleich zu Beginn erwischt er Lily auf dem falschen Fuss, da diese von einem Mann enttäuscht worden ist und daraufhin gleich auf das gesamte männliche Geschlecht flucht. Auch seine Tante Kate ist misstrauisch, ob er sich um ein gutes Hotel und um ein ordentliches Zimmer für sich und seine Frau bemüht habe. Kurz darauf entwickelt sich der Konflikt mit seiner gleichaltrigen Kollegin Miss Ivors und zu guter letzt scheitert er bei dem Versuch, seine eigene Frau zu verführen. Seine Niederlagen durchziehen sämtliche Altersgruppen als auch Lebensbereiche. Er scheitert als Freund, als politischer Aktivist, als Neffe sowie als Ehemann. Gabriels Laune verfinstert sich und er beginnt über den Tod nachzudenken, darüber, dass die Gesellschaft bald zu einem traurigeren Ereignis zusammen kommen könnte, zur Beerdigung von Aunt Julia: „She, too, would soon be a shade with the shade of Patrick Morkan and his horse. He had caught that haggard look upon her face for a moment when she was singing Arrayed for the Bridal. Soon, perhaps, he would be sitting in that same drawing room, dressed in black, his silk hat on his knees.“ (D, S.175). Anstatt jedoch tatsächlich Mitleid mit seiner Tante zu empfinden, denkt Gabriel nur daran, wie er sich dann fühlen und wie er sich verhalten wird. Er steht im Mittelpunkt der düsteren Zukunftsvision, als eine Art Fels in der Brandung, als den er sich stilisiert. Wie Pecora gezeigt hat, untergräbt er damit jedoch das Prinzip der Aufopferung für andere und somit auch die Kenntnis seiner selbst.336 Er sieht sich gerne als humanen, offenen und großzügigen Menschen, wie er besonders gegenüber Gretta betont, ist im Herzen jedoch ebenso egoistisch und egozentrisch wie die übrige Festgesellschaft. Auch die Liebe zu seiner Frau ist egoistischer bzw. sexueller Natur, wie er kurz zuvor festgestellt hat. Es empfindet keine wahre Liebe, denn sein Verlangen nach Gretta ist eher Ausdruck seiner Gefallsucht und seiner Triebhaftigkeit. Gabriel wird sich zudem, hierin Hans Castorp ähnelnd, seiner eigenen Sterblichkeit bewusst: „One by one, they were all becoming shades. Better pass boldly into that other world, in the full glory of some passion, than fade and wither dismally with age. He thought of how she who lay beside him had locked in her heart for so many years that image of her lover's eyes when he had told her that he Vgl. Vincent P. Pecora. „The Dead and the Generosity of the Word“ In: PMLA 101. 1986. S.243.

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did not wish to live.“ (D, S.176). Seine Überlegungen wirken beinahe paradox, da er, als tatsächlicher Ehemann Grettas, vor dem Bild Michael Fureys verblasst. Der einstige Liebhaber Grettas aber, der schon vor etlichen Jahren gestorben ist, ihr umso lebendiger im Gedächtnis geblieben ist.337 Joyce kehrt hier die katabatische Tradition Homers geradezu um, wenn er die Toten lebendiger erscheinen lässt als die schattenhaften Dubliner oder den verblassenden Gabriel. Die Toten stehen den Lebenden weitaus reger im Gedächtnis als ihre Zeitgenossen oder das Diesseits. Das Primat Fureys über Gabriel gleicht einer Glorifizierung des Liebestodes, die ihn auf ein regelrechtes Podest hebt und Gabriel seinerseits über den Tod nachdenken lässt. Schließlich erwägt er kurz darauf eine Reise gen Westen anzutreten, ein Motiv, das in der irischen Mythologie häufig mit einer Reise in das Totenreich gleichgesetzt wird:338 „A few light taps upon the pane made him turn to the window. It had begun to snow again. He watched sleepily the flakes, silver and dark, falling obliquely against the lamplight. The time had come for him to set out on his journey westward.“ (D, S.176). Möglich wäre es jedoch auch, dass Gabriel seine Haltung gegenüber Irland und seiner Kultur überdenkt, um sich seiner Frau und seinen Bekannten anzunähern. Unter diesen Umständen handelte es sich bei einer möglichen Reise auch um die Erkundung der eigenen Wurzeln. In beiden Fällen gibt er seine derzeitige, teils vorgespiegelte Identität auf, um eine Bewusstseinserweiterung zu erfahren: The tears gathered more thickly in his eyes and in the partial darkness he imagined he saw the form of a young man standing under a dripping tree. Other forms were near. His soul had approached that region where dwell the vast hosts of the dead: He was conscious of, but could not apprehend, their wayward and flickering existence. His own identity was fading out into a grey impalpable world: the solid world itself, which these dead had one time reared and lived in, was dissolving and dwindling. (D, S.176).

O'Kelly versteht diese Identitätsaufgabe als Teil der mythischen, meist kreisförmigen Struktur von Joyces Geschichten. Diese aber sei ironisch, denn es handle sich um einen „torturous circle which conveys the modernist's fragmented universe where the demise of God has anticipated the dissolution of the subject and activated the dispersal of the matrix.“ 339 Auch das Ende von „The Dead“ lässt auf die Auflösung der Identität Gabriels schließen und auf eine Vereinigung mit den Verstorbenen: „His soul swooned slowly as he heard the snow falling faintly through the universe and faintly falling, like the descent of their last end, upon all the living and the dead.“ (D, S.176). Der Schnee fällt nicht mehr bloß über Dublin oder über Irland, sondern er fällt im gesamten Universum gleichermaßen auf Lebende und Tote. Er fällt „like the descent of Vgl. hierzu auch Warren Beck. Joyce's Dubliners. Substance, Vision, and Art. Duke University Press. Durham. 1969. S.350. 338 Vgl. Jean Michel Rabaté. James Joyce. S.62. 339 Joly O'Kelly. „Dubliners, l'alpha et l'omega – Lecture sémiologique“ S.53. 337

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their last end“, als gelte es, eine letzte Reise anzutreten, die Reise in das Reich der Toten. Der Schnee wird somit zum Symbol, welches die „gap“ zwischen den Lebenden und den Toten zu schließen vermag und sie zusammenführt. 340 Mit der Annäherung an den „young man under a dripping tree“, also an die verstorbene erste Liebe seiner Frau Gretta, aber auch an die Verstorbenen im allgemeinen, nähert sich Gabriel zudem einer mythischen Vergangenheit: „Gabriel opte pour une immersion dans un passé plus ancien encore que celui qu'il glorifiait, un passé mythique capable de réconcilier le plus archaique et le plus neuf.“ 341 Gabriel wird somit zu einer versöhnlichen und versöhnenden Figur, welche die Kluft zwischen Lebenden und Toten, aber auch zwischen der Gegenwart und der mythischen Vergangenheit schließt. Wie Hans Castorp im Zauberberg übernimmt er somit eine Mittler-Funktion, welche an die Gestalt des Hermes Trismegistos denken lässt. Und wie Hans Castorp dient seine Einsicht einer neuen und umfassenden Humanität, da er sich neuen Einflüssen öffnet, indem er sich seiner Vergangenheit und seiner irischen Herkunft stellt. Er beschreibt damit denselben Weg wie Hans Castorp, wenn auch in umgekehrter Richtung. Zunächst ergibt er sich den kontinentalen und „westlichen“ Einflüssen Englands, um gegen Ende der Erzählung seine Herkunft und damit auch seine Persönlichkeit zu erforschen. „The Dead“ handelt folglich auch von der Selbstfindung Gabriel Conroys, der sich bisher weder mit Dublin noch mit Irland identifizieren konnte, diese aber schließlich als Teil seiner selbst anerkennt und akzeptiert. Tate betont daher, dass der Schnee ein Symbol für „Gabriel's escape from his own ego into the larger world of humanity“ sei.342 Der junge Mann beginnt zu verstehen, dass nicht er im Mittelpunkt seines Handelns und Denkens stehen sollte, sondern der Mensch im allgemeinen. Gabriel rückt in seinen die Erzählung beschließenden Überlegungen von seiner vormaligen Egozentrik, seiner Gefallsucht und seiner Eitelkeit ab, um seine eigenen Wurzeln ebenso wie die seines Volkes zu erforschen. Denn erst diese Selbsterkenntnis und die Akzeptanz der eigenen Herkunft und der eigenen Vergangenheit ermöglichen es ihm, mit der tatsächlichen, der diesseitigen und gegenwärtigen Welt in Kontakt zu treten.

Vgl. Eva Geulen. „Depicting Description: Lukacs and Stifter“ In: Germanic Review 73. 1998. S.276. Jean Michel Rabaté. „Les morts et les lois de l'hospitalité joycienne“ In: Pascal Bataillard; Dominique Sipière (Hrsg.). Dubliners, James Joyce. The Dead, John Huston. Ellipses Market. Paris. 2000. S.126. 342 Allen Tate; Caroline Gordon. The House of Fiction. An Anthology of the Short Story with Commentary. Scribner. New York. 1960. S.186. 340 341

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3.3 Internalisierung einer jesuitischen Hölle – A Portrait of the Artist as a Young Man 3.3.1 Intertexte und Selbstmythisierung Stephens A Portrait of the Artist as a Young Man schließlich ist Joyces erstes Romanwerk und kann als Künstlerroman mit autobiographischen Zügen beschrieben werden. Es erschien zunächst als Folgeroman in der von Ezra Pound herausgegebenen Zeitschrift The Egoist in den Jahren 1914 und 1915. Ein Jahr darauf folgte dann die Veröffentlichung in Buchform durch den Verleger B.W. Huebsch in New York. Der Roman gilt als bahnbrechend, vor allem aufgrund seines sich langsam entwickelnden Erzählstils. Gemeinsam mit der Hauptperson Stephen Dedalus entwickelt sich die Sprache von der eines Kleinkindes, welches in einfach unterscheidbaren Kategorien denkt, zu der eines jungen Intellektuellen, der versucht, seine Persönlichkeit mithilfe der Kunst zu verwirklichen und auszudrücken. Bereits das Epigraph, welches dem Roman vorausgeht, verweist auf die literarische Tradition Europas, genau genommen auf den römischen Autor Publius Ovidius Naso. „Et ignotas animum dimittit in artes“, der Vers, welcher das Portrait eröffnet, stammt aus dem achten Buch der Metamorphosen und bedeutet frei übersetzt: „Und er wandte seinen Geist unbekannten Künsten zu.“ Diese Worte nehmen die Entwicklung des jungen Stephen Dedalus vorweg, der mithilfe seines Geistes die Welt zu erklären sucht, indem er sich insbesondere der Philosophie und der Literatur widmet. Antriebsfeder für diese Entwicklung ist vor allem seine unerschöpfliche Neugier, die ihm einen faustischen Charakter verleiht. Er versucht, die Welt besser zu verstehen, und widmet sich, wie auch Hans Castorp, wenn er „regiert“, der Erforschung verschiedener Wissensgebiete. Das Selbststudium der „unbekannten“ Künste, legt den Gedanken an die Schwarzkunst nahe, die dunkle Magie, welche der Alchemie verwandt ist, also der Erschaffung des Goldes aus einfachen Rohstoffen. Hier wird die Parallele zu Marlowes Die tragische Historie von D. Johann Fausti und zu Manns Faust-Adaption deutlich, die vermuten lässt, dass sich Stephen im weiteren Verlauf des Romans mit dem Teufel einlassen wird. Wie in den folgenden Kapiteln deutlich werden wird, ist dieser Teufel jedoch kein realer Gegenpart des jungen Studenten, sondern eine Ausgeburt seiner Phantasie, welche durch seine streng jesuitische Schulbildung angeregt wurde. Bereits die erste Seite des Portrait mutet mythisch und märchenhaft an: „Once upon a time and a very good time it was there was a moocow coming down along the road and this moocow that was coming down along the road met a nicens little boy named baby tuckoo...“ (P, S.5). 171

Es scheint, dass der kleine Stephen stark durch die Märchenliteratur geprägt ist und sich durchaus mit dieser fremdartigen und phantasievollen Welt identifiziert, ja sich selber regelrecht stilisiert, denn dieser Satz beschreibt seine eigene junge Existenz. Er selber wird zu einer Märchenfigur, die eine Reise antritt, deren Ziel die Selbstfindung des Protagonisten ist. Schon als kleiner Junge saugt Stephen die Geschichten, derer er habhaft werden kann, auf wie ein Schwamm, um sie für sein eigenes Leben und Denken zu verwenden und umzumodeln. Mit der Stilisierung seiner selbst als Romanfigur bietet er wiederum Identifikationspotenzial für den Leser und stellt somit eine Verbindung zur Menschheitsgeschichte her. Denn wie Multhaup treffend formuliert, zeigt die „märchenhaft-mythische Einleitungsformel“ des Romans „die Parallele zwischen individueller und menschheitsgeschichtlicher Entwicklung.“ 343 Auch im weiteren Verlauf des Romans ist eine Selbstmythisierung Stephens durchaus nachweislich. Gelegentlich gefällt er sich in der Pose eines christlichen Märtyrers und erinnert somit an die Person Jesu Christi. An anderer Stelle trägt er heidnische Züge, wie auch schon sein griechisch anmutender Name dies andeutet. Stephen Dedalus ist nicht gerade ein typisch irischer Name, sondern erinnert vielmehr an die Figur des Daidalos aus der griechischen Mythologie, den Prototyp des erfinderischen Künstlers.344 Stephen selbst wird sich darüber bewusst, dass sein Name ihm eine Zukunft als Künstler verheißt, der aus den Zwängen der irischen Gesellschaft ausbrechen muss, um sich selbst zu verwirklichen. Ein Motiv, welches später noch im Ulysses anklingen wird, ist zudem die Suche nach der Elternschaft. Als Kind liebt und verehrt Stephen seine tatsächlichen Eltern und erkennt deren Autorität über ihn auch an. Im Verlauf des Romans, mit der zunehmenden Selbstständigkeit des jungen Künstlers, erscheinen sie ihm naiv und heuchlerisch und fügen sich somit in sein Gesamtbild des bigotten Irlands der Jahrhundertwende. In dem Moment jedoch, in dem er mit seinen Eltern bricht, wird Stephen zum Waisen und begibt sich auf die Suche nach einer neuen, einer geistigen Elternschaft. Im Portrait findet er diese Elternschaft in der mythischen Gestalt des Daidalos,345 des Schöpfers großer Kunstwerke und Erfindungen, und bemüht sich, in des Vorläufers Spuren zu gehen. Im Ulysses scheint es auch zu einer Übernahme jener Elternschaft durch Leopold Bloom zu kommen.

Uwe Multhaup. Das künstlerische Bewußtsein und seine Gestaltung in James Joyces A Portrait of the Artist as a Young Man und Ulysses. Lang Verlag. Bern. 1973. S.45. 344 Vgl. Mark A. Wollaeger. „Between Stephen and Jim: Portraits of Joyce as a Young Man“ In: Ebd. (Hrsg.). James Joyce's A Portrait of the Artist as a Young Man. A Casebook. Oxford University Press. Oxford. 2003. S.345. 345 Vgl. Emer Nolan. „Portrait of an Aesthete“ In: Mark A. Wollaeger (Hrsg.). James Joyce's A Portrait of the Artist as a Young Man. A Casebook. Oxford University Press. Oxford. 2003. S.282f. 343

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Neben dem bereits erwähnten Ovid ist ein weiterer literarischer Einfluss auf das Portrait deutlich spürbar. Schon auf den ersten Seiten stößt der Leser auf den Namen Dante und ist versucht an den Verfasser der Divina Commedia zu denken, vollkommen zu Recht. Zwar leitet sich der im Roman erwähnte Name von dem Wort Tante, zu Englisch „Aunt“ oder „Auntie“, ab, jedoch gibt es gewisse Parallelen zwischen der so genannten Privatlehrerin Stephens und dem florentinischen Dichter. Mrs Riordan, wie Stephens Gouvernante mit bürgerlichen Namen heißt, unterrichtet ihren jungen Schützling insbesondere in den Fächern Lesen und Schreiben und zeigt somit eine Begabung für Literatur und Linguistik.346 Zudem ist sie rhetorisch nicht ungeübt, wie sich in dem politisch motivierten Familienstreit am Heiligen Abend zeigt. Darüber hinaus ist sie eine zutiefst gläubige Person, welche die Bibel wörtlich nimmt, an das Jüngste Gericht und an das Fegefeuer glaubt. In diesem letzten Punkt setzt sie sich von dem florentinischen Poeten ab, denn während sie die Doktrinen der Kirche anstandslos übernimmt, ohne sie zu hinterfragen, reflektierte der Dichter sein Umfeld akribisch genau und hielt auch mit Kritik an Kirche und Adel nur selten hinter dem Berg. Die Parallele dient somit parodistischen Zwecken und verdeutlicht den blinden Glaubenseifer und die Bigotterie der Gouvernante. Sie ist stets auf der Seite des Klerus, wie der Streit an Weihnachten belegt, der sich um den Ehebruch des politischen Führers der Irish Land League und Vertreter der pro-irischen Politik, Charles Stewart Parnell, dreht. Nach dessen Affäre mit der Frau eines Parteifreundes, Katherine O'Shea, wurde Parnell vor allem vom irischen Klerus diskreditiert und geschmäht. Die Priester nutzten ihre Predigten, um Parnells Sündhaftigkeit anzuprangern und mischten sich somit aktiv in die Politik jener Tage ein, sodass die Stimmung zu Ungunsten Parnells kippte. Da jener aber nicht zurücktreten wollte, spaltete sich die Irish Parliamentary Party in zwei Lager. Stephens Lehrerin Dante verteidigt den Klerus und sein anprangerndes Verhalten gegenüber Parnell. Für sie kann ein Ehebrecher nicht der Führer einer politischen Partei bleiben, da er seiner Vorbildfunktion nicht gerecht werde und da ihm nicht mehr zu trauen sei. Sie geht soweit, ihn als den leibhaftigen Teufel zu bezeichnen, als „devil out of hell!“ (P, S.33). Mr Casey, ein Freund von Stephens Vater, lässt sich daraufhin dazu hinreißen, die Abschaffung Gottes und der Religion zu fordern, da dieser schon viel Unheil über Irland gebracht habe: „Away with God!“ (P, S.32), lautet sein Credo, da Gott in Irland zu wichtig genommen werde und die Iren daher ihr Schicksal nicht mehr selber in die Hand nähmen. Ihr blindes Gottvertrauen und ihre Naivität hätten das Land in den Ruin gestürzt. Dieses Credo scheint Stephen in seiner späteren Entwicklung in die Tat umzusetzen. Er wendet Gott und der Kirche den Rücken und folgt seiner Vgl. hierzu auch Blake Leland. „ 'Siete voi qui, Ser Brunetto?' Dante's Inferno 15 as a Modernist Topic Place“ In: English Literary History 59. 1992. 346

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Berufung zum Freidenker und Künstler. An die Stelle des Glaubens tritt also die Kunst, insbesondere in Form von Philosophie und Literatur. Die Mythisierung Stephens zum Daidalos der Moderne geht folglich einher mit einer Entmythisierung des katholischen Glaubens. Darüber hinaus nimmt Charles Stewart Parnell die Rolle eines Märtyrers ein, dem aufgrund seines rapiden politischen Aufstiegs Mißgunst zuteil wird und der folglich von seinen Feinden, vor allem aber durch die katholische Kirche, diskreditiert wird. In der Folge des Skandals allerdings wird auch die Figur Parnells mythisiert beziehungsweise heroisiert. Viele seiner ehemaligen politischen Anhänger verehren ihn auch noch nach der verheerenden Affäre und bleiben ihm selbst über den Tod hinaus treu. Wie bei großen Persönlichkeiten üblich, ranken sich zudem Gerüchte, Parnell möge eventuell wiederkehren und Irland zu neuer Größe und Souveränität verhelfen. Ähnlich wie bei Jesus Christus ließe sich also von dem Martyrium Parnells sowie von einem „Second Coming“ reden. Somit charakterisieren den politischen Führer sowohl göttliche als auch teuflische Züge, die seine Gestalt außergewöhnlich paradox erscheinen lassen, die vor allem aber die Verbohrtheit und extreme Position, ja Radikalität, der beiden politischen Strömungen in Irland verdeutlichen.

3.3.2 Father Dolan – Priester oder Peiniger? Im ersten Kapitel des Romans gibt es ein weiteres Vorkommnis, welches sich noch tiefer in Stephens Gedächtnis einbrennt als der politische Streit an Weihnachten und von dem er ein regelrechtes Trauma davonträgt. Nachdem Stephen durch einen aggressiven Klassenkameraden in den feuchten Dreck geworfen worden war, ist seine Brille zerbrochen und er sieht ohne sie zu schlecht, um aktiv am Unterricht teilnehmen zu können. Der sanftmütige Mister Harford entbindet ihn von der Pflicht, lesen und schreiben zu müssen, da er die Sinnlosigkeit des Unterfangens richtig einschätzt. Während der Lateinstunde Father Arnalls jedoch betritt Father Dolan, der „prefect of studies“, den Raum und fragt Stephen, warum er nicht schreibe. Obwohl Stephen ihm die Wahrheit über den Vorfall auf dem Schulhof sagt und somit eine hinlängliche Erklärung für sein Verhalten liefert, weist der Priester ihn zurecht und züchtigt ihn, indem er seine Hände mit einem dünnen Stock schlägt: Stephen closed his eyes and held out in the air his trembling hand with the palm upwards. He felt the prefect of studies touch it for a moment at the finger to straighten it and then the swish of the sleeve of the soutane as the pandybat was lifted to strike. A hot burning stinging tingling blow like the loud crack of a broken stick made his trembling hand crumple together like a leaf in the fire: and at the sound and the pain scalding tears were driven into his eyes (P, S.42).

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Der Priester lässt es mit dieser Strafe noch nicht auf sich bewenden. Um den jungen Schüler zu demütigen, zwingt er ihn auf die Knie, wo der Junge seine Hände gegen seine Seiten presst, als zögen sie sich in einem Feuer zusammen. Stephen muss auch die linke Hand hinhalten, wie Jesus einst die linke Wange, damit der Priester auch diese mit seinen Schlägen verunstalten kann. Hierbei empfindet er „hellish pains“, die ihm bereits einen Vorgeschmack auf die Hölle geben, welche in Gestalt der späteren Exerzitienwoche auf ihn zukommen wird. Father Dolan, der Vertreter dieser Hölle, ist paradoxerweise ein jesuitischer Priester und Präfekt, seinerseits Repräsentant des irischen Klerus. Schon hier wird deutlich, dass die Hölle Stephens keine eigentliche Realität besitzt, sondern dass sie eine Erfindung der Kirche ist, die der Vergeltung und dem Rachegedanken entspricht. Sie ist inspiriert von der christlichen Strafhölle, welche in einigen Bibelstellen zwar angedeutet wird, aber vor allem im Mittelalter von Volk und Priestern rege und phantasievolle, teils grauenerregende Beschreibung erfuhr. Die Ausmalung und Ausschmückung dieser Hölle, in welcher jeder Sünder seiner „gerechten“ und „adäquaten“ Strafe zugeführt wird, diente vor allem der Bindung der Gläubigen an die Kirche durch das Mittel der Angst. Wie dem Absatz ferner zu entnehmen ist, leidet Stephen nicht nur unter der körperlichen Züchtigung, sondern vor allem unter der Schande, welche sie in einer jesuitischen Schule bedeutet. Am meisten kränkt es ihn jedoch, dass seine Strafe eine gänzlich unberechtigte ist, da er sich kein Vergehen hat zuschulden kommen lassen. Der Priester scheint ihn also nicht seiner Schuld wegen zu bestrafen, sondern aus einem inneren Bedürfnis heraus, dem Bedürfnis nach Macht und Unterwerfung anderer. Zu Unrecht nennt er Stephen, der unter die Besten der Schule zählt, einen „lazy idle little loafer“, einen Faulenzer und Tunichtgut, der sich angeblich vor der Arbeit drücke. Stephen empfindet diese tiefe Ungerechtigkeit und beginnt das erste Mal in seinem Leben, die Autorität der Lehrer und der Priester in Frage zu stellen: It was unfair and cruel because the doctor had told him not to read without glasses and he had written home to his father that morning to send him a new pair. And Father Arnall had said that he need not study till the new glasses came. Then to be called a schemer before the class and to be pandied when he always got the card for first or second and was the leader of the Yorkists! (…) It was cruel and unfair to make him kneel in the middle of the class then. (…) The prefect of studies was a priest but that was cruel and unfair. And his whitegrey face and the nocoloured eyes behind the steelrimmed spectacles were cruel looking because he had steadied the hand first with his firm soft fingers and that was to hit it better and louder. (P, S.43).

Der Priester korrigiert Stephens Handhaltung, damit der Schlag ihn härter und lauter treffe und lässt somit vermuten, dass ihn auch sad*stische Motive in seinem Handeln antreiben. Auffällig ist zudem, dass seine eigenen Finger „soft“, also weich, sind, da er keine handwerklichen Arbeiten verrichten muss und seinerseits nicht der Züchtigung durch andere unterworfen ist. Mit seiner Strafe allerdings entstellt er die Hände Stephens und fügt ihnen sinnbildlich Stigmata zu. Stephen erinnert somit in 175

mehrfacher Hinsicht an Jesus Christus, zum einen wegen der verunstalteten Hände, zum anderen da er als Rebell und als Märtyrer auftritt, der sich gegen die Dogmen der Kirche auflehnt, um zu einem eigenen Glauben zu finden. Bereits der Anblick Father Dolans bereitet den Schülern Unbehagen, sein Verhalten aber beweist, dass er ein Vertreter der Hölle ist, die Stephen im dritten Kapitel des Buches in Gestalt der Exerzitienwoche entgegen tritt.

3.3.3 Sexualität als Stachel der Sünde Im zweiten Kapitel erwacht die Sexualität Stephens, die von nun an Teil seiner Selbstmarter sein wird. Auch sie ist zunächst literarisch motiviert, denkt der junge Schüler doch immer häufiger an die schöne Mercedes, die Verlobte des Grafen Monte Cristo aus dem gleichnamigen Roman von Alexandre Dumas dem Älteren. Seine erstmals dem weiblichen Geschlecht zugewandten Gedanken können hier als Ausdruck eines neu aufkommenden Verlangens und einer Sehnsucht, aber auch als Ausdruck seiner Lebenslust gewertet werden. Zu gleicher Zeit bemerkt er an sich allerdings eine gewisse Andersartigkeit, die ihn von seinen Mitschülern unterscheidet: He returned to Mercedes and, as he brooded upon her image, a strange unrest crept into his blood. Sometimes a fever gathered within him and led him to rove alone in the evening along the quiet avenue. The peace of the gardens and the kindly lights in the windows poured a tender influence into his restless heart. The noise of children at play annoyed him and their silly voices made him feel, even more keenly than he had felt at Clongowes, that he was different from others. He did not want to play. He wanted to meet in the real world the unsubstantial image which his soul so constantly beheld. (…) They would be alone, surrounded by darkness and silence: and in that moment of supreme tenderness he would be transfigured. (P, S.54).

Der Gedanke an Mercedes lässt Stephen fiebrig werden, als sei er mit einer unheilbaren Krankheit infiziert. Ähnlich wie im Doktor Faustus fungiert die Infektion durch ein geliebtes Wesen als Stimulus für Inspiration. Durch sein sexuelles Verlangen und seine Sehnsucht nach Liebe entfremdet sich Stephen seinen Klassenkameraden und wird, wie auch Adrian Leverkühn, ein intellektuell hoch fähiger, aber zurückgezogener Kauz. Seine Vision ist in mehrfacher Hinsicht eine Vorwegnahme des weiteren Romangeschehens. Zum einen spielt sie auf die Begegnung mit der gleichaltrigen Emma an, die Stephen im Stillen verehrt, zum anderen auf das Kapitelende, wo er das erste Mal von einer Frau, einer Prostituierten, verführt wird. Des Weiteren gibt seine Vision aber auch einen Vorausblick auf die Erscheinung am Meer, das junge Mädchen, das vogelähnliche Züge trägt und ihn an seine künstlerische Berufung gemahnt. All diese Begegnungen scheinen Stephen in transzendente Gefilde zu führen. Sie befreien ihn von gesellschaftlichen Zwängen und Konventionen und zeigen ihm, was er wirklich in seinem Leben erreichen will. Sie bestimmen 176

somit seine Zukunft und lassen diese hoffnungsfroh und sinnhaft erscheinen. Überdies stehen die Begegnungen mit einer Art mythischen Vergangenheit in Verbindung, wie die Beschreibung der gemeinsamen Heimfahrt mit Emma verdeutlicht. Stephen steht dabei auf der oberen Stufe des Vehikels und Emma auf der unteren. Von Zeit zu Zeit allerdings steigt sie zu ihm auf die obere Stufe, um ihm somit näher zu sein. Stephen spürt, dass dieses Werben umeinander den Geschichtslauf von Beginn der Zeit an bestimmt haben muss: „His heart danced upon her movement like a cork upon a tide. He heard what her eyes said to him from beneath their cowl and knew that in some dim past, whether in life or in revery, he had heard their tale before.“ (P, S.58). Er erinnert sich an seine Kindheitsliebe Eileen, und wie auch sie, ähnlich Emma, kokettiert hatte. Was Joyce hier vor dem Leser ausbreitet und was Stephen nur allzu bewusst wird, ist der Mythos der Verführung, das erotische Spiel zwischen Mann und Frau, welches zu allen Zeiten praktiziert wurde und Stephen ein weiteres Mal seine mythische Rolle vor Augen führt. Aufgrund der Erkenntnis, welche Stephen im Verlauf dieser Heimfahrt erlangt, spricht Tindall denn auch von Emma als von Stephens Beatrice.347 Das mythische Bewusstsein, das Stephen während dieser Begegnungen anweht, erinnert an die Erfahrungen Hans Castorps, der sich ebenfalls seiner mythischen Rolle bewusst zu sein scheint, und dem persönliches „Regieren“ und Selbstfindung bei weitem wichtiger erscheinen, als das sich Einfügen in eine verbohrte und festgefahrene Gesellschaftsordnung. Auch er geht in den mythischen Spuren seiner Vorfahren, wie die tiefe Achtung, die er seinem Großvater gegenüber hegt, belegt. Stephen wird im weiteren Verlauf des Romans ebenfalls mit seinem Großvater konfrontiert. Sein prahlerischer Vater nimmt ihn mit auf einen Ausflug in seine Heimatstadt Cork, wo er in einer Kneipe den Umstehenden von seinem Vater berichtet. Er brüstet sich mit dessen Schönheit und dass die Frauen ihm einst hinterher gesehen hätten. Anders als Hans Castorp fühlt sich Stephen abgestoßen von dem nostalgischen Schwelgen des Vaters, der den eigenen Vater heroisiert und somit die eigene Persönlichkeit unter den Scheffel stellt. Er tut es im Weiteren nicht etwa dem Vater gleich, sondern reagiert mit einer gänzlichen Abwendung vom Elternhaus. Um sich selber zu finden, muss er zunächst die Nabelschnur, die ihn an seine Eltern bindet, durchtrennen und sich seines eigenen Standpunktes in der Welt bewusst werden: The sunlight breaking suddenly on his sight turned the sky and clouds into a fantastic world of sombre masses with lakelike spaces of dark rosy light. His very brain was sick and powerless. (…) By his monstrous way of life he seemed to have put himself beyond the limits of reality. Nothing moved him or spoke to him from the real world unless he heard in it an echo of the infuriated cries within him. He could respond to no earthly or human appeal, dumb and insensible to the call of summer and gladness and companionship, wearied and Vgl. W.Y. Tindall. „Dante and Mrs Bloom“ In: Accent. A Quarterly of New Literature 11/12. 1951. S.138.

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dejected by his father's voice. He could scarcely recognise as his his own thoughts, and repeated slowly to himself: - I am Stephen Dedalus. I am walking beside my father whose name is Simon Dedalus. We are in Cork, in Ireland. Cork is a city. Our room is in the Victoria Hotel. Victoria and Stephen and Simon. Simon and Stephen and Victoria. Names.

Einerseits scheint Stephen der „real world“, der tatsächlichen Realität entfliehen zu wollen und taucht in eine mythische und imaginäre Welt ein, andererseits aber versucht er diese beiden Welten miteinander zu verbinden und in Einklang zu bringen, etwa wenn er sein Idealbild der Frau, Mercedes, in der wirklichen Welt treffen möchte. Stephen fungiert somit als Mittler zwischen zwei Welten, der realen, sinnlich erfahrbaren, und der Welt der Spiritualität. Dass er die Welt nicht allein mit seinem Geist, sondern auch mit seinen Sinnen zu erfahren sucht, nähert den Roman an die Tradition des Bildungsromans an, da auch dort die Entwicklung des Helden anhand seiner sinnlichen Erfahrungen im Leben nachvollzogen wird. 348 Mit seinem aufkommenden Interesse an Frauen und an Sexualität, das auch mit Masturbation und der Entdeckung des eigenen Körpers einhergeht, plagen Stephen Gewissensbisse. Sein sündiger Lebenswandel quält ihn derart, dass er über Parnells, aber auch über den eigenen Tod ins Grübeln gerät. Er rekapituliert seine einst unschuldige Kindheit und wird sich bewusst, dass diese unwiederbringlich verloren ist: „But he had not died then (…) but he had faded out like a film in the sun. He had been lost or had wandered out of existence for he no longer existed.“ (P, S.78). Mit dem Verlust der unschuldigen Kindheit überfällt Stephen das Gefühl, seine Existenz sei bedroht, da er nun nicht mehr auf vorgegebenen Pfaden wandelt, sondern sich langsam aber sicher von dem ihm zugewiesenen Weg entfernt. Seine Persönlichkeit und Individualität scheinen mit seinen Erinnerungen zu verblassen, jedoch realisiert er zu diesem Zeitpunkt noch nicht, dass sie lediglich im Wandel begriffen sind. An die Stelle des stillen Gehorsams und der Gefügigkeit, tritt Stephens Verlangen nach einem neuen, sexuell aktiven Leben: „Nothing stirred within his soul but a cold and cruel and loveless lust. His childhood was dead or lost and with it his soul capable of simple joys, and he was drifting amid life like the barren shell of the moon.“ (P, S.80). Hier klingt zum ersten Mal ein hermetisches Motiv an, wenn man bedenkt, dass Hermes auch eine Mondgottheit, oder wie Naphta es im Zauberberg formuliert, eine Affengottheit ist. Manfred Dierks betont, dass der Mond hier in seiner Vermittler-Funktion, also nach der Vorstellung Bachofens, zu verstehen sei.349 Er fungiert als verbindendes Element zwischen Mann und Frau, aber auch zwischen Körper und Geist. Noch überwiegt in Stephen allerdings das körperliche Verlangen nach Nähe und so läuft er, von Vgl. hierzu auch Breon Mitchell. „A Portrait and the Bildungsroman Tradition“ In: Thomas Staley; Bernhard Benstock (Hrsg.). Approaches to James Joyces Portrait. Ten Essays. University of Pittsburgh Press. Pittsburgh. 1976. S.62ff. 349 Vgl. Manfred Dierks. Studien zu Mythos und Psychologie bei Thomas Mann. S.220f. 348

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seiner Lust angestachelt, durch die Straßen Dublins. Seine Verzweiflung steigert sich derart, dass er ihr mit einem Schrei Luft verschaffen muss. „It broke from him like a wail of despair from a hell of sufferers and died in a wail of furious entreaty, a cry for an iniquitous abandonment, a cry which was but the echo of an obscene scrawl which he had read on the oozing wall of a urinal.“ (P, S.84). Stephen leidet in seiner Askese höllische Qualen und empfindet die Tabuisierung des Körpers und der Sexualität als regelrechte Marter. Allerdings erfährt er bald die ersehnte Erlösung von seiner bisherigen Abstinenz, denn eine Prostituierte spricht ihn an und nimmt ihn mit auf ihr Zimmer. Sie führt ihn, wie einst Esmeralda Adrian Leverkühn, in eine fremde Welt, welcher der Realität zuwider zu laufen scheint: He closed his eyes, surrendering himself to her, body and mind, conscious of nothing in the world but the dark pressure of her softly parting lips. They pressed upon his brain as upon his lips as though they were the vehicle of a vague speech; and between them he felt an unknown and timid pressure, darker than the swoon of sin, softer than sound or odour. (P, S.85).

Ein weiteres Mal taucht der junge Stephen, diesmal mithilfe der Körperlichkeit, in seine eigene, seine innere Welt ab, und wirft alle Zwänge und Tabus des kleinbürgerlichen und streng gläubigen Irlands von sich. Mehrfach wird der Begriff „dark pressure“ verwendet. Auf Stephens Geist wird ein Druck ausgeübt, als handele es sich um eine zweite Geburt, was die „softly parting lips“ zu einem ambivalenten Ausdruck werden lässt. Sie können sowohl als Ausdruck des Eindringens Stephens gelesen werden, als auch als Geburtsakt, der ihm den Weg in die Welt und in die Realität ermöglicht. Stephen scheint somit eine zweifache Entwicklung durchzumachen. Zum einen entzieht er sich der Welt, zum anderen aber sucht er einen Zugang zu ihr. Wieder treffen „real world“, also die sinnlich erfahrbare Realität, und seine geistige Zurückgezogenheit aufeinander. Folgt man der Argumentation Sigmund Freuds, kann der Geschlechtsakt zudem als Wunsch gedeutet werden, wieder in die Behaglichkeit und den Schutz des Mutterleibes einzudringen, um der Realität zu entfliehen. Da Stephen die reale Welt jedoch auch zu erfahren sucht - schon auf den ersten Seiten experimentiert er mit seinen körperlichen Sinnen - scheint eine Freudsche Deutung hier nur wenig Sinn zu machen. Die Begegnung mit der Prostituierten stillt Stephens Bedürfnis nach Körperlichkeit, aber sie erfüllt auch noch eine weitere Funktion. Sie bietet Stephen einen vorübergehenden Ersatz für seine Elternlosigkeit. Wenn Stephen sich nach den Armen der Fremden sehnt, dann sehnt er sich auch nach dem Ersatz der leiblichen Mutter, die für den heranreifenden jungen Mann immer mehr verblasst.350 Zwar lernt er auf eigenen Beinen zu stehen, dennoch ist er nicht vollkommen Vgl. auch Moris Beja. James Joyce's Dubliners and A Portrait of the Artist. A Casebook. Macmillan Press. London. 1973. S.95. 350

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selbständig. Er bedarf noch bestimmter Stützen und Parameter, um sich in der Welt zurechtzufinden. Wie Eila Rantonen treffend bemerkt, handelt es sich bei dem Geschlechtsakt Stephens dennoch um eine Art „initiation to manhood“ sowie seine erste Erfahrung mit der Sünde.351 Die Frau fungiert also, wie einst im Garten Eden, als Versucherin, welche Stephen in das Reich der Sünde einführt. Das Motiv der Sünde wird im folgenden Romanverlauf immer wieder aufgegriffen. Hugh Kenner stellt fest, dass das anschließende dritte Kapitel des Portraits die sieben Todsünden zum zentralen Motiv hat.352 Auch Mary T. Reynolds bezeichnet das Kapitel als „infernal“, denn es handelt sich um den dramatischen Höhepunkt des Romans. Nach seiner ersten, durchaus positiven, Erfahrung mit einer Prostituierten, kann Stephen nicht von seinem sexuellen „Laster“ ablassen und wird weiterhin von Gewissensbissen geplagt, die einen reichhaltigen Nährboden für die Höllenpredigt Father Arnalls bieten: „He had sinned mortally not once but many times and he knew that, while he stood in danger of eternal damnation for the first sin alone, by every succeeding sin he multiplied his guilt and his punishment. His days and works and thoughts could make no atonement for him, the fountains of sanctifying grace having ceased to refresh his soul.“ (P, S.87). Stephen redet sich ein, dass die Schwere und die Häufigkeit seiner Sünden jede Hoffnung auf Läuterung oder Gnade zunichte machen. Selbst ohne die harschen Predigten des Priesters begibt er sich in eine Art Teufelskreis der Selbstkasteiung. David Seed geht sogar so weit zu schließen, dass Stephen sich als rebellierender Satan nach dem literarischen Vorbild Miltons inszeniert: „From an early stage in Chapter Three Miltonic allusions alert us to the fact that Stephen is casting himself as Satan the proud sinful rebel.“353 Stephen geriert sich hier als infernalen Rebellen, was umso paradoxer wirkt, wenn man bedenkt, dass er sich der Kirche im Folgenden unterwirft. Er beichtet und vertieft sich in das Studium der Bibel, vielleicht um seine Verdammung umso tiefer zu spüren. Es scheint, als trieben ihn masoch*stische Beweggründe, wenn er sündigt, um sich die Sünde und seinen „Fall from Grace“ nur umso bewusster zu machen. Er ruft sich vor Augen, wie seine körperliche Unzucht seine Seele mästet und verdirbt: „He ate his dinner with surly appetite and, when the meal was over and the greasestrewn plates lay abandoned on the table, he rose and went to the window, clearing the thick scum from his mouth with his tongue and licking it from his lips. So he had sunk to the state of a beast that licks his chaps after meat. This was the end.“ (P, S.94). Eila Rantonen. „A Portrait of the Artist as a Sinning Young Man“ In: Clive Hart (Hrsg.) Images of Joyce Bd.2. 1998. S.469. 352 Hugh Kenner. „The Portrait in Perspective“ In: Mark A. Wollaeger (Hrsg.). James Joyce's A Portrait of the Artist as a Young Man. A Casebook. Oxford University Press. Oxford. 2003. S.47/48. 353 David Seed. James Joyce's A Portrait of the Artist as a Young Man. New York. Harvester Wheatsheaf. 1992. S.62. 351

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3.3.4 „Besinnung“ auf die Grausamkeit der Hölle Bereits einen Tag später rückt die Realität des Todes und der Sterblichkeit dem jungen Schüler zuleibe, wenn Stephen seinen eigenen imaginären Tod durchlebt. „The hoarse voice of the preacher blew death into his soul.“ (P, S.94). Die „retreat“, welche die Schüler erwartet, setzt sich vor allem mit eschatologischen Fragestellungen auseinander, insbesondere damit, was sündhafte Menschen nach ihrem Tod erwartet. Noch bevor die eigentliche Predigt Father Arnalls beginnt, durchlebt Stephen im Geiste seinen körperlichen Tod bis ins Detail, sodass seine Seele vor das Letzte Gericht treten muss: „He himself, his body to which he had yielded was dying. Into the grave with it! Nail it down into a wooden box, the corpse. (…) The body had died and the soul stood terrified before the judgementseat.“ (P, S.94). Interessant an dieser Passage ist vor allem der Stil, den Joyce verwendet. Es scheint, als handele es sich um eine indirekte Wiedergabe der Predigt durch Stephen. Somit aber liegt dem Leser ein subjektiv gebrochener Bericht vor, dessen Authentizität stark zu bezweifeln ist. Die Predigt, welche Thrane zufolge auf einer im Jahre 1688 tatsächlich in Bologna gehaltenen Predigt basiert,354 könnte ebenso gut von Stephen verändert oder übertrieben worden sein. 355 Die abtrünnige Seele, welche in der Predigt beschrieben wird, scheint Stephen ein Ebenbild seiner eigenen Seele darzustellen: „He would reward the good and punish the wicked. (…) The particular judgement was over and the soul had passed to the abode of bliss or to the prison of purgatory or had been hurled howling into hell.“ (P, S.95). Stephen sieht seine Seele aufgrund ihrer Sündhaftigkeit schon jetzt in der Hölle schmoren und vernimmt mit Grauen die Beschreibung des Doomsday, an dem der Erzengel Michael mit seinen himmlischen Heerscharen über die Sünder herfällt. Das Ende der Welt geht mit einem Ende der Zeit einher: „Time is, time was, but time shall be no more.“ (P, S.95). Der literarischen Tradition der Katabasis gemäß ist hier also eine Auflösung der Zeit zu beobachten, die Father Arnall besonders dazu dient, die Ewigkeit und die Unermesslichkeit der Hölle zu veranschaulichen. Stephen lauscht wie gebannt, da er den Eindruck hat, jedes einzelne Wort sei einzig und allein ihm bestimmt: „Every word of it was for him. Against his sin, foul and secret, the whole wrath of God was aimed.“ (P, S.97). Dass Stephen sich als einziger Sünder fühlt, zeigt seinen Egozentrismus und seinen Glauben daran, dass er anders sei als die anderen, eine Art Auserwählter. Die Erinnerung an seine körperlichen Sünden kommt ihm aufs Neue ins Gedächtnis und wird zum ersten Mal im Roman näher beschrieben. Stephen hat masturbiert, er hat mit Prostituierten geschlafen und er hat anzügliche Briefe geschrieben, die er anschließend in Parks und Straßen hat liegen lassen, in der Vgl. James R. Thrane. „Joyce's Sermon on Hell: Its Source and its Backgrounds“ In: Modern Philology 57. 1960. S.173ff. 355 Vgl. David Seed. James Joyce's A Portrait of the Artist as a Young Man. S.67. 354

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Hoffnung, dass ein junges Mädchen sie finden und lesen möge. Diese Niederschrift seiner Wünsche und seiner Phantasie stellt einen weiteren Beweis für die Einsamkeit des jungen Mannes dar. Zugleich ist er von der Hoffnung beseelt, dass er in seiner Sündhaftigkeit nicht alleine dastünde, sondern dass auch andere seines Alters es ihm gleichtäten oder sein Handeln zumindest nachvollziehen könnten. In einem gewissen Maße ist er auch stolz auf seine Andersartigkeit, was ihn wiederum in eine charakterliche Nähe zum Höllenfürst Luzifer rückt, der in der Predigt Father Arnalls auch erwähnt wird: Lucifer, we are told, was a son of the morning, a radiant and mighty angel, yet he fell: he fell and there fell with him a third part of the host of heaven: he fell and was hurled with his rebellious angels into hell. What his sin was we cannot say. Theologians consider that it was the sin of pride, the sinful thought conceived in an instant: non serviam: I will not serve. That instant was his ruin. He offended the majesty of God by the sinful thought of one instant and God cast him out of heaven into hell for ever. (P, S.99).

Auch Stephen ist stolz und auch er verweigert seinen Eltern sowie der Kirche den Gehorsam. Stephen trägt somit luziferische Züge und es scheint, als nehme er diese Rolle in vollem Bewusstsein an. Er ist sich der Sünde des gefallenen Engels vollauf bewusst und wandelt dennoch in dessen Spuren. Auch das Motiv des Falls, welches schon in „Grace“ anklingt, wird wieder aufgenommen und auf den jungen Protagonisten angewandt. Somit gleicht er zum einen Luzifer, zum anderen aber auch den ersten Menschen, Adam und Eva. Denn auch sie fallen und werden des Paradieses verwiesen, nachdem Luzifer sie in Form einer Schlange zum Genuss vom verbotenen Baum verführt hatte. Der Fall der beiden ist in vielfacher Hinsicht mit dem Stephens vergleichbar, denn auch sie sind ungehorsam, da ihnen tieferes Wissen und Verständnis verheißen wird. Die Schlange flüstert ihnen ein, dass sie, wenn sie von der verbotenen Frucht äßen, seien wie Gott, wissend über Gut und Böse. Diese Aussicht auf Erkenntnis und göttliches Wissen, auch göttlicher Macht, ist es, welche Adam und Eva in den Apfel beißen lässt und sie zu Fall bringt. Stephen nun wird von ganz ähnlichen Motiven getrieben. Auch er möchte ein tieferes Verständnis von der Welt erlangen, er möchte Geistigkeit und Körperlichkeit erfahren und somit ein alles umfassendes Leben führen, welches zu einem tieferen Verständnis der Gegensätze, aber auch des Menschen an sich führt. In dieser Hinsicht muss die Neugier, die Wissbegier, als Antriebsfeder für den Fall des jungen Mannes gelten. Im weiteren Verlauf der Predigt vollzieht sich ein Stilbruch, da nun wieder Father Arnall und nicht Stephen selber das Wort ergreift. Es geht, ähnlich wie im Teufelsgespräch des Doktor Faustus, um die Beschaffenheit der Hölle. Wie nach wenigen Seiten deutlich wird, spricht diese Beschreibung zunächst alle körperlichen Sinne des Menschen an, um größtmöglichen Schmerz zu erreichen. 356 Vgl. Joseph Campbell. Mythic Worlds. Modern Words. On the Art of James Joyce. New World Library. Novato. 2004. S.37. 356

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„Hell is a strait and dark and foulsmelling prison,“ beginnt der Priester seine Ausführungen und gibt somit einen ersten Gesamteindruck der jesuitisch inspirierten Hölle, worauf ihre konkrete Beschaffenheit folgt. Zunächst einmal ist die Hölle von „exterior darkness“ geprägt, betrifft also den visuellen Sinn des Menschen. Dieser muss die Höllenqualen in ewiger Dunkelheit ertragen, in einem „neverending storm of darkness, dark flames and dark smoke of burning brimstone, amid which the bodies are heaped one upon another without even a glimpse of air.“ (P, S.101). Die nächste Eigenschaft betrifft den Geruchssinn, da die Verdammten einem „awful stench“, also einem grauenhaften Gestank, ausgesetzt sind: „All the filth of the world, all the offal and scum of the world, we are told, shall run there as to a vast reeking sewer when the terrible conflagration of the last day has purged the world. Schließlich folgt der Tastsinn, der durch die Qualen des brennend heißen Feuers angesprochen wird. „The torment of fire“ ist die schmerzhafteste der drei Strafen, da das Höllenfeuer von anderer Qualität als das irdische Feuer ist und da es ewig und unerbitterlich brennt, „boundless, shoreless, bottomless.“ (P, S.102). Jeder Sinn des menschlichen Körpers wird somit gequält: „Every sense of the flesh is tortured and every faculty of the soul therewith: the eyes with impenetrable utter darkness, the nose with noisome odours, the ears with yells and howls and execrations, the taste with foul matter, leprous corruption, nameless suffocating filth, the touch with redhot goads and spikes, with cruel tongues of flame.“ (P, S.102/103). Zu diesen die Sinne betreffenden Qualen gesellen sich allerdings noch zwei weitere körperliche Leiden. Denn die Strafen werden durch die Anwesenheit der anderen Gequälten unerträglich gemacht, da es zwischen ihnen nichts Menschliches mehr gibt. Jeder ist sich selbst der Nächste und „all sense of humanity is forgotten.“ (P, S.103). „The damned howl and scream at one another, their torture and rage intensified by the presence of beings tortured and raging like themselves.“ Hinzu kommt schließlich die Anwesenheit der Teufel selber, welche die Insassen der Hölle stetig quälen: „Last of all consider the frightful torment to those damned souls, tempters and tempted alike, of the company of the devils.“ (P, S.103). Die extreme Enge wird also durch die Art der Gesellschaft, der Marternden und der Gemarterten noch unerträglicher, sodass nicht mehr von einem sozialen oder humanen Ort, sondern lediglich von einem Ort der Qual und der Inhumanität die Rede sein kann. Die Predigt Father Arnalls kann als Höhepunkt und auch als „ethical core of the book“357 angesehen werden. Sie kommt einer „epiphany of hell“ gleich, 358 welche enormen Einfluss auf den jungen Stephen ausübt. Dieser nämlich zeigt zunächst körperliche Anzeichen von Schwäche sowie regelrechte Krankheitssymptome, „his legs shaking and the scalp of his head trembling as though it had been touched by ghostly fingers (…) His flesh shrank together as it felt the approach of the Harry Levin. „The Artist“ In: Morris Beja (Hrsg.). James Joyce. Dubliners and A Portrait of the Artist as a Young Man. A Casebook. Macmillan Press. London. 1973. S.95. 358 Morris Beja. Epiphany in the Modern Novel. Owen Press. London. 1971. S.97. 357

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ravenous tongues of flames (…) He had died. Yes. He was judged. A wave of fire swept through his body … - Hell! Hell! Hell! Hell! Hell!“ (P, S.105). Die zunächst körperlichen Beschwerden greifen beinahe nahtlos in psychische über, wenn Stephen beginnt, Stimmen zu hören und visuelle Erscheinungen zu halluzinieren. Wie Grant Redford ausführt, entspricht die Länge der Predigt folglich dem Effekt, den sie auf Stephen ausübt.359 Die eigentlichen Höllenqualen verdankt er den Bildern, die in seinem Kopf ablaufen: „his greatest torments come from images, images of the tortures of the damned in Hell. His pangs of rejected adolescent love, his feelings of shame and humiliation, are reproduced principally in this manner.“ 360 Allerdings scheint Stephen weniger von dem Bild der übrigen Verdammten zu erschrecken, als von der Aussicht, selber einer der Verdammten zu sein. Denn die Gestalten, welche seine Vision prägen, sind speziell auf ihn zugeschnitten und entsprechen somit den Insassen seiner ganz persönlichen Hölle. Was sprachlich besonders ins Auge fällt, ist die stetige Verwendung des Feuer-Motives. Wenn Stephens Gehirn von Feuerwellen überschwemmt wird, so erinnert dies auch an die Illumination Adrian Leverkühns im Doktor Faustus. Die hier verwandte pathologische Terminologie scheint also auf eine Art Erhöhung Stephens bzw. auf eine tiefgreifende Erkenntnis hinzuweisen. Sie taucht zudem wieder während Stephens künstlerischer Vision auf, wo er einem reinen und unberührten „bird-girl“ begegnet. Die Symptome lassen erst nach, nachdem Stephen mehrfach von seinen Mitschülern angesprochen wird. Das Vernehmen ihrer Stimmen entreißt ihn seiner höllischen Vision und holt ihn wieder in die Realität zurück. Wenig später findet die jesuitische „retreat“ ihre Fortsetzung und Stephen ist den Worten des Priesters ein weiteres Mal ausgeliefert. Nun berichtet dieser nicht mehr von den körperlichen, sondern von den seelischen Qualen, welche die Sünder erdulden müssen, die „spiritual pains.“ Zunächst empfinden die Höllenbewohner „the pain of loss“, die Qual des Verlustes und der Gottesferne. Zudem plagt sie „the pain of conscience“, also das stetig schlechte Gewissen und das Bewusstsein der Seelenfäulnis durch die begangenen Sünden. Die dritte Marter ergibt sich aus der Potenzierung der Qualen, „the pain of extension“, denn die Schmerzen verstärken einander gegenseitig und steigen somit ins Unermessliche. Dann folgt die Erläuterung des „pain of intensity“, der sich daraus ergibt, dass die Hölle das Zentrum allen Bösen ist und Dinge, respektive die Schmerzen der Sünder, in ihrem Zentrum stets dichter und intensiver sind als am Rand. Last but not least geht Father Arnall auf die Ewigkeit der Hölle ein, welche er metaphorisch untermauert. Die Schmerzen der Verdammten sind also nicht nur unsagbar groß, sondern dauern auch bis in alle Ewigkeit an. Grant H. Redford. „The Role of Structure in Joyce's Portrait“. Modern Fiction Studies 4. 1958/59. S.24. James T. Farrell. „Joyce's A Portrait of the Artist as a Young Man“ In: Seon Givens (Hrsg.). James Joyce: Two Decades of Criticism. Vanguard Press. New York. 1963. S.187. 359 360

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Parrinder vermutet, dass Joyce die Predigt Father Arnalls derart ausführlich gestaltet hat, „to expose the contradictions and absurdity of the traditional view of the terrors of hell.“ Dem Leser soll das geschilderte Horrorszenario die Absurdität und Grausamkeit der kirchlichen Dogmen vor Augen führen, damit er gegen sie immun werde. 361 Auf Stephen jedoch hat die Predigt die gegenteilige Wirkung. Seine unsägliche Angst vor der beschriebenen Hölle zeigt auch über die Dauer der Predigt hinaus Nachwirkungen. Als er auf sein Zimmer gehen möchte, fürchtet er dieses und kann sich kaum überwinden, den Schritt zu tun, auch da er dann mit sich selbst und mit seinen Ängsten alleine wäre: „He told himself that it was simply his room with the door open.“ (P, S.115). Es scheint hier, als müsse Stephen sich überzeugen, dass ihn hinter seiner Zimmertüre noch nicht das ewige Höllenfeuer erwartet, dass sie folglich keine Höllenpforte ist, sondern lediglich eine ganz normale Tür. Hélène Cixous hat folglich völlig recht, wenn sie bemerkt, dass Stephens Hölle nicht sehr weit entfernt ist, „in fact it is his room, where he has committed so many imaginary sins. And all his sins are there, describing the most terrifying and sardonic spirals.“362 Seine Gedanken kreisen stetig um die Sündhaftigkeit seines Körpers, wodurch Stephen sich in eine Art masoch*stischen Teufelskreis begibt, der aufgrund seiner spiralförmigen Beschaffenheit an das Inferno Dantes erinnert. Wie schon zuvor im Verlauf des Portrait knickt Stephen im folgenden ein weiteres Mal vor der vermeintlichen Allmacht und Autorität der katholischen Kirche ein, indem er vor seinem Bett auf die Knie niedergeht, um zu beten und zu bereuen. Er hofft, durch diese private Buße geläutert zu werden, muss allerdings einsehen, dass er vorübergehend des aufrichtigen Gebets nicht mehr fähig ist: to be alone with his soul, to examine his conscience, to meet his sins face to face, to recall their times and manners and circ*mstances, to weep over them. He could not weep. He could not summon them to his memory. He felt only an ache of soul and body, his whole being, memory, will, understanding, flesh, benumbed and weary. That was the work of devils, to scatter his thoughts and overcloud his conscience, assailing him at the gates of the cowardly and sincorrupted flesh. (P, S.115).

Die Unfähigkeit, Kontakt zu Gott aufzunehmen und sich diesem anzuvertrauen, verdeutlicht Stephens allmählichen Bruch mit der katholischen Kirche und einen weiteren Schritt in Richtung einer Befreiung von ihren Dogmen: „Paradoxically, the violence which has been done to the young man's imagination is the final step in its liberation, for the artist who has passed through the delirium and confusion can find beyond them another limitless reality. (…) After the descent into hell, the boundaries disappear. Now there is no limit between reality and dream.“ 363 Patrick Parrinder. „A Portrait of the Artist“ In: Mark A. Wollaeger (Hrsg.). James Joyce's A Portrait of the Artist as a Young Man. A Casebook. Oxford University Press. Oxford. 2003. S.112. 362 Hélène Cixous. „The Style of the Troubled Conscience“ In: Mark A. Wollaeger (Hrsg.). James Joyce's A Portrait of the Artist as a Young Man. A Casebook. Oxford University Press. Oxford. 2003. S.79. 363 Ebd. S.81. 361

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Die endgültige Befreiung von den Zwängen der Religion und der Gesellschaft erfolgt allerdings erst gegen Ende des Romans. Zunächst muss Stephen seine ganz persönliche, internalisierte Hölle durchschreiten, wie sich auf den kommenden Seiten zeigt. Denn obwohl er sich redlich bemüht, seine Vision abzuwenden, wird er von den Bildern in seinem Kopf überwältigt: He saw. A field of stiff weeds and thistles and tufted nettlebunches. Thick among the tufts of rank stiff growth lay battered canisters and clots and coils of solid excrement. (…) Creatures were in the field; one, three, six: creatures with human faces, hornybrowed, lightly bearded and grey as indiarubber. The malice of evil glittered in their hard eyes, as they moved hither and thither, trailing their long tails behind them. (…) They moved in slow circles, circling closer and closer to enclose, to enclose, soft language issuing from their lips, their long swishing tails besmeared with stale sh*te, thrusting upwards their terrific faces … (P, S.116).

Stephens körperliche Reaktion auf diese Vision ist unerwartet extrem. Er reißt sich die Bettdecke vom Leib, um zum Fenster zu stürzen und sich kurz darauf an seinem Waschtisch heftig zu übergeben. Von Krämpfen geschüttelt, wird ihm bewusst, dass diese Vision die Hölle ist, die Gott für ihn bereit hält, sollte er seinen Lebenswandel nicht ändern: „This was his hell. God had allowed him to see the hell reserved for his sins: stinking, bestial, malignant, a hell of lecherous goatish fiends. For him! For him!“ (P, S.116). Die Traumvision, die der Höllenpredigt Father Arnalls durchaus ähnelt und stark von dieser geprägt ist, greift also auf Stephens körperliches Befinden über. Wie Hartmut Mietzner betont, übertrifft die Vision sogar noch die Grausamkeit der Höllenschilderungen des Priesters, da sie Stephens Moral mit einbezieht. 364 Nicht nur die Sexualität hält seinen Körper in ihrem Bann, sondern auch sein Gewissen. Insofern steht dieses dritte Kapitel des Romans unter einem körperlichen Vorzeichen, da Stephen nicht vermag, ein Gleichgewicht zwischen Körper und Geist zu erzeugen, sondern lediglich ersterem zu gehorchen. Wenig später hat Stephen seine geistigen Fähigkeiten wieder soweit beisammen, dass er über das Phänomen seiner Lust nachdenken kann. Er bleibt dabei in der biblischen Metaphorik verhaftet, wenn er sie mit einer perfiden Schlange vergleicht: „The serpent, the most subtle beast of the field. It must understand when it desires in one instant, sinfully. It feels and understands and desires. What a horrible thing! Who made it to be like that, a bestial part of the body able to understand bestially and desire bestially?“ (P, S.117). Stephen reflektiert hier die tierische Natur des männlichen Phallus, der ein selbständiger Körperteil zu sein scheint, das unmittelbar auf äußere Reize reagiert und Begehren verursacht. Er betont mehrfach, dass dies „bestial“, viehisch, aber gewiss nicht menschlich sei. Stephen wird sich also der körperlichen, tierischen Natur des Menschen bewusst, vermag diese aber immer noch nicht in ihrer Naturhaftigkeit als Teil des Vgl. Hartmut Mietzner. Immanenz und Transzendenz in Joyces „A Portrait“ und „Ulysses“ Lang Verlag. Frankfurt a.M. 1978. S.116. 364

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menschlichen Wesens zu akzeptieren. Wenn er den Phallus mit einer Schlange vergleicht, dann rückt er ihn auch in die Nähe des Teufels und verurteilt ihn als schlechten und falschen Teil seines Körpers. Denn in Gestalt einer Schlange ist der Teufel in den Garten Eden eingedrungen, um Adam und Eva zum Sündenfall zu verführen. Allerdings ist der Phallus darüber hinaus ein Symbol der Rebellion seines Körpers, der auf seine Sinnlichkeit und Empfänglichkeit für Lust und Sexualität besteht: „His metaphor for sensory authority and for rebellious uprising is his penis, which serves as an intimate embodiment of Lucifer and of the romantic poets.“365 Joyce setzt sich in seinem Roman also nicht nur mit der Religion auseinander, sondern auch mit der literarischen und künstlerischen Tradition der Romantik, welche den Künstler als einen Auserwählten ansah, der in seinen Werken tiefgreifende und transzendente Wahrheiten enthüllt. Zudem wurde der Künstler häufig als ein extrem sinnlicher und körperlich sensibler Typus beschrieben, der Grenzerfahrungen mit Alkohol oder bewusstseinserweiternden Drogen durchaus nicht abgeneigt gegenüberstand, wie dies vor allem in den Romanen George Moores deutlich wird. Insofern entspricht der junge Stephen schon zu diesem frühen Zeitpunkt der Figur des Künstlers, da auch er, trotz seiner Geistigkeit, ein körperlicher und sinnlicher Mensch ist. Wie Rabaté richtig anmerkt, erfährt Stephen in diesem dritten Kapitel eine regelrechte Epiphanie, da er erkennt, dass dem Leben die Vorherrschaft über die Kunst gebührt. Denn die Epiphanien Joyces „servent fondamentalement à articuler la theorie paradoxale d'une anti-theorie de l'art: elles vont toutes vers la vie, non vers l'art.“ 366

3.3.5 Der Ruf zum Leben und zur Kunst Auch im Anschluss an die „retreat“ leidet Stephen unter Gewissensqualen und beschließt, seine Sünden zu beichten. Zwar hat er auch in der Schule die Möglichkeit hierzu, allerdings schämt er sich seiner sexuellen Handlungen so sehr, dass er es nicht über sich bringt, zusammen mit den anderen bei einem ihm bekannten Pfarrer zu beichten. Er streift durch die Straßen Dublins und findet schließlich zu einer Kirche, die ihm geeignet erscheint. Während er in einer der Kirchenbänke sitzt und darauf wartet, dass die Reihe an ihn kommt, empfindet er seine Gewissensbisse auf seiner Haut, als seien es brennende Feuerflocken: „His blood began to murmur in his veins, murmuring like a sinful city summoned from its sleep to hear its doom. Little flakes of fire fell and touched him at all points, shameful thoughts, shameful words, shameful acts. Shame covered him wholly like fine glowing ashes falling continually. To say it in words! His soul, stifling Vicky Mahaffey. „Framing, Being Framed, and the Janus Faces of Authority“ In: Mark A. Wollaeger (Hrsg.). James Joyce's A Portrait of the Artist as a Young Man. A Casebook. Oxford University Press. Oxford. 2003. S.208/209. 366 Jean Michel Rabaté. James Joyce. S.18. 365

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and helpless, would cease to be.“ (P, S.119/120). Stephens höllische Qualen resultieren vor allem aus seiner Scham, die wiederum ein Produkt seiner jesuitischen Erziehung ist. Keuschheit und Unberührtheit gelten ihm noch immer als Ideal bzw. als kirchliches Dogma, welches er nicht zu hinterfragen wagt. Er gelingt ihm nicht, seinen Körper und seine Sexualität als Teil seines Wesens zu akzeptieren und folglich schämt er sich seiner Schwäche für das Fleischliche. Wie nach seiner Vision hat diese Scham physische Folgen. Er befindet sich in einer Wolke aus kleinen Ascheflammen, die seinen Körper treffen und ihm somit Schmerzen verursachen. Das Unbewusste hat hier Einfluss auf Stephens körperliches Wohlbefinden. Der Priester bestätigt ihn noch in seiner Abscheu vor der eigenen, unzüchtigen Sünde: „As long as you commit that sin (…) you will never be worth one farthing to God. (…) The devil has led you astray. Drive him back to hell when he tempts you to dishonour your body in that way.“ (P, S.122). Die Passage gemahnt stark an die biblische Textstelle zur Verdammung Sodoms und Gomorras durch Gott. Nachdem dieser sich überzeugt hat, dass nicht ein einziger der Stadtbewohner, mit Ausnahme des zugezogenen Lot und seiner Familie, rechtschaffen sei, lässt er Feuer und Schwefel auf die sündigen Städte regnen und zerstört sie. Die Parallele scheint jedoch übertrieben und nicht adäquat zu sein, da Stephen aufrichtig bereut, während die Bewohner Sodoms und Gomorras Lot und seine Familie verschmähen, ebenso wie die beiden Engel, welche von der Verdammung der Städte künden. Sie drohen sogar, ihnen (sexuelle) Gewalt anzutun. Stephen jedoch ist nicht durchweg „böse“ und erst recht nicht „böswillig“, empfindet sich aufgrund seiner erwachenden Sexualität und seines Aufbegehrens gegen die Dogmen der Kirche aber dennoch als ebenso sündhaft wie seine biblischen Vorläufer. Die Worte des Priester dringen tief und Stephen fühlt sich das erste Mal seit langer Zeit wieder fähig, ernsthaft zu beten: „He knelt to say his penance, praying in a corner of the dark nave: and his prayers ascended to heaven from his purified heart like perfume streaming upwards from a heart of white rose. The muddy streets were gay. He strode homeward, conscious of an invisible grace pervading and making light his limbs.“ (P, S.122). Die Läuterung, die Stephen hier erfährt, erinnert in mehrfacher Hinsicht an das Paradiso Dantes, in welchem Beatrice den Dichter durch die neun himmlischen Sphären führt. Stephens Gebete steigen zum Himmel auf, was einen Zugang zu göttlicher Gnade erhoffen lässt. Stephen fühlt sich erleichtert und geläutert. Er geht wie auf Wolken, da er sich mit der Vergebung seiner Sünden der Gnade Gottes würdig fühlt. Gemäß der Unstetheit in seinem Leben handelt es sich allerdings um eine zeitlich begrenzte Hochphase des jungen Protagonisten. Es scheint als schwanke Stephen von einem Extrem in das andere. Nachdem er im dritten Kapitel vor allem der Körperlichkeit, der Sexualität, gefrönt hat, wendet er sich im nächsten Kapitel völlig von dieser ab, 188

um sein Leben ganz nach der Religion und der Spiritualität auszurichten. Mary T. Reynolds schreibt, dass es sich um ein läuterndes Kapitel handelt, dass „purgatorial in tone“ sei.367 Allerdings nicht, da Stephen zum wahren Glauben finde, sondern da er seiner eigentlichen Berufung folge. Nachdem er einige Zeit lang vorbildlich lebt und allen Ansprüchen der Jesuiten gerecht wird, erhält er das Angebot, eine Ausbildung zum Priesteramt einzuschlagen. Zwar reizt ihn diese Position aufgrund ihrer Macht und ihres Ansehens, doch wird er sich schon sehr bald bewusst, dass ihm das Amt missfallen würde und dass er darin niemals würde aufgehen können. He would never swing the thurible before the tabernacle as priest. His destiny was to be elusive of social or religious orders. The wisdom of the priest's appeal did not touch him to the quick. He was destined to learn his own wisdom apart from others or to learn the wisdom of others himself wandering among the snares of the world. The snares of the world were its ways of sin. He would fall. He had not yet fallen but he would fall silently, in an instant. Not to fall was too hard, too hard: and he felt the silent lapse of his soul, as it would be at some instant to come, falling, falling but not yet fallen, but about to fall. (P, 136).

Wie schon Luzifer vor ihm, oder Adam und Eva, so erkennt auch Stephen den Körper und seine Sexualität als notwendigen Teil des Lebens an und sieht sich daher prädestiniert für den Fall. In gewisser Weise nimmt der Auszug Stephens spätere Entscheidung vorweg, nicht zu dienen: Non serviam. Stephen beschließt, sich weder der Kirche noch den elterlichen Zwängen zu beugen, sondern seinen eigenen Weg einzuschlagen, auch wenn diese ihn in sündhafte Viertel und letztlich ins Exil führen werden. Er scheint die Verdammung, welche dieser Fall mit sich bringt, regelrecht zu genießen, da sie seiner Andersartigkeit entspricht und ihn von den übrigen Dublinern abhebt, was wiederum seinen Stolz und seinen Hochmut gegenüber seinen Mitmenschen verdeutlicht. In mehrfacher Hinsicht identifiziert sich Stephen hier also mit Luzifer oder Satan und trägt somit zu seiner eigenen Mythisierung als Romanfigur bei.368 Die mythische Komponente des Romans zeigt sich zudem wenig später in der Darstellung der Zeit. Stephen vernimmt einen Ruf, nach Europa ins Exil zu gehen, und mythisiert den Alten Kontinent, indem er beginnt, die Zeit als eine mythische Konstante wahrzunehmen: „So timeless seemed the grey warm air, so fluid and impersonal his own mood, that all ages were one to him.“ (P, S.142). Er sieht die Wolken ziehen und stellt sich vor, dass sie aus Europa kämen, Europe of strange tongues and valleyed and woodbegirt and citadelled and of entrenched and marshalled races. He heard a confused music within him as of memories and names which he was almost conscious of but could not capture even for an instant; then the music seemed to recede, to recede, to recede: and from each receding trail of nebulous music there fell always one longdrawn calling note, piercing like a star the dusk of silence. Again! Again! Again! A voice from beyond the world was calling. - Hello, Stephanos! (P, S.141).

Stephen schwelgt regelrecht in seiner sehr romantisch geprägten Vorstellung von dem Alten Kontinent. Für ihn ist er geprägt von geheimnisvollen Sprachen, mythischen Täler und Wäldern Mary T. Reynolds. Joyce and Dante. The shaping Imagination. Princeton University Press. Princeton. 1981. S.141. Vgl. hierzu auch S. Foster Damon. „The Odyssey in Dublin“ In: Seon Givens (Hrsg.). James Joyce: Two Decades of Criticism. Vanguard Press. New York. 1963. S.227. 367 368

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sowie fest verwurzelten Völkern. Die Vorstellung von Europa weht ihn wie eine mystische Melodie an, um dann wieder zu verschwinden und einem Ruf zu weichen, der ihn in seinen Bann zieht. „Stephanos“ ist die griechische Version seines eigenen Namens und lässt auf Stephens Wunschdenken schließen, dass auch er gerne eine andere, eine alt hergebrachte Herkunft besäße. Es beliebt ihm, sich mit griechischen Philosophen zu messen und sich in deren Tradition zu sehen. Der Kontinent beinhaltet für Stephen folglich zwei konträre Komponenten. Zunächst ruft Stephen sich die wilde Natur Mitteleuropas vor Augen, welche mit der romantischen Tradition verknüpft ist, dann jedoch kommt ihm die geistige Hochkultur und ausgeprägte Zivilisation des alten Griechenlands in den Sinn, mit der er sich ebenfalls identifiziert. Europa selber dient somit als Schmelztiegel der Mentalitäten, wenn es romantisches Künstler- und Freidenkertum sowie antike Hochkultur miteinander verbindet. Diese zwei Komponenten des Kontinents werden im übrigen auch im „Schnee“-Traum Hans Castorps evoziert, wenn er sich zunächst in heimatlichen Wäldern glaubt, um nur kurz darauf an einem Mittelmeer-Strand zu flanieren und den grauenerregenden Tempel zu betreten. Zu diesem Ruf, der Stephen bald ins freiwillige Exil führen soll, gesellt sich ein Ruf des Lebens sowie der Kunst, welcher der vorigen Berufung zum priesterlichen Leben konträr entgegensteht. Die autobiographisch geprägte Passage versinnbildlicht auch die Haltung des Autors, der den Verlust seines Glaubens an Kirche und Religion durch eine Hinwendung zur Kunst ersetzt hat: „Es tat sich für Joyce jedoch kein Vakuum an Sinngebung auf, vielmehr wurde der alte Glaube durch einen neuen ersetzt.“369 Dieser Ruf des Lebens und der Kunst manifestiert sich in einem Schrei, den Stephen nur mühsam unterdrücken kann: „His throat ached with a desire to cry aloud, the cry of a hawk or eagle on high, to cry piercingly of his deliverance to the winds. This was the call of life to his soul not the dull gross voice of the world of duties and despair, not the inhuman voice that had called him to the pale service of the altar.“ (P, S.143). Bemerkenswert ist, wie Joyce hier die Attribute der zwei Extreme in ihr Gegenteil verkehrt. Der Ruf des Lebens gleicht dem eines Vogels, der im freien Flug dem Himmel nahe kommt. Der Ruf zum Priesteramt jedoch ist stumpf und grauenerregend, ein Ruf nach Pflicht und Verzweiflung, dem nicht zu entkommen ist, wenn man ihm einmal folgt. Besonders sticht das Wort „inhuman“ ins Auge, das mit dem Priesteramt keine Humanität, also Nähe zu und Verständnis für die Menschen verbindet, sondern genau das Gegenteil, Einsamkeit und Unverständnis, ja Unmenschlichkeit in seiner Zurückgezogenheit und Erwähltheit. Diesem unmenschlichen Ruf hat sich Stephen entzogen, um seiner wahren Berufung, der Kunst und dem Leben, nachzukommen. Seine Entscheidung für das Leben und die Kunst erscheint ihm wie eine Hartmut Mietzner. Immanenz und Transzendenz in Joyce's A Portrait of the Artist and Ulysses. S.19.

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zweite Geburt, wie die Auferstehung von den Toten: „His soul had arisen from the grave of boyhood, spurning her graveclothes. Yes! Yes! Yes! He would create proudly out of the freedom and power of his soul as the great artificer whose name he bore, a living thing, new and soaring and beautiful, impalpable, imperishable.“ (P, S.143). Stephen entwächst seiner Jugend, er lässt seine Kindheit hinter sich und entsteigt ihr wie der Phönix der Asche. Er entkommt dem Grab seiner jungen Jahre, welches von Dogmen und Doktrinen geprägt war und beginnt, sein eigenes Leben zu führen, seinen eigenen Geist zu formen. Seine Kunst soll Ausdruck seines Lebens sein und er beginnt, sich von den Dogmen der Kirche und der Konvention zu befreien, um auf eigenen Beinen zu stehen. Sinnbild dieses neuen Lebensabschnitts ist eine weitere Vision Stephens: A girl stood before him in midstream, alone and still, gazing out to sea. She seemed like one whom magic had changed into the likeness of a strange and beautiful seabird. Her long slender bare legs were delicate as a crane's and pure save where an emerald trail of seaweed had fashioned itself as a sign upon the flesh. Her thighs, fuller and softhued as ivory, were bared almost to the hips where the white fringes of her drawers were like featherings of soft white down. Her slateblue skirts were kilted boldly about her waist and dovetailed behind her. Her bosom was as a bird's soft and slight, slight and soft as the breast of some darkplumaged dove. But her long fair hair was girlish: and girlish, and touched with the wonder of mortal beauty, her face.“ (P, S.144).

Diese Epiphanie des jungen Stephen hat vielfache Deutung erfahren. Für Jean Michel Rabaté etwa versinnbildlicht sie eine „révélation de la beauté sensuelle“,370 für Anthony Burgess verkörpert sie den Ruf des Lebens, der sich Stephens bemächtigt.371 Beide Deutungen sind zulässig, treffen aber nicht gänzlich den Kern der Vision. Sprachlich auffällig ist vor allem die Häufigkeit der ornithologischen Metaphern. Das Mädchen wird mit einem „seabird“ verglichen, ihre Beine mit denen eines Kranichs. Ihre Kleidung schmückt sie wie ein Federgewand und auch ihr Oberkörper gleicht dem eines Vogels, „soft and slight.“ Die ornithologische Motivik lässt zunächst an die Möglichkeit des Fluges denken und eröffnet damit mehrere Interpretationsmöglichkeiten. Zunächst erinnert der Vogel an Daidalos, der sich Flügel aus Wachs fertigte, um seiner Gefangenschaft zu entkommen und der Sonne näher zu sein. Darüber hinaus versinnbildlicht der Flug aber auch die Nähe zum Himmelsfirmament und damit zu Gott. Er ermöglicht zudem eine neue Sicht auf die Dinge, eine Sicht aus der Vogelperspektive, welche die Sorgen Stephens in ein neues Licht taucht und sie relativ erscheinen lässt. Schließlich steht der Flug aber auch für Stephens Befreiung von seinem bisherigen Leben und seinen baldigen Aufbruch ins Exil, nach Europa. Ein weiteres Motiv findet in dieser Vision und auf den folgenden Seiten Verwendung, das des Smaragds, welches dem Hermes-Motiv verwandt ist. Die Beine des jungen Mädchens sind rein und weiss bis auf eine Stelle, an der sich eine Spur smaragdfarbener Seealgen verfangen haben. Das Jean Michel Rabaté. James Joyce. S.13. Anthony Burgess. Here comes everybody. S.57.

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bird-girl erinnert somit entfernt an die Esmeralda des Doktor Faustus, auch da es eine ähnliche Funktion im Roman übernimmt. Während es den Blick Stephens auf sich spürt, „her eyes turned to him in quiet sufferance of his gaze, without shame or wantonness (…) and a faint flame trembled on her cheek.“ Auch Stephen errötet und scheint von einem inneren Feuer erfasst zu werden: „His cheeks were aflame; his body was aglow; his limbs were trembling. On and on and on and on he strode, far out over the sands, singing wildly to the sea, crying to greet the advent of the life that had cried to him.“ (P, S.144f.). Das Vogelmädchen scheint ihn mit einer Art Fieber infiziert zu haben, und wie im Doktor Faustus, erweist sich diese „Infektion“ als Stimulus für Stephens Kreativität und seine Loslösung von den Einflüssen, die bisher sein Leben bestimmten. Es erfasst ihn jedoch nicht lediglich das Verlangen nach kreativem Schaffen, sondern ebenfalls nach dem Ausschöpfen seines Daseins, nach dem Leben selbst: „To live, to err, to fall, to triumph, to recreate life out of life! A wild angel had appeared to him, the angel of mortal youth and beauty, an envoy from the fair courts of life, to throw open before him in an instant of ecstasy the gates of all the ways of error and glory. On and on and on and on!“ (P, S.145). Stephen erkennt, dass das Leben auch negative Erfahrungen beinhaltet, dass nicht immer alles eitel Sonnenschein sein kann, sondern dass es im Leben Höhen und Tiefen gibt, Tiefen, die mit einem Fall einhergehen, und er ist nun durchaus gewillt, auch jene Erfahrungen zu machen und aus ihnen zu lernen. Ähnlich wie in Thomas Manns Zauberberg handelt es sich also um eine Zusammenführung der Gegensätze, um eine Akzeptanz des Falles oder auch des Todes, als wertvolle Bestandteile des Lebens, die dieses jedoch nicht überschatten sollten. Dies ist die Quintessenz des „Schnee“-Kapitels und diese Einsicht klingt auch in den Epiphanien des jungen Stephen an. Dass die Hermes-Figur im Werke Joyces eine bedeutsame Rolle spielt, hat schon Tindall bemerkt: „Even Joyce, whose humor would seem to forbid such interests, was on a familiar footing with Hermes.“372 Seine Affinität zu der Mittlerfigur zeigt auch die explizite Erwähnung des Halbgottes gegen Ende des Romans. Stephen steht vor der Bibliothek und beobachtet, ähnlich einem Auguren, den Flug der Vögel, wobei er unweigerlich an den ägyptischen Gott Thot denkt: for ages men had gazed upwards as he was gazing at birds in flight. The colonnade above him made him think vaguely of an ancient temple and the ashplant on which he leaned wearily of the curved stick of an augur. A sense of fear of the unknown moved in the heart of his weariness, a fear of symbols and portents, of the hawklike man whose name he bore soaring out of his captivity on osierwoven wings, of Thoth, the god of writers, writing with a reed upon a tablet and bearing on his narrow ibis head the cusped moon. (P, S.189).

Ein weiteres Mal identifiziert sich Stephen mit seinem mythischen Vorläufer Daidalos, erstmals überkommt ihn bezüglich seines mythischen Erbes jedoch eine Art Furcht. Neben Daidalos William York Tindall. The Literary Symbol. Indiana University Press. Bloomington. 1967. S.56.

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bemächtigt sich aber auch die ägyptische Gottheit Thot, ein Vorläufer des griechischen Hermes, seiner Gedanken, da dieser der Schutzgott der Schriftsteller ist und er sich dessen Wohlwollen für seine künstlerische Laufbahn erhofft. Dessen Tabula Smaragdina verdeutlicht die Koinzidenz von Oben und Unten, Himmel und Hölle, Leben und Tod und trifft somit den Kernpunkt der Epiphanie Stephens. Die Anspielungen auf die ägyptische Mythologie, welche den Ausgangspunkt für die griechische Göttervielfalt bildete, verdeutlicht die Herkunft europäischer Mythen. Ägypten gilt als Wiege europäischer Kultur, Religion und Mythologie. Viele Gottheiten des antiken Griechenlands und des römischen Imperiums fußen auf ägyptischen Vorläufern, wie Thot, Isis oder Osiris. Thot ist dabei nicht nur der Schutzherr der Schriftsteller, sondern auch der „lord of wisdom“, der Herr des Wissens, der junge Männer an die Initiation zur Mannwerdung heranführt.373 Auch in dieser Funktion leitet er den jungen Stephen an, der seiner Kindheit und Jugend entwächst, um seinen eigenen Geist zu bilden und neue Wege zu beschreiten.

3.3.6 Mannwerdung und Exil Die geistige Befreiung des jungen Helden wird auch in der späteren Auseinandersetzung mit seiner Mutter deutlich. An Ostern erwartet sie von ihrem Sohn, dass er seiner „easter duty“ nachkommen solle, sprich den Gottesdienst besuchen und die heilige Kommunion empfangen möge. Stephen jedoch will sich nicht länger dem Willen anderer beugen, insbesondere wenn er von einer Sache nicht überzeugt ist: „I will not serve that in which I no longer believe whether it call itself my home, my fatherland or my church: and I will try to express myself in some mode of life or art as freely as I can and as wholly as I can, using for my defence the only arms I allow myself to use – silence, exile and cunning.“ (P, S.208). Ob dieser aufrührerischen Haltung fragt sein Freund Cranly ihn, ob er nicht Angst vor dem ewigen Höllenfeuer habe. Stephen jedoch reagiert mit bitterer Ironie auf die Bemerkung, dass ihn im Himmel zwar ewige Glückseligkeit erwarte, auf der anderen Seite aber auch der Dean of Studies, Father Arnall, der für ihn als Auslöser seiner höllischen Visionen gelten darf. Dass ein derart böswilliger und sad*stischer Geistlicher in den Himmel kommen solle, erscheint ihm paradox und desillusioniert somit seine Vorstellungen eines glücklichen Lebens nach dem Tod. Die Hölle, welche der Priester einst so eindrucksvoll beschrieben hat, verliert nun ihre Wertigkeit, ebenso wie der die guten Christen erwartende Himmel: „The Hell of Father Arnall's Vgl. William York Tindall. „James Joyce and the Hermetic Tradition“ In: Journal of the History of Ideas 15. 1954. S.32. 373

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sermon (…) had no more ontological content for Stephen than had 'an eternity of bliss in the company of the dean of studies.' “ Fassbar und real bleiben lediglich Stephens Qualen und die Gewissensbisse, von denen er sich noch immer nicht zu befreien vermag. 374 Seine zynische Aussage verdeutlicht, dass Stephen sich langsam von der Kirche abzuwenden beginnt, sowohl von den Schreckbildern der Hölle, welche ihm eingetrichtert wurden, als auch von den Himmelsvorstellungen, die sie propagiert. Er beginnt, sich bewusst gegen die falsche Moral aufzulehnen, welche in der katholischen Kirche vorherrscht, da er sie nun für diskreditiert und nicht mehr glaubwürdig erachtet. Dieser Umstand ergibt sich auch daraus, dass er Emma mit einem Priester hat flirten sehen, obwohl sie ihm gegenüber stets zurückhaltend und züchtig auftrat. Seine Loslösung von den gesellschaftlichen und kirchlichen Konventionen offenbart sich gegen Ende des Romans zudem in einer stilistischen Modifikation. Stephen beginnt alsbald ein Tagebuch zu verfassen, welches die Ereignisse, die sein Leben bestimmen, sowie seine Gefühle und Gedanken darlegt. Dieser neue Stil kann auch als Ausdruck von Stephens aufkeimender schriftstellerischer Ader gelten und illustriert somit seine Berufung zum Künstler. Unter diesen Tagebucheinträgen findet sich eine interessante Geschichte, welche an die Fahrt Adrian Leverkühns ins Gestirn erinnert, oder auch an die Erfahrungen Felix Krulls mit Professor Kuckuck: John Alphonsus Mulrennan has just returned from the west of Ireland. (…) He told us he met an old man there in a mountain cabin. Old man had red eyes and short pipe. Old man spoke Irish. Mulrennan spoke Irish. Then old man and Mulrennan spoke English. Mulrennan spoke to him about universe and stars. Old man sat, listened, smoked, spat. Then said: -Ah, there must be terrible queer creatures at the latter end of the world. I fear him. I fear his redrimmed horny eyes. (P, S.212).

Der Westen Irlands wurde in irischen Erzählungen traditionell mit dem Totenreich in Verbindung gebracht und der alte Mann in seiner Berghütte scheint infernalische Züge zu tragen. Die Schilderung seiner roten, rastlosen und schwieligen Augen beunruhigt Stephen in hohem Maße und flößt ihm sogar Angst ein. Verwunderlich ist allerdings, dass diese seltsam in den Kontext eingefügte Figur selber nicht aktiv handelt. Vielmehr ist es Stephens Freund Mulrennan, der dem alten Mann etwas über das Universum und über die Sterne erzählt, ihm diese Phänomene von einem aufgeklärten Standpunkt aus beschreibt. Der alte Mann jedoch geht nicht darauf ein, da er seine eigene, mythische Vorstellung von der Welt und ihren Grenzen hat. Für ihn lauern am Rand der Erde furchtbare und seltsame Gestalten. Er scheint, wie einst Hans Castorp, aus der Welt gekommen, fernab jedweder Zivilisation inmitten der rauen Berglandschaften. Anders als Castorp verliert er jeglichen Kontakt zu den Wissenschaften. Eher kann er als Vertreter einer mythischen Hugh Kenner. „The Portrait in Perspective“ S.166.

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Weltanschauung gelten. Kurz nach diesem seltsam anmutenden Eintrag folgen die letzten Vermerke des Tagebuchs, in welchen Stephen sein Vorhaben, ins Exil zu gehen, darlegt: 26 April: Mother is putting my new secondhand clothes in order. She prays now, she says, that I may learn in my own life and away from home and friends what the heart is and what it feels. Amen. So be it. Welcome, O life! I go to encounter for the millionth time the reality of experience and to forge in the smithy of my soul the uncreated conscience of my race. (P, S.213).

Stephen folgt dem Ruf des Lebens sowie dem Ruf der Kunst und hofft, eine Ausdrucksmöglichkeit für seine Persönlichkeit zu finden. Auch seine Mutter setzt Hoffnungen in seine Reise. Ihrer Ansicht nach ist Stephens Charakter von einer gewissen Kaltherzigkeit geprägt, welche mit seiner alles sezierenden Intellektualität einhergeht. Selbst ihr, seiner sterbenden Mutter, gegenüber bleibt Stephen gefühlskalt und bringt es nicht über das Herz, ihr einen Gefallen zu tun, etwa wenn er seiner „Easter Duty“ nachkommen soll. Sie hofft nun, dass er im Ausland lerne, was das Herz sei und wie es fühlt. Vielleicht resultiert die Gefühlskälte Stephens aus dem Umstand, dass er von niemandem wirklich verstanden wird und dass auch er Probleme hat, seine Umwelt und seine Mitmenschen zu verstehen. Seine auch von ihm selbst beobachtete Andersartigkeit lässt ihn vor allem den Außenseitern im Werke Thomas Manns ähneln. Tindall etwa vergleicht ihn mit Tonio Kröger, der sich ebenfalls schwerlich in die Gesellschaft einzufügen vermag und der, wie im übrigen auch Joyce, hin und her gerissen ist, zwischen der bürgerlichen Welt, in die er hineingeboren wurde und der er zu entkommen versucht, und der Welt der Kunst, die er sich als Wirkungsfeld erwählt hat.375 Auch Harry Levin sieht diese Affinität Stephens und der Mannschen Figuren. Stephen „is marked by the aureole of the romantic hero, like Thomas Mann's outsiders, pressing their noses against the window panes of a bourgeois society from which they feel excluded.376 Trotz seiner Selbstfindung und seiner Entwicklung zu einem jungen, tiefsinnigen Künstler, vermag Stephen es noch nicht, sich in die Gesellschaft einzufügen. Er steht außerhalb, was ihm als Künstler aber auch zu Gute kommen kann, da er somit ein objektives Bild der Gesellschaft, deren Teil er nicht sein kann, zu zeichnen vermag. Er ist derjenige, der dieser Gesellschaft den Spiegel vorhält, der sie zu entzaubern und zu dekonstruieren vermag, womit er letztlich zu ihrer Veränderlichkeit beiträgt. Stephens

von

Levin

Charaktereigenschaften,

beschriebene etwa

in

romantische

seiner

Ader

Ich-Bezogenheit

zeigt

sich

in

vielen

seiner

und Arroganz,

welche

seiner

Vgl. W.Y.Tindall. The Literary Symbol. S.221. Harry Levin. „The Artist“ In: Beja. 1973. S.89.

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Andersartigkeit und seiner künstlerischen Neigung entspringen, aber auch in seinem Unwillen, der Gesellschaft zu Diensten zu sein. Beinahe ließe er sich als Anti-Held bezeichnen, da er hin und her gerissen ist, aber auch da er ein etwas weinerlicher, unheldischer Typus, ist, wie Burgess ihn beschreibt.377 Dennoch scheint Stephen eine Entwicklung zu vollziehen, welche dem Portrait einen Anstrich von Bildungsroman gibt. Tindall glaubt, dass „using a hint from Dante, Joyce made the personal quest of an exiled aesthete the quest of mankind for humanity. (…) This progress suggests that of Stephen from the lust and pride of the Portrait to the charity implied by Joyce's presentation of Mrs Bloom.“378 Ohne den Ulysses zu kennen, scheint diese Aussage gewagt, ja sogar fragwürdig. Stephens kühle Intelligenz scheint die Suche nach Menschlichkeit und einer neuen Humanität, wie sie häufig im Werke Manns zu finden ist, auszuschließen. Sie drückt sich lediglich in der Hoffnung der Mutter aus, dass er das Herz möge kennenlernen. Wie in Kapitel 4 dargelegt werden wird, kann im Folgewerk Joyces durchaus von einer derartigen Entwicklung die Rede sein. So schlussfolgert auch Levin, dass die Gebete seiner Mutter zu Ende des Ulysses durchaus Gehör finden: „Could we not conclude, in all reverence, that Ulysses answered the prayer?“379 Dass er die Trennung von der Mutter nun nicht mehr nur seelisch, sondern auch physisch vollzieht, deutet Jennifer Margaret Fraser als weitere Initiation Stephens.380 Stephen vermag es, sich von Familie, Gesellschaft und Kirche zu lösen, um seinen eigenen Weg zu beschreiten.

3.3.7 Mythische Rollen Stephens Der letzte Tagebucheintrag Stephens zeigt die mythische Rolle auf, derer der Protagonist sich bewusst ist, wenn der Vermerk auch zunächst zweideutig erscheinen mag: „27 April: Old father, old artificer, stand me now and ever in good stead.“ „Old father“ scheint zunächst auf den Heiligen Vater, sprich Gott, hinzudeuten, wird aber direkt darauf spezifiziert. Der „old artificer“ nämlich gemahnt eher an Daidalos als an Gott oder Jesus Christus. Der alte Erbauer bzw. Erfinder spielt auf den mythischen Urvater Stephens an, dessen Beistand er sich in der Ferne erhofft. Auch Stephen ist in Zukunft auf seine Erfindungsgabe und auf seine Kreativität angewiesen, wenn er in den Straßen von Paris sein Glück sucht. Er geht, wie schon Vgl. Anthony Burgess. Here comes everybody. S.52. W.Y. Tindall. „Dante and Mrs Bloom“ S.87. 379 Harry Levin. James Joyce. A Critical Introduction. Faber & Faber. London. 1960. S.246. 380 Jennifer Margaret Fraser. Rite of Passage in the Narratives of Dante and Joyce. University Press of Florida. Gainesville. 2003. S.5. 377 378

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Hans Castorp oder Adrian Leverkühn, in den Spuren anderer, was sich auch in der folgenden Aussage widerspiegelt: „I go to encounter for the millionth time the reality of experience and to forge in the smithy of my soul the uncreated conscience of my race.“ Stephen trifft nicht zum ersten Mal auf die Realität der Erfahrung, aus welcher er das Bewusstsein seines Volkes zu formen hofft. Er ist dieser insofern begegnet, als er sie in sich trägt, da sie Teil seines Unbewussten ist. Ähnlich geht es dem Autor James Joyce, der ebenfalls ins Exil ging, aber dem Dublin täglich vor Augen stand und dessen Werk davon zeugt. Stephen übernimmt jedoch nicht nur diese eine mythische Rolle als geistiger Sohn des mythischen Erfinders Daidalos, sondern gemahnt zudem an eine christliche Figur: Jesus Christus. Wie J. Mitchell Morse ausführt, übernimmt Stephen als Künstler die Funktion, das Leben anhand des Alltäglichen darzustellen. In dieser Hinsicht gibt Stephen dem Leben einen tiefgründigeren Wert: „in this way he gives it, for some, a value beyond the accidental value of things that can be seen with the eye and touched with the hand. In this way, and in no other, he is the redeemer.“381 Auch Chester G. Anderson zieht den Vergleich zu Jesus Christus, da Stephen sich gegen die Gesellschaft auflehnt, wenn er den Ruf der Kirche für den der Kunst zurückstellt. Poss spricht sogar von einer Tendenz Stephens zur Apotheose, auch da dieser das Leben letztendlich so nehme, wie es komme, und durch seine künstlerische Tätigkeit einen Beitrag zur Welt leiste. 382 Cranly hingegen erscheint als Gegenspieler Stephens, als Judas. Zunächst beleidigt er Emma, für die Stephen im Stillen Gefühle hegt, da sie etwas dicklich sei, später aber geht er eine Beziehung mit ihr ein an und enttäuscht das Vertrauen seines Freundes. Auch im Gespräch über die „Easter Duty“ wird deutlich, dass Cranly die Dogmen von Kirche und Gesellschaft nicht in Frage stellt, um ein bequemeres Leben führen zu können, „choosing a life of materialistic ease rather than one of spiritual struggle.“383 Harry Levin erkennt die Ähnlichkeit Cranlys zu Judas an, meint aber auch Züge Johannes des Täufers an ihm zu entdecken.384 Dafür spreche unter anderem, dass er häufig Feigen und „wild honey“ esse. Diese einseitige Ernährung ließe sich gut mit der Johannes dem Täufer nachgesagten asketischen Lebensweise in Verbindung bringen. Der Heilige wurde häufig sehr mager dargestellt, was wiederum an die Beschreibung Stephens erinnert, Cranly habe einen sehr schmalen Kopf, der einem Totenkopf gleiche: „He eats chiefly belly bacon and dried figs. Read locusts and wild honey. Also, when thinking of him, saw always a stern severed head or deathmask as if outlined on a grey curtain or veronica.“ (P, S.209). Locust bezeichnet im Englischen eine Heuschrecke, der Locust tree allerdings den Johannisbrotbaum, locust bean dementsprechend die Frucht des Baumes, aber auch das Johannisbrot, welches aus ihrem Mehl gebacken wird. J. Mitchell Morse. „Joyce and the early Thomas Mann“ In: Revue de Littérature comparée 36. 1962. S.385. Stanley Poss. „A Portrait of the Artist as Hard-Boiled Messiah“ In: Modern Language Quarterly 27. 1966. S.69ff. 383 Chester G. Anderson. „James Joyce's Tilly“ In: PMLA 73. 1958. S.289. 384 Harry Levin. Contexts of Criticism. Harvard University Press. Cambridge, Massachusetts. 1957. S.193. 381 382

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Möglicherweise geht der Name des Baumes auf den Umstand zurück, dass sich Johannes während seines Aufenthaltes in der Wüste lediglich von den Früchten jenes Baumes ernährt haben soll (Vgl. Mt. 3,4). Folgt man dieser Auffassung, würde der Begriff „wilder Honig“, welcher in der entsprechenden Bibelstelle Verwendung findet, auf ein Produkt hindeuten, welches aus den Früchten des Baumes gewonnen wird. Dass auch Cranly Locusts und „wild honey“ sammelt und verspeist, legt die Verwandtschaft der beiden Figuren nahe. Auch die anderen Freunde Stephens nehmen teils biblische, teils mythische Züge an. Lynch etwa wird aufgrund seiner schlitzförmigen Augen mit einem Reptil verglichen, was an die Schlange gemahnt, welche im Garten Eden Adam und Eva zum Sündenfall verführte. Aufgrund seiner Gestik und Mimik erinnert er zudem an die Teufelsgestalten im Werk Thomas Manns. Dies wird besonders deutlich, wenn er Stephen hinterherschaut, „his lips curling in slow scorn till his face resembled a devil's mask.“ (P, S.173). Voller Häme schaut er seinem vermeintlichen Freund hinterher, das Gesicht einer Teufelsmaske gleichend. Paradoxerweise scheint aber auch Stephen selber teuflische Züge zu tragen. Zwar wird er gelegentlich als Märtyrer und als Erlöser dargestellt, jedoch stellt er sich in die Tradition Satans, wenn er seinem Freund verkündet: „Non serviam. I will not serve.“ Aufgrund seines Stolzes und seiner Auflehnung gegen Gott wurde Luzifer des Himmels verwiesen und stürzte in das ewig brennende Höllenfeuer. Es heißt, er sei aufgrund seines Hochmuts gefallen, einer Sünde, die auch Stephen begeht, wenn er sich von den tatsächlichen Eltern, aber auch von seinem Vaterland und seiner Kirche abwendet. Er fühlt, dass er anders ist als seine Kameraden, aber er empfindet einen gewissen Stolz ob seiner Andersartigkeit und seines herausragenden Intellekts. Wie Thomas Mann vereint Joyce also verschiedene mythologische Figuren in der Person Stephens. Dieser erscheint uns als Daidalos, als Christus und als Satan, kommt aber auch mit der MittlerGottheit Hermes in Berührung. Diese Fusion der verschiedenen Mythologien scheint auf eine Austauschbarkeit hinzuweisen, die sie wiederum entzaubert und entmythisiert. In Wahrheit jedoch handelt es sich im Werke Joyces um eine Verschärfung des Mythos, eine Intensivierung und ein Auf-den-Punkt-bringen desselben. Durch den Synkretismus der verschiedenen mythologischen Quellen nämlich schafft Joyce auch einen neuen Mythos, den Mythos des Alltäglichen, des Lebens und der Kunst, in welchem letztlich nicht mehr die Gottheit, sondern der Mensch im Fokus des Interesses steht. Eben diese Schwerpunktverlagerung macht den Mythos Joyces zu einem modernen, europäischen Mythos der Humanität.

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3.4 Totengespräche und Phantasmagorie – Ulysses T. S. Eliot, langjähriger Freund und Förderer James Joyces, schreibt in seinem Essay „Ulysses, Order and Myth“, dass Joyce eine neue Methode des Schreibens entwickelt habe, die mythische Methode: „In using the myth, in manipulating a continuous parallel between contemporaneity and antiquity, Mr Joyce is pursuing a method which others must pursue after him (...) a way of controlling, of ordering, of giving shape and a significance to the immense panorama of futility and anarchy which is contemporary history.“385 Auch White erkennt den Ulysses als einen mythologischen Roman an,386 denn offensichtlich hat sich Joyce die homerische Odyssee zum Vorbild genommen, auch wenn die Parallelen teils nur vage erkennbar sind. Wie Eliot bemerkt, ist die Hinwendung zum antiken Mythos vor allem darum interessant und für Joyce unerlässlich, da sie der kriegsliebenden und schnelllebigen Gegenwart des anfänglichen 20. Jahrhunderts Struktur verleiht und somit Bedeutung und Sinngebung erzielt. Joyce verleiht dem scheinbar bedeutungslosen Leben des „Jedermann“ Leopold Bloom sowie des jungen und ambitionierten Studenten Stephen Dedalus eine bedeutende und allgemeingültige Tragweite. Die epische Tradition, der Joyce mit der Verwendung seiner mythischen Methode folgt, umfasst, wie auch die homerische Odyssee, eine Reise in die Unterwelt. Ezra Pound liest den gesamten Roman als ein an Dante anknüpfendes Inferno, welches die soziale Unterwelt Dublins schildert. 387 Anders als bei Dante durchwandert Bloom nicht lediglich ein Inferno, sondern begibt sich gleich zwei Mal in katabatische Gefilde.388 Gemeint sind das sechste Kapitel des Romans, welches laut dem Gilbert-Schema den Titel „Hades“ trägt, sowie das 15. Kapitel, der Besuch bei „Circe“. Bereits in der homerischen Odyssee stehen diese beiden Episoden in einem engen Zusammenhang, da es die Zauberin und Verführerin Circe ist, welche Odysseus rät, eine Reise zu den Toten anzutreten, um den Seher Teiresias hinsichtlich seiner Zukunft und dem Verlauf seiner Reise zu befragen. Circe fungiert somit als Wegbereiterin und Führerin des Odysseus. Zudem besucht er sie ein weiteres Mal nach seiner Rückkehr vom Rande des Okeanos, um seine Weissagung von ihr deuten zu lassen und sich den Weg ein weiteres Mal weisen zu lassen. Somit rahmt die Circe-Episode bei Homer die Nekyia ein und dient als Hintergrund und Folie für diese. Joyce nun führt diese Tradition fort, indem er die Unterwelt sowohl in „Hades“ also auch in „Circe“ ansiedelt. T.S.Eliot. „Ulysses, Order and Myth“ In: Seon Givens (Hrsg.). James Joyce: Two Decades of Criticism. Vanguard Press. New York. 1963. S.201. 386 John J. White. Mythology in the Modern Novel. A Study of Prefigurative Techniques. Princeton University Press. Princeton, New Jersey. 1971. S.7. 387 Ezra Pound. „Ulysses“ Literary Essays of Ezra Pound. Faber & Faber. London. 1963. S.406f. 388 Vgl. Richard D. Lehan. „Cities of the Living/Cities of the Dead. Joyce, Eliot, and the Origins of Myth in Modernism“ In: Lawrence B. Gamache; Ian S. MacNiven (Hrsg.). The Modernists. Studies in a Literary Phenomenon. Farleigh Dickinson University Press. Rutherford (u.a.). 1987. S.63f. 385

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Doch schon vor dem sechsten Kapitel, der Beerdigung Paddy Dignams auf dem Glasnevin Cemetery, verdichtet sich die unterweltliche Motivik des Romans, wie das folgende Kapitel zeigen wird.

3.4.1 Mock Mass und proteischer Hund - Katabatische Motive in der Telemachie Bereits mit den ersten Sätzen des Ulysses nimmt Joyce den mythologischen Synkretismus des Portraits wieder auf, da er Stephen und seine Mitbewohner in verschiedene Rollen schlüpfen lässt. „Introibo ad altare dei“ verkündet Buck Mulligan, wenn er in einen gelben Bademantel gehüllt, die Treppe betritt, in der Hand ein Rasierbecken mit überkreuzt liegendem Spiegel und Rasiermesser. Der Auftritt von Stephens zwielichtigem Freund wurde häufig als „mock mass“ bezeichnet 389 und in der Tat scheint es sich um die Parodie einer christlichen Messe zu handeln, in der Buck selber als „mock priest“ auftritt. Wie höhnisch dieser Seitenhieb auf die Riten der Kirche intendiert ist, zeigt vor allem die Farbwahl Joyces für den Bademantel Mulligans. Gelb nämlich gilt als die Farbe des Verrats und des Betruges, „the colour of which in Catholic symbolism has overtones of deceit and betrayal since it is traditionally the sign of Judas in Christian iconography.“390 Die Farbe lässt zudem auf den Charakter Mulligans schließen, denn dieser betrügt Stephen um sein Geld, wenn er einen aufgeblasenen Freund, den Engländer Haines, im Turm übernachten lässt. Darüber hinaus lässt er sich später von Stephen seine Ausgaben im Pub bezahlen, da dieser gerade erst sein Wochengehalt als Lehrer erhalten hat. Der possenhafte Auftritt zu Beginn des Ulysses zeigt Mulligans Leidenschaft für das (Schau-)Spielerische und seine Begabung zur Selbstdarstellung und Selbstinszenierung, was ihm wiederum teuflische Züge verleiht. In der Unterhaltung, welche das spärliche Frühstück der drei jungen Männer begleitet, zeigt sich zudem sein Zynismus und sein schwarzer Humor, welche ihm als Medizinstudenten äußerst gut zu Gesicht stehen. Er spricht unverblümt und sehr realistisch über den Tod seiner Patienten, so als ginge dieser ihn kaum an: „And what is death, he asked, your mother's or yours or my own? You saw only your mother die. I see them pop off every day in the Mater and Richmond and cut up into tripes in the dissecting room. It's a beastly thing and nothing else.“ (U, S.8) Kain veranlasst Mulligans Verständnis des Todes zu der Annahme, dass dieser den Tod als Teil des Lebens akzeptiere: „A true pagan, he has nothing but contempt for the strained involutions of Stephen's conscience. Like Hofrat Behrens of the Magic Mountain, he is willing to accept life and death with Vgl. u.a. Joseph Campbell. Mythic Worlds. Modern Words. S.57. Kristiina Peltonen. „Easter Symbolism in the opening scene of Ulysses“ In: Clive Hart; Fritz Senn (Hrsg. u.a.). Images of Joyce Vol. II. 1998. S.579. 389 390

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equanimity.“391 Der Vergleich ist naheliegend. Wie sein Kollege Behrens in Thomas Manns Zauberberg vertritt Mulligan eine äußerst realistische und nüchterne Haltung gegenüber Krankheit und Tod, ohne diese zu mythisieren oder zu verklären. Stephen hingegen leidet sehr unter dem Tod seiner Mutter, auch da er ihr den letzten Willen verweigert hatte, er möge für sie beten und zu Gott zurückfinden. Aufgrund seiner atheistischen Überzeugungen und weil seine strenge jesuitische Erziehung ihm Glaube und Kirche vergällt hat, ist er diesem Wunsch nicht nachgekommen und wird nun von seinem schlechten Gewissen geplagt. Mulligan kann diese Aufrichtigkeit Stephens seinem Glauben bzw. Nicht-Glauben gegenüber nicht nachvollziehen. Er hätte an der Stelle seines Freundes auch gegen seine Überzeugungen gebetet und sich somit der Heuchelei und gewissermaßen der Lüge schuldig gemacht. Er hätte geschauspielert und somit eins seiner größten Talente genutzt. Dies tut er ebenfalls wenn er kurz darauf in eine weitere blasphemische Rolle schlüpft, die Rolle Jesu. Kurz vor dem Aufbruch überkommt ihn eine Laune und er rezitiert folgendes mock poem, „The Ballad of Joking Jesus“: I'm the queerest young fellow that ever you heard My mother's a jew, my father's a bird. With Joseph the joiner I cannot agree, So here's to disciples and Calvary. If anyone thinks that I amn't divine He'll get no free drinks when I'm making the wine But have to drink water and wish it were plain That I make when the wine becomes water again. Goodbye now, goodbye. Write down all I said And tell Tom, Dick and Harry I rose from the dead. What's bred in the bone cannot fail me to fly And Olivet's breezy... Goodbye, now, goodbye.

Mulligan geriert sich in diesem kurzen Poem als Jesus. Nachdem er zu Anfang des Kapitels die Priester aufs Korn genommen hat, wird nun der Sohn Gottes Ziel seines Spottes und seiner Darstellungskunst. Im vorangehenden Absatz jedoch, ebenso wie im darauffolgenden, scheint er eine andere mythische Rolle einzunehmen, die des Hermes respektive des Merkur. Sein Panama-Hut erinnert an die Totengeleiter im Werke Thomas Manns und wird im folgenden sogar als der Hut des Merkur bezeichnet: „He capered before them down towards the fortyfoot hole, fluttering his winglike hands, leaping nimbly, Mercury's hat quivering in the fresh wind that bore back to them his brief Richard M. Kain. Fabulous Voyager. James Joyce's Ulysses. Unversity of Chicago Press. Chicago. 1947. S.104.

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birdlike cries.“ (U, S.19). Neben dem Hut deuten auch die „winglike hands“ auf eine Verwandtschaft mit dem Götterboten und Totengeleiter hin, da dieser in der Regel mit geflügelten Schuhen beziehungsweise Füßen dargestellt wird. Mulligan nun verfügt über flügelartige Hände, ein Umstand, der vermutlich mit seinem Berufsfeld zusammenhängt, da den „heilenden“ oder unter Umständen auch todbringenden Händen eines Arztes besondere Bedeutung zukommt. Mulligan könnte aufgrund seiner Eloquenz folglich als Hermes Trismegistos gelten, jedoch ebenso gut als Hermes Psychopompos in seiner Funktion als Geleiter der Toten, da auch Stephen bald eine literarische Katabasis antreten wird. Dass er in jedem Fall als hermetische Figur fungiert, beweist eine weitere Textstelle kurz vor dem Aufbruch der drei jungen Männer, in welcher Mulligan als „Mercurial Malachi“ bezeichnet wird. Wie Gifford feststellt, bedeutet das hebräische Wort „Malachi“ soviel wie „mein Bote“, ein weiterer Verweis auf den Götterboten Hermes, der auch in der homerischen Odyssee eine tragende Rolle für die Heimkehr des Odysseus spielt.392 Er steht der homerischen Tradition aber insofern gegenüber, als er Stephen gerade nicht zu einer Heimkehr in den Martello Tower, sondern aufgrund seiner Dreistigkeit und wegen seines unsympathischen Freundes Haines zum Auszug animiert. Die mythische Figur nimmt bei Joyce somit ironische Züge an, da sie ihre eigentliche Funktion zu verfehlen scheint, andererseits aber gerade dadurch die Selbständigkeit und Entwicklung Stephens vorantreibt. Da Stephen den ehemaligen Wehrturm ohnehin nicht als geeignetes Zuhause empfindet und es ihn weit eher ins Exil zieht, trägt Mulligan zu dessen Selbsterkenntnis und Entfaltung bei. Die Dreistigkeit Mulligans und die Belagerung des Martello Turms durch dessen englischen Kumpanen sind zudem Eigenschaften, welche die Mitbewohner Stephens in der Tradition des Antinoos stehen lassen, des zudringlichsten und unangenehmsten der homerischen Freier, welche um Penelope werben. Diese Parallele legt Joyce selber in dem Schema nahe, welches er Gorman Gilbert hat zukommen lassen und in dem es heißt: „Correspondences: Telemachus, HamletStephen; Antinous (and, by implication, Hamlet's uncle, Claudius)-Mulligan;“ 393 Nicht nur Mulligan, sondern auch Haines verkörpert einen weiteren homerischen Gegenspieler Odysseus', den zürnenden Meeresgott Poseidon. Im Angesicht des Meeres wird der junge Engländer zum Beherrscher desselben: „Eyes, pale as the sea the wind had freshened, paler, firm and prudent. The seas' ruler gazed southward over the bay, empty save for the smokeplume of the mailboat, vague on the bright skyline, and a sail tacking by the Muglins.“ (U, S.18). Dass ausgerechnet Haines als Poseidon auftritt, ist mit der Rolle Englands als der die Weltmeere beherrschende Seemacht zu erklären.394 Erst durch die Stärke seiner Flotte vermochte das britische Empire, sich Vgl. Don Gifford. Ulysses Annotated. S.22. Vgl. ebd. S.12. 394 Vgl. ebd. S.23. 392 393

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weite Teile der restlichen Welt zu unterwerfen. Stephen nun fühlt sich von dieser Großmacht und ihrer Arroganz bedroht. Der Name des jungen Engländers, ähnlich dem französischen Wort für Hass (la haine), scheint zudem auf eine gewisse Grausamkeit und Hasserfülltheit seines Charakters hinzuweisen und lässt vielleicht sogar auf eine Art Erbfeindschaft zwischen England und Irland schließen. Stephen entpuppt sich folglich als Antagonist, als Gegenspieler von Mulligan und Haines. Zum einen verkörpert er Telemachus, den Sohn des irrfahrenden Odysseus, auf dessen Heimkehr er hofft. Auch er beschließt, seine derzeitige Heimat, den Martello Tower, zu verlassen und nicht erneut aufzusuchen, da Mulligan und sein arroganter Freund Haines ihm nicht als geeignete Mitbewohner und Mentoren erscheinen. Zudem träumt er davon, erneut nach Europa zu gehen, um somit seiner Heimatstadt Dublin und den engstirnigen Konventionen Irlands zu entfliehen. Neben der Rolle seines mythischen Vorläufers Daidalos sowie der des Telemachus, übernimmt Stephen in diesem ersten Kapitel aber vor allem die Rolle des Gegenspielers Jesu und trägt somit infernalische bzw. satanische Züge.395 So zumindest stellt Mulligan ihn dar, wenn er Stephen dafür kritisiert, dass er nicht am Totenbett seiner Mutter gebetet hat und bemerkt, Stephen habe etwas Unheimliches an sich: „But to think of your mother begging you with her last breath to kneel down and pray for her. And you refused. There is something sinister in you...“ (U, S.5). Stephen selber scheint dieser Rolle vor allem deshalb gerecht zu werden, da er die Worte Satans in den Mund nimmt: „Non serviam“ lautet seine Antwort auf die Forderung seiner Mutter als auch auf die Erwartungen, die Kirche und Staat an ihn stellen. Er ist nicht gewillt, sich einer wie auch immer gearteten Autorität unterzuordnen. Als nun herangereifter und selbstbewusster junger Mann fühlt er sich einzig seinem Geist und seiner Berufung zur Kunst verpflichtet. In Irland wird er immer Diener zweier Herren bleiben, des imperialistischen Englands und der römisch-katholischen Kirche (Vgl. U, S.20). Dieser Pflicht versucht Stephen sich zu entziehen, indem er sowohl geistiges als auch körperliches Exil sucht. Der Leser nun findet sich in einer schwierigen Position, da Stephen zunächst als unheimlicher und egoistischer Charakter vorgestellt wird, aber auch Buck Mulligan als zwielichtige und ambivalente Figur auftritt. Es scheint, als seien die Rollen der beiden vertauscht, oder eher noch, als stelle die Joycesche Telemachie eine Dekonstruktion des Dualismus von Gut und Böse dar. Mulligan, Haines und Stephen tragen Züge von Jesus, Judas und Satan, aber auch von Gottheiten wie etwa Hermes oder Poseidon. Die Figuren im Roman nehmen somit göttliche als auch mythische Züge an und deuten somit schon auf die späteren Apotheosen Blooms in „Cyclops“ und „Circe“ hin. Der Mensch wird somit zu einer göttlichen, aufgeklärten, die Welt erklärenden Instanz. Er bedarf keiner Transzendenz, da er sich Vgl. Harry Levin. James Joyce. S.116.

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selber genügt, und lässt die Gottheiten somit obsolet erscheinen. Schon auf den ersten Seiten des Romans evoziert Joyce zudem einen weiteren Referenztext, der sich mit der Schilderung der Hölle befasst, Dante Alighieris Divina Commedia. Stephen beschwert sich bei Mulligan über Haines' Anwesenheit im Martello Turm, da dieser die vergangene Nacht von einem schwarzen Panther geträumt und mit seinen Schreien auch Stephens Schlaf gestört habe: „He was raving all night about a black panther.“ (U, S.5). Die Alpträume Haines' und seine nächtlichen Beteuerungen, dass er den Panther erschießen werde, beunruhigen Stephen und rücken den Eindringling in ein unheimliches Licht. Das Motiv findet sich ebenfalls zu Beginn der Divina Commedia, im ersten Canto, da Dante den rechten Weg sucht, ein Panther diesen jedoch versperrt, sodass er gezwungen ist, weiter in den dunklen Wald einzudringen. Die Pantherkatze steht dabei traditionell für die Sünde der Wolllust, was wiederum auf die Vergangenheit Stephens verweist, da er es nicht vermag, seine erwachende Sexualität mit seinem Gewissen zu vereinbaren. Dadurch dass der Panther in der Göttlichen Komödie den Ausweg aus dem dunklen Wald versperrt, führt er Dante auf den Weg zum Inferno, durch welches Vergil ihn leiten soll und somit letztlich auch zur Läuterung und zum Paradies, der Anschauung Gottes. So zwingt auch die Anwesenheit Haines im Martello Tower Stephen dazu, sein gewohntes Umfeld zu verlassen, neue Wege zu beschreiten, neue Gefährten zu suchen und lässt auf einen glücklichen Ausgang des Epos hoffen. Nach einer Geschichtsstunde und dem Gespräch mit dem Schulleiter Mr Deasy – Stephen verdingt sich als Aushilfslehrer - richtet er seinen Gang in das Zentrum Dublins. Am Meer entlang laufend, überlässt er sich einem philosophisch geprägten Gedankenstrom, wobei er auf die Philosophie Dantes zurückkommt. Während er über Wahrnehmung sinniert und über das Nacheinander bzw. Nebeneinander der Gedankenströme, kommt ihm ein Zitat Dantes über Aristoteles in den Sinn: „Il maestro di color che sanno,“ zu deutsch: Der Meister derjenigen, die wissen. Er spielt damit auf Aristoteles Vorrangstellung unter den klassischen Philosophen an, stellt aber auch seine Kenntnisse Dantes zur Schau und offenbart, welch eminent wichtigen Einfluss dieser auf ihn ausübt. Dies wird auch anhand eines weiteren Verweises deutlich, den Joyce im Proteus-Kapitel einstreut und der sowohl danteske als auch goetheische Motive aufgreift: „A bloated carcase of a dog lay lolled on bladderwrack. (…) A point, live dog, grew into sight running across the seep of sand. Lord, is he going to attack me? Respect his liberty.“ Zunächst sieht Stephen den Kadaver eines Hundes am Strand liegen. Wenig später jedoch taucht ein lebender Hund auf, der sich ihm nähert. Stephen zeigt zwar Anzeichen von Angst, beherrscht sich aber, um den Hund seinerseits nicht seiner Freiheit zu berauben. Schließlich entdeckt der Hund den Hundekadaver und beschnüffelt diesen interessiert. Wenig später dann gräbt er mit den Vorderpfoten im Sand, was Stephen wiederum an 204

den Panther aus Haines Traum denken lässt: „After he woke me up last night same dream or was it? Wait. Open hallway. Street of harlots. Remember. Haroun al Raschid. I am almosting it. That man led me, spoke. I was not afraid. The melon he had he held against my face. Smiled: Creamfruit smell. That was the rule, said. In. Come. Red carpet spread. You will see who.“ (U, S.46). Der proteische Hund, der auf „des Pudels Kern“ und damit die goetheische Faust-Tradition verweist, ruft in Stephen auch die Erinnerung an Haines Traum vom schwarzen Panther wach und lässt seinen eigenen Traum der letzten Nacht vor seinem inneren Auge entstehen. Stephen hat in der vorigen Nacht von einem Mann in der Harlot Street geträumt, der ihn führen wird, ein möglicher Verweis auf das Zusammentreffen mit Bloom als seinem zukünftigen Mentor. Schon vor der bevorstehenden Begegnung der beiden Protagonisten überschneiden sich ihre Gedankengänge. Wie Bloom in dem Kapitel „Hades“, so denkt Stephen während seines Strandspaziergangs über den Tod durch Ertrinken nach: „Seadeath, mildest of all deaths known to all man. Old father Ocean.“ (U, S.49f.). Anders als bei Bloom ist Stephens Gedanke jedoch ironisch geprägt. Denn wie schon zu Anfang des Kapitels deutlich wird, ist Stephen äußerst wasserscheu und empfindet das Meer als eine bedrohliche Naturgewalt. Dies wird ersichtlich, wenn er sich mehrfach die Zeit der Flut, welche gegen 13 Uhr einsetzen wird, ins Gedächtnis ruft. Aus Angst vor dem Ertrinken scheint er sogar den Moment der einschießenden Flut auf einen Ertrinkenden zu imaginieren: „Do you see the tide flowing quickly in on all sides, sheeting the lows of sands quickly, shellcocoacoloured? If I had land under my feet I want his life still to be his, mine to be mine. A drowning man. His human eyes scream to me out of horror of his death. I … With him together down... I could not save her. Waters : bitter death : lost.“ (U, S.55). In diesem kurzen Auszug aus „Proteus“ verbinden sich verschiedene Gedankengänge Stephens bezüglich der nahenden Flut, dem Erretten eines Ertrinkenden durch Buck Mulligan, der somit heroische Züge trägt, und dem Tod von Stephens Mutter, die er nicht zu retten vermochte. Trotz der Vielschichtigkeit des Zitats wird deutlich, dass die Gedankenströme Blooms und Stephens zwar ähnliche Verläufe nehmen, in diesem Falle zumindest, aber einen anderen Ausgang. Das Meer bleibt Stephen verhasst, wie schon die „rotzgrüne“ Farbe desselben suggeriert. Im weiteren Verlauf der Handlung erscheinen zwei ältere Damen am Strand, Anne Kearnes und Mrs Florence Mac Cabe. Letztere trägt eine Tasche mit einem für Stephen nicht zu identifizierenden Gegenstand. Seine Mutmaßungen bezüglich des Inhalts der Tasche sind überaus makaber, denn er vermutet eine Missgeburt in dem Beutel. Der vermeintliche Säugling wiederum lässt Stephen an die Nabelschnur und den Nabel selber denken: „Will you be as gods? Gaze in your omphalos. Hello. Kinch here. Put me on to Edenville. Aleph, alpha : nought, nought, one.“ (U, S.38). Die Assoziationskette Stephens ist bedeutsam, denn sie verweist auf ein Zitat aus der Genesis. Die 205

Schlange nämlich ermuntert Eva, von dem verbotenen Baum zu essen, dem Baum der Weisheit, der ihr und Adam göttliches Wissen und somit die Göttlichkeit selber verheißt. Auch der Antrieb Evas ist somit der Wunsch zur Erlangung der Göttlichkeit, die Möglichkeit einer Apotheose. Folge ihrer Sünde ist jedoch das genaue Gegenteil derselben, der Fall. Der Verweis auf die Bibelstelle lässt vermuten, dass auch Stephen nach göttlichem Wissen strebt. Dieses zu erlangen hilft ihm der Omphalos, der Bauchnabel bzw. die Nabelschnur, die als Verbindung zum Paradies gesehen wird. Es scheint, als erwäge Stephen mit der Hinwendung zur eigenen Mitte auch eine Art Rückbesinnung auf sich selber. Um seine Ziele zu erreichen lauscht er in sich hinein anstatt sich einem externen Primat zu unterwerfen. Wie Isabel Platthaus zudem betont, galt der Omphalos in der Antike als Eingangstor zur Unterwelt.396 Stephen betritt mit seinem Gedankenstrom die Unterwelt der Moderne, die eigenständige Welt des Unbewussten, welches seinen eigenen Gesetzen folgt und parallel zur Oberwelt, der Welt des Bewusstseins, besteht. Auch die Szenerie des dritten Kapitels lässt darauf schließen, dass Stephen sich mit jedem Schritt der Unterwelt nähert. Das Meer nämlich, das seinen Gedankenstrom lenkt und beeinflusst, wurde in der irischen Mythologie als Durchgang zur Unterwelt gesehen. Die Verstorbenen folgen dem Untergang der Sonne und gehen daher durch das Westmeer, den Atlantik, ihrer letzten Ruhestätte entgegen.397 Kain betont zudem, dass das Meer für das „eternal mystery“ aller Dinge stehe.398 Seine Unergründlichkeit und Unermesslichkeit erinnern an das Chaos in der Welt und die Unfähigkeit des Menschen dieses zu fassen. Das Meer im Werk Joyces übernimmt, wie auch in den Texten Manns, eine auf den Tod verweisende Funktion. Stephens Blick wendet sich schließlich vom Meer ab und gen Himmel: „Come. I thirst. Clouding over. No black clouds anywhere, are there? Thunderstorm. Allbright he falls, proud lightning of the intellect, Lucifer, qui nescit occasum.“ Folgt man Giffords Kommentar zum Ulysses, so ist auch diese Textstelle äußerst aufschlussreich, da Stephens Gedanken sowohl auf Jesus als auch auf Satan hindeuten. „I thirst“ ist der Ausdruck, den Jesus am Kreuze verwendet, um seine Hoffnung auszudrücken, dass die Heilige Schrift sich erfülle (Joh, 19,28). Das Gewitter und leuchtende Niederfallen jedoch verweisen auf Luzifer, den Lichtbringer, der aufgrund seines Hochmuts aus dem Himmel verbannt und in die Hölle gestürzt wurde (Lk, 10,18). Wie Joan Keenan bemerkt, kann das lateinische Zitat, welches einen Auszug aus der Ostermesse darstellt, sowohl auf Jesus als auch auf Satan angewandt werden. In der Bibel bezeichnet der morgendliche Stern häufig Christus, in Ovids Metamorphosen aber findet sich mehrfach die Bezeichnung „Lucifer“ für dasselbe Gestirn, Isabel Platthaus. Höllenfahrten. S.65. Vgl. Jean Paris. „Ulysse et la mer“ In: Lettres Nouvelles 45-50. 1957. S.841-859. 398 Richard M. Kain. Fabulous Voyager. S.166. 396 397

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so etwa in der Erzählung Ceyx und Alkione, die aufgrund der Beschreibung eines todbringenden Meersturmes unter schwarzen Himmel der „Proteus“-Episode stark ähnelt. Dass Joyce hier die Figuren Christi und Luzifers subtil miteinander verschmelzen lässt, hat zur Folge, dass die Aussage Stephens ambivalent erscheint.399 Wie schon im Werke Thomas Manns scheinen Gut und Böse ineinander überzugehen und als antagonistische Kategorien eine Aufhebung zu erfahren.

3.4.2 „Hades“ - Parallelen zur antiken Tradition der Unterweltfahrt Nach den ersten drei Kapiteln, der Telemachie, folgt der Auftritt Leopold Blooms, der ebenfalls auf das Buch Genesis anspielt: „Mr Leopold Bloom ate with relish the inner organs of beasts and fowls.“ (U, S.53). Im ersten Buch Mose wird Adam zum Herrscher über die neu erschaffene Erde sowie über die sie bevölkernden Tiere eingesetzt: „Und Gott schuf den Menschen zu seinem Bilde, zum Bilde Gottes schuf er ihn; und schuf sie als Mann und Frau. Und Gott segnete sie und sprach zu ihnen: Seid fruchtbar und mehret euch und füllet die Erde und machet sie euch untertan und herrschet über die Fische im Meer und über die Vögel unter dem Himmel und über das Vieh und über alles Getier, das auf Erden kriecht.“ (1. Mose, 1, 27). Mit dem Aufgreifen der biblischen Begriffe schlüpft Bloom in die Rolle des Adam, des ersten Menschen überhaupt, des Menschen schlechthin. Zwar scheint diese Rolle parodistische Züge zu tragen, da Bloom Tiere mit Vorliebe verspeist, doch wie sich im Laufe des Ulysses herausstellt, ist er ein ansonsten tierlieber Mensch, der die Schöpfung als solche schätzt und verantwortungsvoll mit seinen Mitgeschöpfen umgeht. Bloom ist auf Nächstenliebe bedacht und darüber hinaus ein gläubiger Mensch, der sich jedoch nicht auf eine einzige Religion festlegen ließe. Er ist gebürtiger Jude, konvertierte aber zum Katholizismus um Marion Bloom, ihrerseits aus Gibraltar stammend, zu ehelichen. Wie sich im Laufe des Romans zeigt, setzt Bloom sich mit Religion und ihren verschiedenen Formen und Riten auseinander, reflektiert sie jedoch auch kritisch. Dies wird vor allem bei seinem Besuch der Messe deutlich sowie im sechsten Kapitel des Ulysses, „Hades“. Wie Gilbert ausführlich darlegt, kennzeichnen das Kapitel zahlreiche Parallelen zur homerischen Odyssee. So identifiziert er etwa Paddy Dignam, zu dessen Bestattung die Trauergemeinde zusammen gekommen ist, als Elpenor. Beide Figuren neigen zur Trunksucht und sind aufgrund des Alkoholkonsums aus dieser Welt geschieden. Auch Paddy geht der Gesellschaft voran wie einst Vgl. Don Gifford. Ulysses Annotated. S.65.

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Elpenor in der homerischen Nekyia. Die Monumente, an denen der Trauerzug vorüberfährt, erinnern an griechische Heldenfiguren, welche Odysseus im Hades antrifft, wie etwa Herakles oder Agamemnon.400 In vielerlei Hinsicht erinnert das Kapitel „Hades“ jedoch eher an Aeneas' Reise in den Orkus als an Odysseus' Besuch des Hades. Wie in Vergils Epos dient das sechste Kapitel als Rahmen für die joycesche Katabasis. Ähnlich dem Anchises-Sproß Aeneas begegnen auch Leopold Bloom und Stephen Dedalus ihren Vorfahren, die allerdings fragliche Botschaften für sie bereit halten, im Gegensatz zu ihrem literarischen Vorläufer, der durch seinen Vater ermutigt wird, seine Reise fortzusetzen, um Rom zu gründen. Zudem erinnern die Pappeln auf dem Glasnevin Friedhof an die Schilderung der Unterwelt durch Vergil, deren Hof vor allem durch eine große und Schrecken erregende Ulme gekennzeichnet ist.401 Wiederum an die Aeneis anknüpfend, überquert die Trauergemeinde im Ulysses vier Flüsse, welche den Unterweltflüssen Styx, Acheron, Pyriphlegeton und Cocytus entsprechen. Trotz der Parallelen zu den Epen der Antike, deren Hadesfahrten von Sinnstiftung und Bedeutsamkeit für den Helden gezeichnet sind, entbehrt das Kapitel laut Isabel Platthaus jedweder Funktion für die Handlung, sondern zeigt lediglich, wie nicht mehr erzählt werden kann oder sollte, indem die Tradition der Hadesfahrt parodiert und karikiert wird. Platthaus hat insofern recht, als „Hades“ eine andere Funktion übernimmt als dies bei Homer und Vergil der Fall ist. Im Gegensatz zu Odysseus oder Aeneas, trifft Bloom nicht auf einen Seher wie ihn Teiresias oder auch Anchises verkörpern. Er erfährt weder von seiner glücklichen Heimkehr und einem friedvollen Tode, noch von einer bevorstehenden Gründung. Vergils Epos etwa kann als die Erzählung einer Gründung aufgefasst werden, die Gründung Roms, welche wiederum maßgeblich zur Gestaltung und Entwicklung Europas beigetragen hat. Bloom jedoch gründet lediglich in Gedanken bzw. im Traum das neue Bloomusalem, jedoch nicht in „Hades“, sondern erst in „Circe“. Insofern hat das sechste Kapitel des Ulysses keine prophetische Funktion, welche auf ein glückliches Ende der Erzählung deuten könnte. Auch ein gesellschaftlicher Nutzen oder eine politische Tragweite, wie sie in der Aeneis und der Odyssee durchaus zu finden sind, bleiben aus. Für Bloom jedoch hat der Besuch auf dem Friedhof und der mit ihm einhergehende Besuch der Unterwelt durchaus eine Funktion, da er ihm verdeutlicht, wie sehr er selber am Leben und am Diesseits hängt und ihm somit neuen Lebensmut, Lebenswillen und Lebensfreude eingibt.

Vgl. Stuart Gilbert. James Joyce's Ulysses. A Study. Faber & Faber. London. 1930. S.161f. Vgl. Isabel Platthaus. Höllenfahrten. S.141ff.

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Ein weiteres Motiv, welches Joyce von Homer und Vergil übernommen hat, ist das Vater-Sohn Motiv. In der Odyssee zieht Telemachus aus, um den verschollenen Vater zu finden. In der Aeneis hingegen, steigt der Protagonist eigens in den Hades hinab, um den bereits verstorbenen Vater anzutreffen und sich von ihm seine Zukunft weissagen zu lassen. In beiden Fällen ist das Verhältnis zwischen Vater und Sohn ein inniges und beruht auf Liebe, Respekt und Ehrerbietung sowie auf dem Fortführen des Erbes bzw. der Herrschaft. Denn Odysseus ist König von Ithaka und wird Telemachus einst zu seinem Nachfolger machen. Aeneas hingegen kommt die noch wichtigere und schwierigere Aufgabe zu, Rom zu gründen. Auch Bloom ist in Gedanken bei seinem verblichenen Vater und seinem verstorbenen Sohn Rudy. Durch Simon Dedalus' Bemerkung über dessen Sohn Stephen und vermeintlichen Freund Buck Mulligan ermuntert, konstatiert Bloom in Gedanken: „full of his son. He is right. Something to hand on. If little Rudy had lived. See him grow up. Hear his voice in the house. Walking beside Molly in an Eton suit. My son. Me in his eyes. Strange feeling it would be.“ (U, S.86). Anhand dieser Textstelle wird deutlich, dass auch Bloom daran gelegen wäre, seinem Sohn etwas weitergeben zu können, ihm im Leben zu helfen und zu einem selbständigen jungen Mann zu erziehen. Zudem spielt für ihn aber auch der Gedanke an ein Weiterleben eine Rolle. „Me in his eyes“ verweist auf die Ähnlichkeit zwischen Vater und Sohn und darauf, dass der Vater durch den Sohn weiterlebt und folglich von der Nachwelt nicht vergessen wird. Überhaupt bietet das Kapitel viele Informationen über die Hauptfigur Leopold Bloom, auch darüber, wie er sich in die Dubliner Gesellschaft einfügt.402 Während der Kutschfahrt zum Friedhof kommt das Gespräch auf den plötzlichen Herztod Paddy Dignams und auf Todesarten im allgemeinen. Mr Power kommt auf das Thema Suizid zu sprechen und darauf, was für eine Schande und Feigheit ein solcher darstelle. Da Blooms Vater den Freitod gewählt hat, kommen Erinnerungen in ihm hoch: That afternoon of the inquest. The redlabelled bottle on the table. The room in the hotel with hunting pictures. Stuffy it was. Sunlight through the slats of the Venetian blinds. The coroner's ears, big and hairy. Boots giving evidence. Thought he was asleep first. Then saw like yellow streaks on his face. Had slipped down to the foot of the bed. Verdict: overdose. Death by misadventure. The letter. For my son Leopold. No more pain. Wake no more. Nobody owns. (U, S.93).

Die Gründe für den Suizid des Vaters bleiben dem Leser verborgen, aber es wird deutlich, dass Bloom unter dessen Tod leidet, und durch den Lebenswillen, den er zum Ende des Kapitels beweist, wird zudem klar, dass er selber nicht in die Fußstapfen seines Vaters treten möchte. Denn sich das Leben nehmen, hieße in diesem Fall auch, die Familie aufzugeben und seinem Sohn, bzw. im Falle Vgl. „Preparatory to Anything Else: Introduction to Joyce's Hades“ In: Journal of Modern Literature 24. 2001. S.364.

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Blooms seiner Tochter Milly, kein guter Vater zu sein. Bloom aber nimmt seine Verantwortung als Vater sehr ernst. Er bemüht sich um eine gute Beziehung zu Milly und hätte auch seinem Sohn Rudy mit Rat und Tat zur Seite gestanden, hätte er die Möglichkeit dazu gehabt. Die beiden Textstellen verweisen in gewisser Hinsicht auf zwei Leerstellen in Blooms Leben. Er wurde des Vaters und des Sohnes beraubt, was eine tiefe Sehnsucht in ihm nährt, wie das spätere Interesse für Stephen Dedalus belegt. Zudem unterstreicht der Textauszug die Demütigungen, welche Bloom während des Trauerzuges und der Beerdigung widerfahren. Wenn Mr Power einen Suizid in der Familie als Schande bezeichnet, dann beleidigt er damit indirekt Bloom, was Martin Cunningham, neben Bloom der einzige Gutmensch in der Kutsche, sichtlich unangenehm berührt. Wie Francesco Gozzi ausführlich darstellt, wird Bloom das gesamte Kapitel über von den übrigen Trauergästen aufgezogen und gedemütigt, etwa wenn der Trauerzug zufällig Blazes Boylan, den Liebhaber seiner Frau, passiert und sie ihn darauf aufmerksam machen.403 Bloom beschließt, die Bemerkungen zu überhören und sich dem Betrachten seiner Nägel zu widmen. Während des ganzen Tages verdrängt er den Ehebruch seiner Frau. In „Circe“ jedoch wird er mit dem Liebhaber und der Untreue Mollys konfrontiert werden. Die einzige Schreckensvision, die Bloom während der Kutschfahrt in den „Hades“ überkommt, ist die Befürchtung, der Leichnam Paddy Dignams könne auf die Straße kullern: „Bom! Upset. A coffin bumped out on the road. Burst open. Paddy Dignam shot out and rolling over stiff in the dust in a brown habit too large for him. Red face: grey now. Mouth fallen open. Asking what's up now. Quite right to close it. Looks horrid open. Then the insides decompose quickly. Much better to close up all the orifices. Yes, also. With wax. The sphincter loose. Seal up all.“ (U, S.95). Die Textstelle offenbart dem Leser eine neue Seite Blooms, nämlich den Wissenschaftler, der sich für den Körper des Menschen und die Naturwissenschaften im allgemeinen interessiert. Seine Wortwahl erinnert an die von Buck Mulligan oder die von Hofrat Behrens. Er wirkt nüchtern und zynisch wie die Mediziner im Werke Joyces und auch Manns und sinniert über den menschlichen Körper als Maschine und das Herz als Motor derselben: A pump after all, pumping thousands of gallons of blood every day. One fine day it gets bunged up and there you are. Lots of them lying around here: lungs, hearts, livers. Old rusty pumps: damn the thing else. The resurrection and the life. Once you are dead you are dead. That last day idea. Knocking them all up out of their graves. Come forth, Lazarus! And he came fifth and lost the job. Get up! Last day! Then every fellow mousing around for his liver and his lights and the rest of his traps. Find damn all of himself that morning. Pennyweight of powder in a skull. Twelve grammes one pennyweight. Troy measure. (U, S.102).

Vgl. Francesco Gozzi. Fuori del labirinto. Appunti per uno studio sull' «Ulisse» di Joyce. ETS. Pisa. 1987. S.98f.

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Zudem spielt Bloom hier auf die Unterweltriten der ägyptischen und auch der christlichen Tradition an, in denen das Herz auf einer Waage gewogen wird, um die Güte bzw. Sündhaftigkeit jedes Verstorbenen festzustellen und ihm daraufhin seinen Platz in der Unterwelt zuzuweisen. So besagt die Ägyptische Mythologie, dass die Verstorbenen vor ein Totengericht gestellt werden, wo ihr Herz bezüglich ethischer und moralischer Größe und seiner Verfehlungen gewogen wird. Vorsitzender des Gerichtes ist der Gott Osiris, wobei ihm unter anderem der Schreibergott Thot als Protokollant zur Seite steht. In der christlichen Tradition nimmt der Erzengel Michael diese Rolle ein, wenn er als Beisitzer beim Jüngsten Gericht die Herzen der Verstorbenen wägt und sie zudem ins Totenreich hinabführt. Dass Bloom als nüchterner Mann der Wissenschaft und Mediziner auftritt, macht ihn zudem Settembrini vergleichbar, der anhand seiner aufklärerischen Tätigkeit die Welt zu verbessern sucht. Auch Bloom scheinen ähnliche Motive anzuleiten, wenn er über den Körper des Menschen sinniert, aber etwa auch wenn er über mögliche städtische Projekte, wie eine Tramlinie durch das Zentrum Dublins, ähnlich der in Mailand, nachdenkt. Wie Platthaus betont, wird die Szenerie und die Atmosphäre des Kapitels stetig düsterer und erreicht ihren Höhepunkt auf dem Glasnevin Cemetery, welcher für Bloom das jenseitige Gefilde darstellt.404 Die Pappeln, die den Friedhof zieren, fügen sich gut in die todverheissende Umgebung und auch Cerberus, der von Vergil beschriebene Höllenhund, ist auf seine Art vertreten, da ein Händler (Hunde-)Kuchen und Früchte verkauft: „Paltry funeral: coach and three carriages. It's all the same, Pallbearers gold reins, requiem mass, firing a volley. Pomp of death. Beyond the hind carriage a hawker stood by his barrow of cakes and fruit. Simnel cakes those are, stuck together: cakes for the dead. Dogbiscuits. Who ate them? Mourners coming out.“ (U, S.97). Der zum Verkauf angebotene Simnel Cake erinnert Bloom an die Betäubung des Höllenhundes durch die Seherin Sybille, welche diesem in der Aeneis einen Brocken mit Honig und Kräutern vorwirft, um ihn zu besänftigen. Interessant ist die Art des Kuchens, denn Simnel Cakes werden für gewöhnlich zu Ostern gegessen und nicht erst Mitte Juni. Der Verweis auf das österliche Fest lässt also an die Auferstehung Jesu am dritten Tag nach seinem Tode denken und nimmt dem Tod, welcher das Kapitel beherrscht, seinen Schrecken. Denn die Auferstehung Jesu und seine Bezwingung des Todes verheissen auch den Menschen ein Leben nach dem Tode und können daher als sinnstiftende Momente gedeutet werden.

Vgl. Isabel Platthaus. Höllenfahrten. S.143.

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3.4.3 Auf Dantes Spuren – Karikatur Father Coffeys und der kirchlichen Riten Dennoch lässt Joyce es sich bei der Schilderung von Paddy Dignams Beerdigung nicht nehmen, die katholische Kirche und ihre Vertreter auf Erden zu karikieren. Father Coffey, dessen Name schon an das Wort „coffin“, zu deutsch „Sarg“, erinnert, wird vor allem durch tierische Attribute ausgezeichnet und erinnert unter anderem an den Höllenhund Cerberus: „Bully about the muzzle he looks. Bosses the show. Muscular Christian. Woe betide anyone that looks crooked at him: priest. Thou art Peter. Burst sideways like a sheep in clover Dedalus says he will. With a belly on him like a poisoned pup.“ (U, S.100). Der Priester scheint kräftig zu sein ums „Maul“ und auch sein Bauch ist durchaus aufgebläht, was auf seinen hohen Lebensstandard schließen lässt, auch da die Wendung „in clover“, wörtlich „im Klee“, für ein Leben in Saus und Braus stehen kann. Zudem werden Parallelen zu einem weiteren Tier gezogen, der Kröte. Father Coffey liest „with a fluent croak“ und auch sein Äußeres entspricht diesem Eindruck. So verfügt er über „eyes of a toad“ und sein geschwollener Wanst erinnert an einen aufgeblasenen Frosch. Wie Kreutzer ausführt, mischt Joyce hier menschliche und tierische Attribute und greift damit ein wesensgemäß groteskes Motiv auf, welches die Annäherung des Banalen an das Sakrale nahelegt.405 Der Mensch wird in seiner Ganzheit und Ambivalenz dargestellt, die auch tierische, ja hündische Eigenschaften umfasst. Die Aufgeblasenheit des Priesters hat dabei mehrere Hintergründe. Zum einen verweist sie auf eine den Priestern nachgesagte Arroganz, da diese sich teils als besser gestellt ansehen und das Fußvolk belächeln, zum anderen auf die heisse Luft, welche sie verbreiten. Dies wird auch durch Blooms mentale Notiz über das Kirchenlatein deutlich: „Makes them feel more important to be prayed over in Latin.“ (U, S.100). Die lateinische Liturgie wird hier als Relikt dargestellt, welches in heutiger Zeit obsolet geworden ist, und das Priester und Gemeinde einander nicht näher bringt, sondern sie entzweit und voneinander sondert. Zudem vermutet Bloom, dass der Priester aufgrund der vielen Totengase, welche die Verstorbenen absondern, derart aufgebläht sein könnte: „What swells him up that way? Molly gets swelled after cabbage. Air of the place maybe. Looks full of up bad gas. Must be an infernal lot of bad gas round the place.“ (U, S.100). Die Ähnlichkeit Father Coffeys mit einem Frosch verweist zudem auf einen weiteren literarischen Referenztext, der sich mit dem Mythos der Unterweltreise befasst, Die Frösche von Aristophanes. Da der Komödienschreiber den Gott Dionysos und dessen Reise in die Unterwelt persifliert und ironisch schildert, nimmt „Hades“ somit in Bezug auf die Kirchenvertreter parodistische Züge an. Dionysos nämlich fungiert nicht als Held der Komödie, nicht einmal mehr als zu identifizierende Hauptfigur, da auch der Dichter Aischylos eine wichtige Funktion übernimmt Vgl. Eberhard Kreutzer. Sprache und Spiel in »Ulysses« von James Joyce. Bouvier Verlag. Bonn. 1969. S.21ff.

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und mit ihm um die Vormachtsstellung konkurriert. Durch die Bevorzugung Aischylos' durch Pluton, den Herrscher der Unterwelt, wird Dionysos geradezu entthronisiert und entgöttert. Im Gegensatz dazu erfährt Aischylos eine regelrechte Apotheose, da er einen Gott im Dichterwettkampf bezwungen hat. Hierarchische Ordnungen, wie etwa die der Götter, aber bei Joyce auch die der katholischen Kirche, werden somit in Frage gestellt und relativiert. Der Unterweltgott Pluton der römischen Mythologie bzw. das griechische Pendant Hades tritt im sechsten Kapitel des Ulysses ebenfalls auf. Er wird verkörpert durch den Totengräber und Friedhofswärter John O'Connell, der Vater von acht Kindern ist. Bloom fragt sich, was dessen Anziehung auf Frauen ausmacht: „Fancy being his wife. Wonder how he had the gumption to propose to any girl. Come out and live in the graveyard. Dangle that before her. It might thrill her first. Courting death... (…) Love among the tombstones. Romeo. Spice of pleasure. In the midst of death we are in life. Both ends meet.“ (U, S.104). Joyce spielt hier auf das Paradoxon an, dass der Tod Teil des Lebens ist und das er das Leben sogar beflügeln und intensivieren kann. Dies zeigt auch die Überlegung Blooms, dass das Blut und die Kadaver der Toten Dünger für die Erde und Pflanzen sind und dass diese umso besser gedeihen. Die Koinzidenz der sich scheinbar ausschließenden Gegensätze ist eine der Quintessenzen des Kapitels und wird in dem Kapitel „Circe“ erneut aufgegriffen. Sie ist bei Joyce weniger religiös gefasst als bei Nikolaus von Cusanus, der den Begriff maßgeblich prägte. Im Ulysses trägt dieses Zusammenfallen pantheistischen, beinahe philosophischen Charakter und ist mit der Idee verknüpft, dass alles miteinander verbunden ist. Dass das Blut der Toten das (botanische) Leben des Glasnevin Cemetery anregt, kann zudem als weiterer Verweis auf die homerische Odyssee gelesen werden, wo Odysseus die Toten durch ein Blutopfer an die Erdoberfläche lockt und zum Reden ermutigt. Erst durch das Blut werden die blassen Schatten der Nekyia zu aktiven und interessierten Gesprächspartnern für den Helden. Die Fruchtbarkeit des Todes zeigt sich auch darin, dass John O'Connell Vater von acht Kindern ist. Im antiken Mythos wird sie unter anderem in der Wiederkehr Persephones aus dem Hades dargestellt, da diese jeden Frühling aufs Neue die Pflanzen mit sich führt. Neben Father Coffey und O'Connell erinnert eine weitere Figur an die Unterwelt der klassichen Antike: Martin Cunningham. Der gutmütige Bekannte Blooms nämlich hat eine Alkoholikerin geehelicht, die regelmäßig den Hausstand versäuft: „And that awful drunkard of a wife of his. Setting up house for her time after time and then pawning the furniture on him every Saturday almost. Leading him the life of the damned. Wear the heart out of a stone, that. Monday morning start afresh. Shoulder to the wheel.“ (U, S.93). Joyce verknüpft hier gleich zwei Gestalten der traditionellen Mythologie, um sie in Cunningham zu vereinen. Zum einen verkörpert er Sisyphos, 213

der mit Schulter und Armen einen enormen Stein den Berg hochzustemmen versucht, zum anderen Ixion, welcher auf ewig an ein Rad gefesselt bleibt. Die Aussage bleibt dieselbe, denn die Situation Martin Cunninghams scheint ausweglos und unveränderlich zu sein. Sein persönliches Schicksal, die Eskapaden seiner trunksüchtigen Ehefrau, wiederholt sich in regelmäßigen Abständen sowie auch die (Welt)Geschichte als solche in stetiger Wiederholung begriffen ist. Die wohl am schwierigsten zu fassende Figur in Joyces „Hades“ ist der Unbekannte im Macintosh. Wie Mitchell Morse betont, erinnert der Fremde an den Wanderer im Tod in Venedig, den Gustav Aschenbach auf dem Münchner Nordfriedhof erblickt.406 Er taucht wie aus dem Nichts auf dem Friedhof auf und verschwindet nach der Bestattung Dignams ebenso plötzlich wieder. Zudem scheint ihn niemand zu kennen, denn auch Hynes, der die Namen der Anwesenden notieren und später im Freeman Journal veröffentlichen soll, muss nach seinem Namen fragen. Er ist der Trauergemeinde unbekannt, aber auch unheimlich, wie Stuart Gilbert feststellt. Mit dem Begriff „uncanny“ greift Gilbert die Terminologie Martin Heideggers auf, der darunter die existentielle Angst vor dem Nichts bzw. dem Nicht-zu-Hause sein in der Welt versteht. Auch dies scheint eine Furcht vor der Unstetheit und der Wanderschaft zu beinhalten und verweist somit wiederum auf die Legende vom Wandering Jew. Jene Deutung wird von dem Umstand gestützt, dass der Mann im Macintosh schäbige und heruntergekommene Kleidung trägt und seine Schuhe stark abgenutzt sind. Gilbert glaubt den „13th mourner“, den 13. Trauergast, mit dem homerischen Seher Theoclymenos identifizieren zu können,407 was jedoch eine fragwürdige Deutung darstellt, da der Unbekannte keine Funktion für die Jenseitsreisenden übernimmt und ihnen keine Vision zu teil werden lässt. Er scheint eher ein großes Fragezeichen, ein unerklärliches Geheimnis zu verkörpern. Dass der Fremde der 13. Trauergast ist, verweist zudem ironisch auf die Bibel, auf das letzte Abendmahl Jesu mit den zwölf Jüngern, bei dem Judas den 13. Gast darstellte. Bloom, welcher der Person Jesu am nächsten kommt, wird in diesem Kapitel mehrfach verraten und bloßgestellt. Die Antipathie, die die meisten Dubliner gegen ihn hegen, resultiert nicht zuletzt aus seiner jüdischen Abkunft und seiner Außenseiterrolle. Da er ein Exilant und Wanderer zu sein scheint, zieht Nabokov die Schlussfolgerung, der Mann im Macintosh könnte Joyce selber verkörpern und der Autor sich somit in den Ulysses eingeschlichen haben.408 Die Deutung Mitchell Morses jedoch scheint der Wahrheit deutlich näher zu kommen. Tatsächlich erinnert der Fremde in „Hades“ an den Fremden im Tod in Venedig. Auch er begleitet im weiteren Verlauf der Handlung die Gedanken Blooms und erfährt in der Traumvision „Circe“ einen erneuten Auftritt. Ähnlich den Figuren Thomas Manns kann der Mann im Macintosh als J. Mitchell Morse. „Joyce and the early Thomas Mann“ S.379. Stuart Gilbert. James Joyce's Ulysses. S.165f. 408 Vladimir V. Nabokov. Lectures on Literature. Harcourt Brace Jovanovich (u.a.). New York. 1980. S.317f. 406 407

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weiteres Symbol der sublimierten Wünsche und des Todestriebes, des Thanatos gedeutet werden. Aufgrund Blooms Angst vor dem Tod erscheint er diesem unheimlich. „Bloom stood far back, his hat in his hand, counting the bared heads. Twelve. I'm thirteen. No. The chap in the macintosh is thirteen. Death's number. Where the deuce did he pop out of? He wasn't in the chapel, that I'll swear. Silly superstition that about thirteen.“ (U, S.106). Das Zitat belegt sowohl das plötzliche und für Bloom verstörende Erscheinen des Fremden als auch die Symbolhaftigkeit des Umstands, dass er der 13. Trauergast ist. Auch wenn Bloom dies gegen Ende des Zitats als Aberglaube abtut, geht der Fremde ihm nach.

3.4.4 Missglückte Totengespräche Wie Isabel Platthaus anmerkt, versucht Bloom während seines Ganges über den Friedhof mit den Toten in Kontakt zu treten. Er sinniert zunächst über die Grabinschriften, da er es schöner fände, wenn etwas aus dem Leben des Toten, etwa ein besonderes Talent seinerseits, in die Steine eingraviert würde. Daraufhin fragt er sich, wie viel Tausende schon in Dublin gestorben sein mögen und wie die Erinnerung an die Toten wachgehalten werden könnte: „Besides how could you remember everybody? Eyes, walk, voice. Well, the voice, yes: gramophone. Have a gramophone in every grave or keep it in the house. After dinner on a Sunday. Put on poor old greatgrandfather Kraahraark! (…) Remind you of the voice like the photograph reminds you of the face. Otherwise you couldn't remember the face after fifteen years, say.“ (U, S.109). Die neue Technik macht es theoretisch möglich, die Stimme der Verstorbenen zu konservieren, doch die Ausführungen Blooms wirken grotesk und der Gedankengang läuft ins Leere. Letztlich geht es Bloom auch weniger um eine tatsächliche Kommunikation mit den Toten oder Totengesprächen im Sinne Lukians, sondern darum, die Erinnerung an die Verstorbenen wachzuhalten. Jacques Derrida beschreibt die Funktion des Motivs in „Hades“ folglich als „désir de mémoire“.409 Blooms Wunsch gemäß, die Verstorbenen nicht zu vergessen, denkt er häufig über seine dahingeschiedenen Eltern sowie seinen Sohn Rudy nach und möchte diese nicht dem Vergessen anheim geben. Auch er selber sträubt sich innerlich dagegen, vergessen zu werden. Bedenkt man jedoch die literarische Tradition der Katabasis und insbesondere des Flusses Lethe bei Vergil, so ist ein Vergessen nach angemessener Zeit erwünscht, da es einen entscheidenden Beitrag zur Bewältigung der Vergangenheit leistet. Erst das Vergessen auch der eigenen Schuld - etwa wenn man an Stephens Schuldgefühle gegenüber seiner Mutter denkt - macht den Menschen frei und lässt ihm Raum zur Gestaltung des eigenen Lebens. Jacques Derrida. Ulysse Gramophone: Deux mots pour Joyce. Galilée. Paris. 1987. S.90.

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Blooms Gedanken bezüglich der Erinnerung der Toten werden von einem Blätterrascheln unterbrochen, welches von einer umherlaufenden Ratte herrührt: „An obese grey rat toddled along the side of the crypt, moving the pebbles. (…) One of those chaps would make short work of a fellow. Pick the bones clean no matter who it was. Ordinary meat for them. (U, S.110). Die Gedanken Blooms über die Tausenden von Toten auf der Welt und dass sie den Würmern und den Ratten als Futter dienen, belegen zweierlei. Zunächst verdeutlichen sie eine Nivellierung der Menschen bzw. der gesellschaftlichen Schichten im Tod, da dieser keinen Unterschied zwischen König und Bettler, Adel und Fussvolk macht. Aus dieser Überlegung folgt zudem eine Entindividualisierung der Figuren. Paddy Dignam wird entseelt und dient nun lediglich noch als Dünger für die Mutter Erde. Zu dieser Entindividualisierung trägt auch bei, dass Joyce seinen Figuren verschiedene mythische Rollen zuweist, wenn er etwa Stephen als Daidalos oder Satan, Bloom hingegen als Jesus oder später auch als Elijah auftreten lässt. Gegen Ende des Kapitels fällt vor allem Blooms zynischer Galgenhumor auf. Er geht makaberen und realistischen Gedanken über den Tod und über Bestattungsmöglichkeiten nach, wobei ihm eine Art Mock Liturgy in den Sinn kommt, welche die Liturgie der Kirche zu parodieren scheint: „We are praying now for the repose of his soul. Hoping you're well and not in hell. Nice change of air. Out of the frying pan of life and into the fire of purgatory.“ (U, S.107). Anhand von Ironie versucht Bloom den Gedanken an den Tod in die Ferne zu rücken und zu verharmlosen. Dies erreicht er auch, indem er das Leben selber als „frying pan“, also als Bratpfanne, bezeichnet. Folglich gleicht auch das Leben, das Diesseits, einer Hölle, durch die der Mensch sich tagtäglich bewegt. Dass Bloom das eigene Lebensende Unbehagen bereitet, zeigt vor allem der Schluss des Kapitels, da dort sein Lebenswille und seine regelrechte Flucht vor dem Friedhof deutlich wird: The gates glimmered in front: still open. Back to the world again. Enough of this place. (…) There is another world after death named hell. I do not like that other world she wrote. No more do I. Plenty to see and hear and feel yet. Feel live warm beings near you. Let them sleep in their maggoty beds. They are not going to get me this innings. Warm beds: warm fullblooded life.” (U, S.110).

Goldberg bemerkt in The Classical Temper, dass die Ironie in „Hades“ nicht nihilistisch verstanden werden dürfe. “On the contrary, the adjustments of our vision it performs are sympathetic, not hostile, to Bloom, and underline his positive vitality.”410 Die Lebhaftigkeit Blooms, welche das Kapitel beschließt, ist bereits im Tod selber angelegt, wie Gozzi feststellt: „In accordia al principio della coincidentia oppositorum, la morte implica infatti la vita (…). In questo sesto capitolo la Samuel L. Goldberg. The Classical Temper. A Study of James Joyce's Ulysses. Chatto and Windus. London. 1961. S.280. 410

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morte rappresenta il polo principale e la vita quello secondario.“411 Gozzi spielt hier auf die im Werke Joyces allgegenwärtige Koinzidenz der Gegensätze an, welche aus der Einheit aller Dinge und ihrer Verbundenheit miteinander resultiert. Don Gifford macht zudem darauf aufmerksam, dass der Verweis auf die Pforten des Friedhofs an die Ausgangstore des Elysiums in der Aeneis erinnern. Das Ende der aeneischen Unterweltsschau verdeutlicht noch einmal die Nähe dieses Mythologems zum Traum und zur Vision. Besonders deutlich wird diese Nähe bei Joyce in dem „Circe“-Kapitel, aber auch in „Hades“ wird sie berücksichtigt. Schließlich handelt es sich bei diesem Totenbesuch der Moderne nicht um einen tatsächlichen Descensus ad inferos, sondern der Abstieg ins Schattenreich erfolgt großenteils in den Gedanken Blooms. Sein Gedenken an Paddy Dignam, an den eigenen Vater und den verstorbenen Sohn sowie die Überlegungen bezüglich Tod und Bestattungsriten stellen den Schatten dar, welcher in diesem düster gehaltenen Kapitel über Bloom hängt. Auch die Parallelen zu Homer und zu Vergil gehen auf die Wahrnehmung des Protagonisten zurück, dessen „stream of consciousness“ der Leser unentwegt folgt. Zudem wird diese Hadesfahrt von Angst und Beklemmung bestimmt, da an mehrfacher Stelle deutlich wird, dass Bloom den Tod und insbesondere das ihm anhaftende Vergessen fürchtet. Der Abstieg zu den Schatten in „Hades“ stellt folglich eine Internalisierung des katabatischen Topos dar, da sich das Geschehen im Inneren Blooms zuträgt, wobei sowohl Kopf als auch Herz, das Organ, unter dessen Stern dieses Kapitel steht, eine Rolle spielen. Dass „Hades“ dem Traum verwandt ist, belegt zudem die Technik des Kapitels, welche als „Incubism“ beschrieben wird und auf den „Incubus“ zurückgeht, „an evil male spirit said to produce nightmares.“412 Der Incubus galt vor allem im Mittelalter als Teufelsfigur, die auf die Erde kam, um schlafenden Frauen beizuliegen. Mit ihm wurden häufig erotische Träume und nächtliche org*smen verbunden, was wiederum das Eros-Thanatos-Motiv aufgreift, welches auch im Mannschen Werk von immanenter Bedeutung ist. So erhält „Hades“ eine alpträumerische, aber auch sexuelle Komponente, wie insbesondere der Schluss belegt. Die Flucht, welche Bloom ergreift, lässt ihn an das eheliche Bett und den in ihm vollzogenen Geschlechtsverkehr denken. Das Motiv geht wiederum auf die Odyssee zurück, wo Odysseus zu Ende des Epos von der Erbauung des eigenen Ehebettes um eine feststehende große Eiche herum erzählt und sich seiner Penelope somit als ihr wahrer Ehemann erweist. Das Bett und der darin vollzogene Akt werden damit zum Symbol für den Nostos, die Heimkehr des Odysseus. Darüber hinaus verweisen sie auch auf seine Potenz und auf seine wiedererlangte Macht im Königreich Ithaka. Bei Joyce nun wird dieses Motiv ironisch verkehrt, da Bloom sein Bett an Mollys Liebhaber Boylan Gozzi. Fuori del labirinto. S.94. Vgl. Don Gifford. Joyce Annotated. S.104.

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abtritt und dieses somit zum Symbol der sexuellen Frustration Blooms wird. Den ganzen Tag über klingt ihm das „jingle“ in den Ohren, welches die alten Bettfedern beim Ehebruch Mollys verlauten lassen. Dass das Motiv derart umgedeutet wird, legt nahe, dass Bloom impotent ist und im übertragenen Sinne auch keinen Einfluss auf die Politik und die Gesinnungen in Dublin hat. Er wird eben nicht zum Herrscher über das neue Bloomusalem und kann seine Gutmütigkeit und seine Humanität nicht zum Dogma der Stadt machen. Auch sein Einfluss auf Stephen bleibt letztlich ungewiss; das den Roman beschließende „Yes“ Mollys jedoch deutet an, dass Blooms gutmütiger Charakter durchaus geschätzt wird und seine Menschlichkeit somit nicht gänzlich ins Leere läuft.

3.4.5 „Circe“ – A heaven and hell show Die Koinzidenz der Gegensätze, welche eines der maßgeblichen Motive in „Hades“ darstellt, wird auch in dem 15. Kapitel des Ulysses, „Circe“, wiederaufgenommen. Joyce vereint in diesem Kapitel Wunschtraum und Alptraum, wenn er seine Protagonisten Leopold Bloom und Stephen Dedalus in die sublimierte Welt ihres eigenen Unbewussten hinabsteigen lässt. Zudem folgt er der Tradition Homers, Circe und Hades in einem engen Zusammenhang stehen zu lassen. In der homerischen Odyssee wird der Besuch des Hades eingerahmt von dem einjährigen Aufenthalt Odysseus bei der Zauberin Circe auf der Insel Aiaia. Und auch nach der Nekyia besucht der Irrfahrende die Magierin, um von der Fahrt zu berichten. Es ist Circe, welche die Hadesfahrt des Odysseus anregt und ihn somit seiner Prophezeiung durch Teiresias teilhaftig werden lässt. Auch Joyce verbindet die beiden Episoden der Odyssee, indem er im Rahmen des Kapitels „Circe“ eine wahre Höllenfahrt inszeniert oder mit den Worten Ezra Pounds, „a new Inferno in full sail.“ 413 „Circe“ ist jedoch mehr als die Beschreibung eines neuen Infernos. Wie Hermann Broch richtig beobachtet, zeigt das Kapitel die „Totalität des Lebens“ auf, Himmel und Hölle, Traum und Realität. Die Kategorien werden zur Gänze durchgespielt und häufig fühlt sich der Leser ein wenig verloren, wenn Bloom und Stephen zwischen realer Welt und Traumwelt oszillieren. Dieses Ineinanderfließen der verschiedenen Seinszustände ist bei den Symbolisten, denen Joyce in vielem nahe steht, nicht ungewöhnlich, denn es handelt sich um „literature in which the visible world is no longer a reality, and the unseen world no longer a dream.“414

Forrest Read (Hrsg.) Pound/Joyce. The Letters of Ezra Pound to James Joyce. With Pound's Essays on Joyce. Faber & Faber. London. 1967. S.189. 414 Arthur Symons. The Symbolist Movement in Literature. Haskell Press. New York. 1971. (1911). S.4. 413

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3.4.6 „Snakes of river fog“ - Infernalisches Setting Gleich zu Beginn von „Circe“ wird deutlich, dass die Form des Kapitels dramatisch angelegt ist. Stanzel betont, dass der Autor die dramatische Form vermutlich gewählt habe, „um das phantasmagorische Traum-Wachbild dieses Walpurgisnacht-Kapitels von den episch gestalteten, erfahrungsnahen Teilen des restlichen Romans abzugrenzen.“415 „Circe“ darf folglich als eine Art Traum gedeutet werden, in welchen reale Elemente Eingang finden. Traum und Realität verschwimmen zunehmend, wie im folgenden deutlich wird. Joyce beschreibt den Auftritt Blooms, welcher Stephen und Lynch ins Rotlichtmilieu Dublins gefolgt ist, mit ausführlichen Szenenanweisungen, welche eine mystische, unheimliche und infernalische Atmosphäre evozieren: Snakes of river fog creep slowly. From drains, clefts, cesspools, middens arise on all sides stagnant fumes. A glow leaps in the south beyond the seaward reaches of the river. The navvy staggering forward cleaves the crowd and lurches towards the tramsiding. On the farther side under the railway bridge Bloom appears flushed, panting, cramming bread and chocolate into a side pocket. From Gillen's hairdresser's window a composite portrait shows him gallant Nelson's image. A concave mirror at the side presents to him lovelorn long lost lugubru Booloohoom. (U, S.412f.).

Die anfängliche Beschreibung der Hell's Gates - wie die Kreuzung am Anfang des Rotlichtbezirks unter Dublinern genannt wird - gleicht der Beschreibung der Bergschluchten und Felsspalten während Hans Castorps Reise auf den Berghof. Rauchschlangen hängen in der Luft und Schwaden von Qualm entsteigen aller Art von Ritzen, als lauere unter der Erde das Inferno Dantes, aus dem die unheilschwangere Luft entweicht. Auch Blooms sexuelle Vorliebe für menschlichen Kot wird gleich zu Anfang aufgegriffen, wenn von „cesspools“, Klär- und Abwasserkanälen, die Rede ist. Das Vokabular, insbesondere Wörter wie „flushed“ oder „glow“, verweist zudem auf den Übertritt in die Hölle, könnte darüber hinaus aber auch auf den Brand im Zentrum Dublins hindeuten, der später in dem Kapitel erwähnt wird. Die „Snakes of river fog“, also die Nebelschlangen, welche dem Fluss entsteigen, können als Attribut des Teufels gedeutet werden, der sich Eva das erste Mal in Form einer Schlange genähert hat, um diese zum Sündenfall zu verführen. Zudem ist die Schlange ein phallisches Symbol und verweist somit auf die sexuelle Komponente des Kapitels. Vor allem Bloom durchlebt seine geheimsten sexuellen Wünsche, sei es die Erniedrigung durch die Puffmutter Bella Cohen, oder sei es der voyeuristische Akt, wenn er beim Ehebruch seiner Frau Molly mit Blazes Boylan durch das Schlüsselloch zusieht. Das Übertreten Blooms in die Unterwelt wird durch ein weiteres Motiv angedeutet, den konkaven Franz Stanzel. Die typischen Erzählsituationen im Roman. Braumüller Verlag. Wien. 1955.

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Spiegel des Friseursalons, welcher ihm sein Spiegelbild zeigt, indem er aber „lovelorn long lost“ erscheint. Der Spiegel als Zugang zur Unterwelt findet sich als katabatisches Motiv vor allem in der Kunst des 20. Jahrhunderts, etwa in den Filmen Jean Cocteaus. Es findet vereinzelt auch schon im 18. und 19. Jahrhundert Verwendung, das berühmteste Beispiel hierbei stellt Goethes Faust dar. In der Zauberküche erscheint dem Gelehrten die schöne Helena im Zauberspiegel und führt ihm somit seinen Wunsch nach sinnlicher Schönheit und Klassizität vor. Auch Goethe greift in gewisser Weise auf das Stilmittel der Ironie zurück, wenn er Faust Helenen in jedem Weibe sehen lässt und dieser statt des griechischen Ideals die eher unscheinbare Margarete zu seiner Angebeteten macht. Im Falle Blooms jedoch handelt es sich um einen konkaven Spiegel, also einen Zerrspiegel, welcher ihn größer erscheinen lässt, als er tatsächlich ist. Das Motiv verweist also auch auf die Problematik, wie Realität adäquat dargestellt werden kann und ob diese nicht generell eine problematische, da subjektive Kategorie darstellt. Damit verbunden ist das „sich nach Liebe verzehrende, verlorene“ Spiegelbild Blooms, welches ihn in die Nähe seines literarischen Vorläufers Odysseus rückt, der sich auf langer Irrfahrt nach seiner treuen Penelope sehnt. Auch Bloom ist den ganzen Tag über unterwegs, seine Gedanken allerdings sind bleiben seinem Zuhause und seiner Frau verhaftet. Der Weg zur Unterwelt der Bella Cohen wird Bloom erschwert. Zweimal wird er beinahe tatsächlich in das Reich des Jenseits befördert, denn als er versucht, die Straße zu überqueren, läuft er Gefahr, von zwei Radfahrern überfahren zu werden. Kurz darauf, bei seinem zweiten Versuch, die Straße zu kreuzen, kommt ihm ein Sandstreuer gefährlich nahe: „No thoroughfare. Close shave that but cured the stitch. Must take up Sandow's exerciser again. On the hands down. Insure against street accident too.“ (U, S.414). Die beiden Vorkommnisse scheinen Bloom zu bedeuten, dass er besser kehrt machen würde. Da dieser aber vor allem an Stephen denkt, den er beobachten und auch schützen möchte, setzte er seinen Weg ins Bordell fort. Nachdem Bloom die Straße überquert hat, erwartet ihn ein unheimlicher Geleiter, der ihn den jenseitigen Gefilden zuzuführen sucht: „A sinister figure leans on plaited legs against O'Beirne's wall, a visage unknown, injected with dark mercury. From under a wideleaved sombrero the figure regards him with evil eye.“ (U, S.415). Diese Figur erinnert, wie auch die Figuren Thomas Manns, an Hermes Psychopompos, nicht zuletzt wegen seines breitkrempigen Huts und wegen des Verweises auf „dark mercury“, denn der Gott Merkur ist lediglich das römische Äquivalent des griechischen Gottes Hermes. Dieser geleitet ihn folglich in das Totenreich, welches im Falle des Ulysses in einem Bordell verortet ist, und somit an den Bordellbesuch Adrian Leverkühns im Doktor Faustus erinnert. Die Hermes-Figur ruft wiederum, vor allem wegen ihres beängstigenden Blickes, den Fremden in Thomas Manns Tod in Venedig in Erinnerung. Menschen, welche das „evil eye“, den bösen Blick, besitzen, bringen zufolge des in vielen Kulturkreisen verbreiteten 220

(Aber-)Glaubens, Unheil und Tod über den Angeschauten. Folglich nähert sich auch Bloom dem Reich der Toten, wenn er der Auskunft des Fremden folgt. Er entspricht dabei rituellen Mustern, wenn er sich selber erinnert, sich stets rechts zu halten: „Keep to the right, right, right (…) rags and bones at midnight.“ (U, S.415). Die Wiederholung des Wortes „right“ und später des Wortes „keep“ verweisen auf die kirchliche Liturgie, die ebenfalls von Repetition und Eingängigkeit geprägt ist. Zudem scheint sich Bloom Mut zuzusprechen während er der Grenze zum Hades näher kommt. Dass er sich rechts hält, gemahnt zudem auf die Einteilung der Unterwelt in Tartaros und Elysium in Vergils Aeneis, in welcher sich der Weg nach dem Durchgang zur Eingangspforte teilt. Der linke Pfad führt zum Tartaros, der Strafhölle, in welcher die Sünder für ihre Vergehen büßen müssen. Der rechte führt zu den elysischen Feldern, dem Reich der Seligen. Bloom ist gewillt, das Reich der Toten zu betreten, hofft aber, wie Aeneas, auf einen friedvollen Aufenthalt und eine eventuelle Zusammenkunft mit der Familie, mit Vater und Sohn, wie dies Aeneas vergönnt ist.416 Tatsächlich trifft er auf seine Vorfahren und Anverwandten, erhält im Gegensatz zu dem Anchises-Spross aber zwielichtige und ambivalente Auskünfte.

3.4.7 Prüde und Prostituierte – Blooms Geleiter in die Hölle Circes Zunächst begegnet Bloom seinem Vater Rudolph. Dieser erscheint in einem Kaftan, wie ihn die Ältesten in Zion, der Stadt Jerusalem bzw. dem Jahwe zugeschriebenen Wohnsitz, zu tragen pflegen. Rudolph tritt als Vertreter des Judentums auf und macht es Bloom zum Vorwurf, dass dieser seiner Frau zuliebe zum Katholizismus konvertiert ist. Zudem erinnert er Bloom an einen Vorfall aus dessen Kindheit, als er bei einem Wettrennen in den Matsch gefallen war und somit seine Oxford-Uniform ruiniert hatte. Rudolph fungiert somit als das schlechte elterliche Gewissen, welches dem Sohn Leopold seine Fehltritte vor Augen führt. Dem aufmerksamen Leser wird darüber hinaus die Parallele zu Stephens traumatischem Erlebnis auf dem Schulhof im Portrait bewusst. Auch er landete einst im Matsch und zerbrach dabei seine Brillengläser, wofür er von seinem Lehrer gescholten wurde. Zudem macht Rudolph Bloom sein nächtliches Herumtreiben im Rotlichtbezirk Dublins zum Vorwurf: „What you making down this place? Have you no soul?“ (U, S.416). Die Seelenlosigkeit des Ortes verweist zum einen auf die vorherrschende Prüderie und die Vorurteile der Dubliner gegenüber körperlicher Liebe, zum anderen jedoch auf die infernalische Komponente des Ortes. Vgl. auch Isabel Platthaus, derzufolge Bloom sich rechts hält, um rechtschaffen zu sein und moralisch auf dem rechten Wege zu gehen. Wie sie betont, gelingt Bloom dies gerade nicht, da er „geradewegs in darkest hell“ gelangt. S.163. 416

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Denn in der Regel ist es der Teufel, der versucht in den Besitz menschlicher Seelen zu gelangen. Der Vorwurf der Seelenlosigkeit nimmt allerdings auch Bezug auf Blooms Treulosigkeit und Abfall vom jüdischen Glauben, von dem Gott Jahwe. Vater und Mutter zeigen sich erschrocken über „Poldys“ körperliche (da beschmutzt) und seelische Verwahrlosung. Die Manifestation der bereits verstorbenen Eltern zu Beginn von „Circe“ ist Ausdruck von Blooms Pflichtbewusstsein gegenüber dem Elternhaus und seiner Schuldgefühle für die vermeintlichen Fehler, die er ihnen zufolge in seinem Leben begangen hat. Die erste Totenerscheinung des Ulysses ist somit keine glückliche oder prophetische, wie dies in der Aeneis der Fall ist, vielmehr ist die Begegnung Blooms mit den Schatten seiner Eltern von Schuld, Schmerz und Trauer geprägt. Hoffnungsfroh stimmt einzig die Annahme, dass die Konfrontation mit den Eltern und den Konfliktpunkten zu einer Bewältigung derselben führen und Bloom damit seine Komplexe gegenüber seinen Erzeugern überwinden kann. Dass in der nachfolgenden Szene Blooms Frau Molly auftritt, zeigt, dass auch sie für Bloom eine Autoritätsperson darstellt, der er sich unterordnet. Bloom hat sich somit aus einem Abhängigkeitsverhältnis, dem des Elternhauses, in das nächste begeben, das der Ehe. Dies zeigen auch im weiteren Verlauf seine sexuellen Phantasien, in denen Unterwerfung und Züchtigung eine maßgebliche Rolle spielen. Dass Molly in seiner Vision türkische Kleider trägt, zeigt zudem sein Interesse für und seine Affinität zum Osten und zum Judentum. Schon in dem Kapitel „Lotuseaters“ waren Blooms Gedanken immer wieder nach dem östlichen Jerusalem geschweift, da er sich im Herzen noch immer als Jude fühlt. Nach der Vision seiner Frau und dem Auflebenlassen einer Liebelei mit Mrs Breen setzt Bloom seinen Weg in die Unterwelt fort: „Followed by the whining dog he walks on towards hellsgates. In an archway a standing woman, bent forward, her feet apart, pisses cowily.“ (U, S.427). „Hellsgates“ verweist wiederum auf den Eintritt in die Hölle, war aber darüber hinaus eine durchaus gängige Bezeichnung für den Eingang in Dublins Rotlichtmilieu, auch da es in den schäbigeren Bordells durchaus zu Ausschreitungen und zu Gewalt kommen konnte.417 Die Frau, welche in einem Arkadengang steht, und wie ein Mann im Stehen pinkelt, kündet ebenfalls von Blooms untergeordneter Rolle gegenüber Frauen bzw. von seiner sich anschickenden Begegnung mit Bella Cohen, der Circe des Ulysses, welche sich in den Mann Bello verwandelt, einen aufgeblasenen Macho, der sich Bloom zum Lustsklaven macht. Zudem verweist die Bezeichung „cowily“ auf den tierischen Charakter des Kapitels sowie auf die Fähigkeit Circes, Menschen in Tiere zu verwandeln. Mit dem Übertritt nach Nighttown werden sich die Figuren ihrer tierischen Natur und ihrer Körperlichkeit bewusst und lassen zunächst alle Anzeichen ihrer Kultiviertheit fahren. Erstmalig begegnet Bloom den Prostituierten, welche ihn durch das Rotlichtmilieu begleiten Vgl. Don Gifford. Ulysses Annotated. S.460.

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werden. Diese sprechen ihn als „queer fellow“ an, was gleich auf mehrere Eigenschaften Blooms zuzutreffen scheint. Ursprünglich bedeutet queer soviel wie „seltsam“ oder „wunderlich“, was auf den Protagonisten insofern zutrifft, als dass er der designierte Außenseiter des Romans ist und in mancher Hinsicht ungewöhnliche sexuelle Obsessionen pflegt. Des weiteren kann das Wort aber auch „schwul“, „hom*osexuell“ oder auch pejorativ „Tunte“ bedeuten, was wiederum auf Blooms feminine und feinfühlige Art verweist und später, wenn Bloom zur Frau wird, als Motiv seinen Höhepunkt erfährt. Vermutlich bezeichnen die Nutten Bloom auch daher als „Schwuchtel“, da er ihnen zu wenig Aufmerksamkeit schenkt. Er ist schließlich in Nighttown, um ein Auge auf Stephen zu halten, und nicht um sich zu vergnügen. Im weiteren Verlauf des Kapitels kommt es zu einer Synthese von Realität und Trauminhalten. Die Begegnung Blooms mit den Prostituierten scheint einer realen Sphäre anzugehören, es folgt jedoch eine Gerichtsszene, welche sich in Blooms Unbewussten abspielt. Er wird der Realität somit entrückt und wird Opfer seiner eigenen Schreckensvision, die dem Tag des letzten Gerichtes gleicht. Bloom wird beschuldigt, seine Küchenmagd verführt zu haben, was ihm den treffenden Namen „house devil“ einbringt. Zudem wird er bezichtigt, ein „notorious fireraiser“ zu sein, ein Brandstifter und Feuerteufel. Ein dritter Vorwurf lautet, dass er sich in der „cattle creep“ der „devil's glen“, der „Teufelsschlucht“ also, unzüchtig verhalten habe. Bloom scheint hier die Sünden zu verarbeiten, die er tatsächlich oder auch nur in Gedanken begangen hat. Denn Molly vermutet zwar, dass er die Küchenmägde stets nach ihrem Äußeren auswählt, einen Beleg für einen Ehebruch Blooms jedoch gibt es nicht. Auch der amouröse Briefwechsel mit Martha Clifford scheint zwar eine aussereheliche Sehnsucht auszudrücken, belegt jedoch, dass es lediglich bei einem schriftlichen, imaginären Akt bleibt, und nicht zu einem tatsächlichen Stelldichein kommt. Bloom scheint eher ein Mann des Wortes als ein Mann der Tat zu sein. Auffällig in dieser ersten Szene vor Gericht ist, dass alle drei erhobenen Anschuldigungen sich durch ihre infernalische Wortwahl auszeichnen und Bloom somit als einen kleinen, wenn auch harmlosen, Teufel darstellen. Er schadet niemandem ernstlich, ist aber auch nicht der Gutmensch, als der er dem Leser bisher vorgestellt wurde. Dies zeigt die Ganzheit von Blooms Charakter. Er lässt sich eben nicht auf gewisse Eigenschaften oder Kategorien wie „Gut“ oder „Böse“ festlegen, sondern verkörpert sie beide, was die Dualität der Gegensätze in Frage stellt. Bloom ist folglich ein Mensch der Mitte, ein ausgeglichener Mensch, weder Jude noch Katholik, weder gut noch böse. Er verkörpert den Menschen schlechthin, in seiner Ganzheit und Komplexität. Die imaginäre Gerichtsszene, welcher Bloom beiwohnt, wird rüde unterbrochen, als Bloom von der Dirne Zoe Higgins angesprochen wird. Sie scheint zu ahnen, dass Bloom nicht auf der Suche nach sexuellem Vergnügen ist, sondern Stephen und dessen Freund Lynch folgt. Diese seien in das 223

Bordell Bella Cohens gegangen, welches sich in Nummer 81 befinde. Als sie Bloom nach einer Zigarette fragt, verliert er sich jedoch gleich wieder in seinen Gedanken und geriert sich in einer inneren Vision als Anführer der Arbeiterbewegung, als der er eine flammende Rede hält und sogleich zum Lord Mayor Dublins ausgerufen wird. Später wird er sogar zum König von Gottes Gnaden ernannt und baut während seiner Amtszeit das neue Bloomusalem, einen riesigen Kuppelbau, als Sitz seiner Macht. Diese Entwicklung Blooms beschreibt eine Wandlung vom einfachen Mann des Volkes über den Politiker zum Adligen bis hin zum Glaubensführer. Es handelt sich um eine regelrechte Apotheose Blooms, der sich verehren lässt wie einen Gott. Mit der Anspielung auf Jerusalem kommt er dem Wunsch seiner Eltern nach, den jüdischen Glauben zu leben. Wie Schiefele betont, handelt es sich zudem um einen Wunschtraum nach dem Muster Freuds. Dass Bloom am Ende seiner Vision Brot und Fisch unter dem Volk verteilt, rückt ihn zudem in die Nähe Jesu und kann als weiteres Zeichen der Gottwerdung gedeutet werden.418 Das Motiv der Apotheose Blooms ist auch dahingehend interessant, als diese traditionell einen Teil des literarischen Epos ausmacht und in der Regel auf die Unterweltfahrt folgt. Die Apotheose steht somit in einem engen Zusammenhang mit der Nekyia und verdeutlicht die Läuterung und Steigerung, welche dem Helden im Zusammenhang mit seiner Jenseitsfahrt zuteil wird. Blooms rasanter Aufstieg jedoch findet ein jähes Ende, als ein alter Bekannter aus „Hades“ wieder auftritt, der Mann im Macintosh. Bezeichnenderweise betritt er die Szene durch eine Falltür, also aus dem Keller. Er bezichtigt Bloom, ein Lügner zu sein sowie ein notorischer Feuerteufel. Außerdem sei sein Name gar nicht Bloom sondern Higgins. Dies ergibt sich aus dem Namen von Blooms Mutter Ellen, deren Mädchenname Higgins lautet. Sie wird somit unfreiwillig in eine Reihe mit Zoe Higgins gestellt. Die Namensgleichheit von Mutter und Prostituierter ergibt sich aus dem Schutz und der Geborgenheit, welche beide Figuren zu verbinden scheinen. Die eine bietet einen familiären, die andere einen sexuellen Rückzugsort, beide jedoch sind von äußerster Intimität geprägt. Dass Bloom nicht Leopolds eigentlicher Name ist, trifft insofern zu, als sein Vater Rudolph Virag, der gebürtig aus Ungarn stammt, nach der Einwanderung seinen Namen Virag in Bloom hat ändern lassen. Der Mann im Macintosh verunsichert Bloom derart, dass er ihn auf der Stelle erschießen lässt, was eine weitere Wandlung Blooms zum Tyrannen und Usurpator erkennen lässt. Die Gerichtsszene von zuvor erfährt eine Umkehrung, da nun Bloom selber als Oberster Richter eines „Court of Conscience“ auftritt und den Bewohnern Dublins unnütze und grotesk anmutende Ratschläge erteilt. Wenig später verkündet er zudem seine reformatorischen Ideen bezüglich Religionsfreiheit Hannes Schiefele. „Freuds Bedeutung für die Kunstbetrachtung“ In: Lebendige Psychoanalyse. Die Bedeutung Sigmund Freuds für das Verstehen des Menschen. Beck Verlag. München. 1956. S.148. 418

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und Gleichberechtigung. Die von Bloom vorgesehenen Reformen, welche durchaus sinnvoll und vor allem humanistisch motiviert sind, stoßen jedoch auf wenig Rückhalt im Volk. Erste Kritiker werden laut. Downie etwa behauptet, Bloom stamme „from the roots of hell, a disgrace to christian men. A fiendish libertine from his earliest years this stinking goat of Mendes gave precocious signs of infantile debauchery recalling the cities of the plain, with a dissolute granddam. This vile hypocrite, bronzed with infamy, is the white bull mentioned in the Apocalypse. “ (U, S.464). Sofort verlangt die tobende Menge, Bloom zu lynchen, da dieser keinen Deut besser sei als Charles Stuart Parnell, der Anführer der Irischen Unabhängigkeitsbewegung. Ein weiteres Mal lässt Joyce Bloom als mythische Gestalt, die des Teufels, aber auch als historische Gestalt, die Parnells, erscheinen. Neben seinen mythischen und historischen Rollen fällt Bloom auch die Rolle des Menschen schlechthin zu, des männlichen, aber auch des weiblichen. Während des gesamten Romangeschehens fällt Blooms Sensibilität auf, sein Mitgefühl etwa mit der gebärenden Mrs Purefoy. Zudem beneidet er Mütter wegen ihrer engeren Bindung an den Nachwuchs. Ihm scheint zumindest, dass seine Frau Molly mit der gemeinsamen Tochter Milly eine innigere Beziehung führt als er, ja fast, als ob sie sich gegen ihn verbündeten. Es scheint, als wünsche sich Bloom manches Mal, eine Frau zu sein, was auch seine Affinität für Damenwäsche und seine sexuellen Unterwerfungs-Fantasien belegen. Gemäß seinem Wunsch erklärt ihn Dr Dixon in seiner Vision als „a finished example of the new womanly man. His moral nature is simple and lovable. (…) He is about to have a baby.“ (U, S.465). Der Wunsch, Kinder zu gebären, resultiert wiederum aus dem Wunsch nach Filiation, nach der gesicherten Nachkommenschaft, die ganz gewiss die seinige ist. Denn wie mehrfach im Roman betont wird, ist Vaterschaft ungewiss. Niemand kann je dafür garantieren, dass der Partner bzw. Ehemann der tatsächliche Vater eines Kindes ist. Immer besteht die Möglichkeit der Untreue, besonders im Falle Molly Blooms. Mit dem Wunschtraum einer Schwangerschaft und der Geburt mehrerer hochbegabter Kinder erfüllt sich Bloom also die Hoffnung auf eine gesicherte Vaterschaft sowie auf ein Fortleben seiner Existenz, seiner Ideen und seiner Werte im Wirken seiner Nachkommen. Nach einem Autodafé Blooms - Lieutnant Meyer hatte den Tyrannen Bloom in Brand gesteckt - holt Zoe ihn in die Realität zurück und geleitet ihn in die Unterwelt Bella Cohens. Sie fungiert somit als Führerin, wie einst die Seherin Sybille in der Aeneis. Bloom jedoch ist sich seines Weges nach wie vor nicht sicher. Zuvor wäre er zweimal fast überfahren worden, nun stolpert und strauchelt er auffällig häufig: „She crosses the threshold. He hesitates. She turns and, holding out her hands, draws him over. He hops.“ (U, S.472f.). Es scheint, als wolle Bloom es vermeiden, die Türschwelle selber zu betreten. Nachdem Bloom in einer weiteren Vision Zeuge des Endes der Welt wird, erscheint sein Großvater 225

Virag, ein weiterer Geleiter durch die Unterwelt, der Bloom die Vorzüge der verschiedenen Prostituierten aufzählt und sich als Kenner des weiblichen Geschlechts darstellt. Dass er als Führer in die Unterwelt, als Mittlerbote Hermes auftritt, veranschaulichen vor allem seine gefederten Ohren. Zudem trägt Virag einen braunen Macintosh und erinnert somit an den Todesboten in „Hades“. Die Worte Virags sind in vieler Hinsicht erhellend. Zunächst offenbart er die sexuellen Vorlieben seines Enkels, wenn er die Prostituierten gegeneinander abwägt. Die erste, die er sich vornimmt etwa, trägt keine Wäsche nach dem Geschmack Blooms und scheidet somit als potentielle Kandidatin aus. Zudem scheint ihre Haut von einer Injektionsstelle verunziert zu sein, ein Hinweis auf eine eventuelle Infektion mit einer Geschlechtskrankheit. Die Infektion der Dirnen mit verschiedenen Krankheiten lässt an die Bordellszene im Doktor Faustus denken. Die Motivik der beiden Romane gleicht sich in einer weiteren Hinsicht. Virag vergleicht die anwesenden Damen mit Nachtfaltern, Glasflüglern, wie es bei Mann lautet: „You shall find that these night insects follow the light.“ (U, S.484). Inspiriert wird Virag dabei unter anderem von Blooms Blick, welcher der Motte folgt, die tatsächlich im Raum ist und dem Licht entgegen fliegt. Die Dirnen können daher, wie auch Esmeralda, als Handlanger der Teufels gedeutet werden, denn sie unterstehen Bella Cohen, der Herrscherin über die sexuelle, internalisierte Unterwelt. Damit sind sie zum einen Vertreter des Bösen, zum anderen jedoch suchen sie das Licht und erweisen sich somit als Abkömmlinge Luzifers, des Engels des Lichts, der aufgrund seines Hochmuts aus dem Himmel in die Hölle gestürzt wurde.

3.4.8. Bella Cohen – ein Teufelsweib Zoe, Kitty und Florry sind die Vorhut Bella Cohens, welche wenig später ihren alles überschattenden Auftritt hat. Dieser kündigt sich unter anderem durch eine Aufhebung von Raum und Zeit an. Bloom stellt fest, wie ihm die Zeit davongelaufen ist, da er seinen Tag ursprünglich zum jetzigen Zeitpunkt beendet haben und heimgekehrt sein wollte. Die Zeit jedoch ist (ihm) aus den Fugen geraten: „I wanted then to have now concluded. Nightdress was never. Hence this. But tomorrow is a new day will be. Past was is today. What now is will then tomorrow as now was be past yester.“ (U, S.484). Diese Aufhebung der Zeit resultiert unter anderem aus der traumhaften und visionären Sphäre, in welcher sich die Vorkommnisse abspielen: „Like avantgarde art, dreams and visions exchange the objective, progressive connection between past and present for a subjective 226

series of images experienced either in the present or outside time.“ 419 Darüber hinaus erklären sich Blooms Überlegungen jedoch aus der fortgeschrittenen Stunde. Da es nach Mitternacht ist, ist der neue Tag, also „morgen“ theoretisch schon angebrochen und der vorige Tag vorüber. In der menschlichen Wahrnehmung jedoch besteht noch immer das „gestern“ und der neue Tag, das „jetzt“, liegt noch in der Zukunft. Mit dem Auftritt Bella Cohens wird nicht nur die Kategorie der linearen Zeit aufgehoben, sondern auch die der Persönlichkeit bzw. der Individualität. Der Fächer, welcher umgehend feststellt, dass Bloom zu Hause unter dem Pantoffel steht, bemerkt: „Is me her was you dreamed before? Was then she him you us since knew? Am all them and the same now we?“ (U, S.495). Wie bereits Ernst Robert Curtius betont, sind die Aufhebung und die Relativierung der Persönlichkeit, ebenso wie die der Zeit, ein „Grundthema des Ulysses.“420 Joyce spielt damit auf das Konzept der Seelenwanderung, der Metempsychose, an, welches vor allem auf der Philosophie Schopenhauers beruht und besagt, dass die Seelen nach dem Tod fortleben und nach einer gewissen Zeit einen neuen irdischen Körper erhalten. Die Vorstellung der Metempsychose verfolgt Bloom den ganzen Tag über, da Molly ihn am Morgen nach der Bedeutung des Wortes gefragt hatte, aber auch da er sich eingehend mit eschatologischen Fragestellungen auseinandersetzt. Die Bemerkung des Fächers relativiert zudem die Kategorien von Subjekt und Objekt, da er sich selber, trotz seiner Dinglichkeit, mit Bloom und Bella bzw. Molly identifiziert. Somit wird nicht länger unterschieden zwischen organischen und anorganischen Daseinsformen. Lebende und nicht lebende Körper sind letztlich ein und dasselbe, da aus totem Gewebe lebendes entstehen kann und umgekehrt. Auch dieses Motiv erinnert an den Doktor Faustus, wo vor allem Adrians Vater von den Eisblumen, welche sich aus Eiskristallen bilden, fasziniert ist, da diese zwar „tot“ sind, das Leben aber gleichwohl nachahmen. Auch der Fächer selber veranschaulicht das Prinzip des anorganischen Lebens, da er zum Leben erwacht ist und einer tatsächlichen, menschlichen Figur gleicht. Last but not least verweist die Feststellung des Fächers auf eine Nivellierung der Geschlechter, da er „he“ und „she“ als austauschbare Kategorien darstellt und somit den Unterschied zwischen männlich

und

weiblich

aufhebt.

Die

Konzepte

der

Geschlechtsaufhebung

und

der

Geschlechtswandlung verkörpern nicht zuletzt Bella Cohen und Leopold Bloom selber, wenn sie die ihnen zugewiesenen Rollen vertauschen, wenn Bella zu Bello wird und Leopold Bloom zu einem schüchternen und vor dem „Meister“ kuschenden Mädchen. Die Vorstellung der Aufhebung respektive Vertauschung der Geschlechter stellt bestehende Stereotype in Frage und die Peter Egri. Avantgardism and Modernity. A comparison of James Joyce's Ulysses with Thomas Mann's Zauberberg and Lotte in Weimar. University of Tulsa Press. Tulsa, Oklahoma. 1972. S.59. 420 Ernst Robert Curtius. James Joyce und sein Ulysses. Neue Schweizer Rundschau. Zürich. 1929. S.29. 419

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Charaktereigenschaften, welche Mann und Frau von der Gesellschaft zugeschrieben werden, etwa dass Frauen sensibel seien und über emotionale Intelligenz verfügen, Männer hingegen rational und mit logischem Denkvermögen ausgestattet. Joyce übt mit seiner Nivellierung Kritik an diesen festgefahrenen Denkmustern, da sie das jeweilige Geschlecht auf eine bestimmte Rolle reduzieren, anstatt ihm die nötigen Freiheiten einzuräumen. Mit der Figur Leopold Blooms etwa verdeutlicht er, dass auch Männer sensibel und gutherzig sein können. Der Ehebruch Mollys hingegen beweist, dass nicht alle Frauen treuherzig und aufrichtig sind, wie Penelope, sondern dass auch sie zuweilen hinterhältig und betrügerisch agieren. Der Mensch wird als eine komplexe Einheit dargestellt, die aufgrund der Vielfältigkeit der charakterlichen Eigenschaften ein ambivalentes Bild der Persönlichkeit entwirft. Auch Friedrich Schlegel hat diese Idee in seinem Roman Lucinde zum Ausdruck gebracht, wenn er die Protagonistin zum Mann werden lässt und sich selber als Frau begreift: „Ich sehe hier eine wunderbare sinnreich bedeutende Allegorie auf die Vollendung des Männlichen und des Weiblichen zur vollen ganzen Menschheit.“ 421 Arnold Goldman, der die Figuren Joyces als paradox und teils in sich widersprüchlich beschreibt, betont, dass die Unterweltfahrt im Roman das „replacement of one order by another“ symbolisiere.422 Die gesamte Weltordnung mitsamt ihrer Hierarchien wird aufgebrochen, was dem Ulysses nach der Groteske-Definition Bachtins auch einen karnevalesken Charkater verleiht. 423 Der Auftritt des Mannweibs Bella Cohen ist in vielerlei Hinsicht bezeichnend. Sie erscheint durch jene Tür, von der Zoe behauptet, „The devil is in that door“, und offenbart sich demnach als Abgesandte der Hölle. Die „whor*mistress“ verfügt gleich von Beginn an über sehr maskuline Züge, denn sie trägt einen Schnurrbart und ihr Gesicht ist von einer dunklen, fast grünlichen Hautfarbe. Zudem schwitzt sie über die Maßen und bedient sich einer unziemlichen, ordinären Ausdrucksweise. Anders als die homerische Circe, welche Odysseus und seine Gefährten in Schweine verwandelt, scheint sie selber ein solches zu verkörpern, auch da sie als gnadenlose sad*stin auftritt. Sie erniedrigt Bloom, indem sie etwa auf seinem Rücken reitet und ihn mit Schimpfnamen wie „Dungdevourer“ oder „Hound of dishonour“ bedenkt. Mit diesen Schmähungen spielt sie zudem auf Blooms geheime, sexuelle Vorlieben an. Wie mehrfach im Laufe des Textes deutlich wird, scheint Bloom koprophil zu sein, denn er verspürt sexuelle Erregung, wenn er an den Kot möglicher Sexualpartnerinnen denkt. Der Begriff „Dungdevourer“ lässt sogar vermuten, dass Friedrich Schlegel. Lucinde. In: Ebd. Kritische Ausgabe. Bd. 5. Dichtungen. Herausgegeben von Ernst Behler unter Mitwirkung von Hans Eichner. München; Paderborn (u.a.). S.13. 422 Vgl. Arnold Goldman. The Joyce Paradox. Form and Freedom in his Fiction. Routledge & Kegan Paul. London. 1966. S.126. 423 Vgl. hierzu Michel Bachtin. Rabelais und seine Welt: Volkskultur als Gegenkultur. Übersetzt von Gabriele Leupold. Herausgegeben und mit einem Vorwort versehen von Renate Lachmann. Suhrkamp Taschenbuch Verlag. Frankfurt am Main. 1995. S.58. 421

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Bloom dem Verzehr von Kot Lust abgewinnt. Für diesen Fetisch finden sich allerdings keine weiteren Hinweise. Die Affinität jedoch, welche Bloom für menschliche Ausscheidungen hegt, kann als eine Anspielung auf die Hölle Dantes gedeutet werden, wo sich im achten Höllenkreis Huren und Schmeichler in einer Lache aus Kot wälzen. Die tierische Natur Bella Cohens entspricht neben der eines Schweines auch der einer Ziege. Sie lässt Bloom ihre Stiefel schnüren, wobei mehrfach auf ihren „hoof“ verwiesen wird und auf das Ziegenfell, welches ihr Bein bedeckt (U, S.497). Häufig wird die Gestalt des Teufels mit einem Ziegen- oder einem Pferdehuf versehen. Überhaupt wimmelt das Kapitel von Anspielungen auf Tiere und zeigt den Menschen mit seinen tierischen Eigenschaften und Attributen. Bloom etwa wird zu einem Tier erniedrigt, wenn Bella und die übrigen Prostituierten auf ihm reiten. Bella droht sogar, ihn aufzuschlitzen und scheibchenweise zu verspeisen, und evoziert somit einen weiteren sexuellen Fetisch, den Lustgewinn durch Kannibalismus (Vgl. U, S.499). Sie unterzieht Bloom körperlichen Qualen und führt verbale Attacken gegen ihn, sodass dieser glaubt, sich in der Hölle zu befinden: „O, it's hell itself! Every nerve in my body aches like mad!“ (U, S.500). Nach den Höllenqualen und Demütigungen, welche Bloom über sich ergehen lassen muss, wechselt der Fokus des Kapitels auf die Figur Stephens. Bloom reicht seinem Schützling eine Schachtel Streichhölzer, welche diesem zuvor aus der Tasche gefallen war. Der junge Dedalus bedenkt ihn daraufhin mit den Worten: „Lucifer. Thanks.“ (U, S.521). Zwar bezieht sich der Name auf die Streichholzmarke, allerdings scheint auch Bloom angesprochen zu sein, da der vielgescholtene „fireraiser“ Stephen das Feuer, das Licht bringt. Zum einen erinnert er somit an Luzifer, den Engel des Lichtes, zum andern an Prometheus, welcher den Menschen das Feuer gebracht und somit gegen die Götter, insbesondere gegen Zeus, aufbegehrt hat. Die Bezugnahme auf Prometheus ist auch insofern von Bedeutung, da erst das Geschenk des Feuers es dem Menschen - einem bis dahin niederen Geschlecht - ermöglichte, die Künste und das Handwerk zu verfeinern. Prometheus gilt daher auch als der Bringer von Kultur und Kunstgütern. Der Autor legt mit dem Verweis auf die mythologische Figur folglich nahe, dass auch Bloom positiven Einfluss auf die Kunst des bislang paralysierten Stephen nehmen kann, da er diesem Werte wie Humanität und Rechtschaffenheit vermitteln könnte. Dass Bloom Stephen Feuer reicht, scheint darüber hinaus allegorischen Charakter zu haben, da er ihn sinnbildlich auf den Weg der Erleuchtung und der Illumination führt, dies wiederum ein Schlüsselbegriff in der Lehre der Freimaurergesellschaft, welcher Bloom angehört.

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3.4.9 Geister der Vergangenheit – Stephens marternde Gewissensbisse Wie auch Bloom trifft Stephen in „Circe“ auf die Geister seiner Vergangenheit, auf seine verstorbene Mutter, aber auch auf Father Dolan, der ihn in seiner Schulzeit gezüchtigt hatte, ohne dass Stephen sich tatsächlich etwas hätte zu Schulden kommen lassen. Der strenge Jesuit entspringt dem im Raum befindlichen Piano und beschimpft ihn als „lazy, idle schemer“ (U, S.523). Inspiriert wird diese Schreckensvision Stephens durch die Worte Zoes, welche zuvor versucht hatte, Stephens Zukunft zu lesen, wobei sie sowohl seine Hand zur Hilfe nimmt, als auch seinen Blick als Zeichen des Mutes deutet: „I see it in your face, the eye like that.“ (U, S.523). Da auch Father Dolan im Portrait behauptet hatte, er könne Stephens Augen ansehen, dass dieser ein Faulenzer sei, fühlt der junge Student sich an die traumatische Szene aus seiner Schulzeit erinnert. Verstörender als der Auftritt Father Dolans ist allerdings das plötzliche Erscheinen von Stephens an Krebs gestorbener Mutter, welches der schaurigen und horrorähnlichen Tradition der britischen Gothic Novel in nichts nachsteht. Ferrer bezeichnet diese Szene als zutiefst unheimlich, denn sie sei der „central core of the general regression which makes up Circe“ 424: Stephen's mother, emaciated, rises stark through the floor in leper grey with a wreath of faded orange blossoms and a torn bridal veil, her face worn and noseless, green with grave mould. Her hair is scant and lank. She fixes her bluecircled hollow eyesockets on Stephen and opens her toothless mouth uttering a silent word. A choir of virgins and confessors sing voicelessly.“ (U, S.539).

Noch immer wirft die Mutter Stephen vor, dass er an ihrem Sterbebett nicht für sie gebetet habe und dass er vom Glauben abgefallen sei. Sie sorgt sich, dass er in die Hölle kommen könne, begreift aber nicht, dass sie Stephen mit ihren Vorwürfen nur weiter in seiner Auflehnung gegen Kirche und Konvention bestärkt. Zunächst tritt Stephens Mutter ähnlich auf, wie sie dies im Leben tat, da sie Stephen Vorwürfe macht und an sein schlechtes Gewissen appelliert. Sie verkörpert Stephens unbewusste Schuldgefühle.425 Darüber hinaus scheint sie aber eine Funktion zu übernehmen, welche der der Schatten in der Odyssee und in der Aeneis nahekommt. Das „silent word“ auf das mehrfach verwiesen wird, scheint der Schlüssel zu einem bedeutsamen Rätsel zu sein: „All must go through it, Stephen. More women than men in the world. You too. Time will come.“ Die James-JoyceForschung ist sich uneins, um welches Wort, um welches Geheimnis es sich in dem Gespräch zwischen Stephen und seiner Mutter handeln könnte. Sultan etwa vermutet, das Wort sei der Logos schlechthin, das Wort Gottes und somit die Manifestation desselben.426 Seine äußerst religiöse Daniel Ferrer. „ 'Circe', Regret, and Regression“ In: Derek Attridge; Daniel Ferrer (Hrsg.). Post-structuralist Joyce. Essays from the French. Cambridge University Press. Cambridge; London (u.a.). 1984. S.139. 425 Vgl. hierzu auch Hannes Schiefele. „Freuds Bedeutung für die Kunstbetrachtung“ S.147. 426 Stanley Sultan. The Argument of Ulysses. Ohio State University Press. Columbus, Ohio. 1964. S.336. 424

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Lesart scheint dem Charakter Stephens und seiner Abneigung für jedwede Form von Autorität nur wenig gerecht zu werden. Eher scheint es sich um die Worte „Liebe“ oder „Tod“ zu handeln, einer Verbindung von Eros und Thanatos, wie sie auch im Werke Thomas Manns häufig zu finden ist. Gestützt wird diese Annahme vor allem durch die Äußerungen der Mutter im unmittelbaren Kontext des Gesprächs. Zuvor nämlich verweist sie auf ihren Tod, wenn sie sagt: „I once was the beautiful May Goulding. I am dead.“ Ihre Schönheit ist verblichen und die einst blühende Jugend verwest nun im Grabe. Kurz darauf jedoch beschwört sie das Bild des Eros herauf, wenn sie Stephen daran erinnert, dass er ihr einst vorgesungen habe: „You sang that song to me. Love's bitter mystery.“ (U, S.540). Der Titel des Liedes legt nahe, dass die Liebe ein Geheimnis in sich trage, vielleicht aber auch, dass die Liebe selbst das Geheimnis bzw. den Schlüssel desselben darstelle. Da Stephens Mutter mit der Erinnerung dieser Szene die einstige Nähe zwischen Mutter und Sohn evoziert, scheint sie insbesondere die Liebe zwischen Eltern und Kindern zu meinen. Somit wird wiederum das Thema der Elternlosigkeit und der Suche Stephens nach adäquaten Eltern thematisiert. Das „silent word“ verbindet somit den Tod der Mutter mit der Liebe, welche Stephen für sie empfand. Dass die Liebe ein beherrschendes Thema im Ulysses darstellt, hat schon Richard Ellmann dargelegt.427 Denn nicht nur Stephen setzt sich mit diesem Thema eingehend auseinander, sondern auch Bloom, etwa wenn er in Kiernan's Bar argumentiert, dass weder Hass noch Gewalt jemals eine Lösung für zwischenmenschliche Auseinandersetzungen und Konflikte sein könnten, da dies einzig die Liebe vermöge: „But it's no use, says he. Force, hatred, history, all that. That's not life for men and women, insult and hatred. And everybody knows that it's the very opposite of that that is really life.“ (U, S.319). Bloom argumentiert, dass einzig die Liebe das Leben ausmache, dass erst die Liebe dem Leben überhaupt einen Sinn gebe. Seine Zuneigung zu seiner Tochter Milly und seinem verstorbenen Sohn Rudy legen nahe, dass auch er die familiäre Liebe im Sinn hat. Seinem freundlichen und rücksichtsvollen Umgang mit seinem Mitmenschen jedoch entnehmen wir, dass auch die Nächstenliebe innerhalb der gesellschaftlichen Gemeinschaft gemeint ist. Im Verlauf der „Circe“-Episode nähern sich Bloom und Stephen gedanklich einander an, sodass Bloom hoffen darf, seinen Schützling auf den rechten Weg zu führen und ihm Ethik, Moral und Humanität nahe zu bringen. Dass Bloom durchaus als (Ersatz)Vater für Stephen geeignet ist, zeigt sich bereits im Verlauf des Tages, da die Gedankenströme der beiden teilweise parallel verlaufen, etwa wenn sie über den Tod durch Ertrinken nachdenken. Nabokov konstatiert, Blooms „mental stream flows now and then very close to Stephen's mental stream.“ 428 Peter Egri nennt dieses Richard Ellmann. „Finally, the Last Word on 'Ulysses': The Ideal Text, and Portable Too“ In: The New York Times. 15.6.1986. 428 Nabokov. Lectures on Literature. S.286. 427

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Phänomen im Ulysses ein „intermingling of thoughts of Bloom and Stephen“, welches zu einem „merging of minds“ führt. Bloom und Stephen teilen die gleiche psychische Erfahrung. Wenn auch nur kurzzeitig, verschmelzen ihre unbewussten Assoziationsketten zu einer gemeinsamen. 429 Die Zusammenführung der Persönlichkeiten Blooms und Stephens, welche schon in den Gedankenströmen angedeutet wurde, findet ihren Höhepunkt und ihre Manifestation in der grotesk anmutenden Spiegelszene. Beide erblicken in einem Spiegel des Bordells das Gesicht Shakespeares. Dieser trägt nicht seinen üblichen Bart, dafür aber ein Geweih auf dem Kopf. Der gehörnte Dichterfürst verkörpert zum einen Bloom, da er nach Stephens Theorie ebenfalls von seiner Frau betrogen wurde, als auch Stephen. Letzteren durch seine Bartlosigkeit, aber auch durch den Typus des Intellektuellen, den er verkörpert. Wie Viktor Link betont, gilt Stephen Shakespeare, neben seinem mythischen Vorbild Daidalos, als Idol und Ideal, da auch der junge Student auf eine dichterische Karriere hofft.430 Zudem identifiziert sich Stephen mit Shakespeares imaginärem Sohn Hamlet, da er sich im übertragenen Sinne um seinen Vater betrogen und daher elternlos fühlt. Holthaus stellt fest, dass das Motiv des Spiegels ein eschatologisches Moment darstellt, da es die Selbstbegegnung und somit auch die Selbsterkenntnis ermöglicht. 431 Im weiteren Verlauf des Kapitels stellt sich Stephen dem Zwiegespräch mit seiner toten Mutter. Der alte Streit über seine Ungläubigkeit flammt erneut auf und Stephen gerät derart in Rage, dass er seinen satanischen Schwur - „Non serviam“ - erneuert, um daraufhin den Kronleuchter des Bordells mit seinem Gehstock zu zerschmettern. Begleitet wird dieser Gewaltakt von dem Ausruf „Nothung“, womit Stephen die Züge Siegfrieds aus der Nibelungen-Sage Wagners annimmt, dessen Schwert diesen Namen führt. Stephens Vandalismus bleibt für die mythische Dimension des Kapitels nicht ohne Folgen, sondern geht mit einer Auflösung von Zeit und Raum einher: „Time's livid final flame leaps and, in the following darkness, ruin of all space, shattered glass and toppling masonry“ (U, S. 542). Durch die Zerstörung des Kronleuchters wird der Raum in Dunkelheit gehüllt und Stephen setzt dazu an, auch die Einrichtung der Räumlichkeit zu zerstören, wird jedoch von Lynch und Bloom davon abgehalten. Er entflieht dem Chaos, das er hinterlassen hat, und stürmt hinaus auf die Straße, wo ihn zwei Wachleute belästigen, da sie ihn ein wenig aufmischen wollen. Bloom begibt sich nun vollends in die Vaterrolle. Er begleicht den Schaden, den Stephen im Bordell angerichtet hat und verhindert, dass dieser um sein Geld geprellt wird. Zudem kommt er ihm auf Vgl. hierzu Luke Thurston. „Scotographia: Joyce and Psychoanalysis“ In: Richard Brown (Hrsg.). A Companion to James Joyce. S.417f. 430 Viktor Link. Bau und Funktion der Circe-Episode im Ulysses von James Joyce. Dissertation. Bonn. 1970. S.75. 431 Vgl. Katrin Holthaus. Im Spiegel des Dionysos. Pier Paolo Pasolinis >Teorema< Verlag J.B. Metzler. Stuttgart. 2001. S.40ff. 429

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der Straße zur Hilfe. Mit den Worten „I need mountain air“ verlässt er das Bordell. Der Verweis auf frische Bergluft lässt mehrere Deutungen zu. Zunächst erinnert er an den Läuterungsberg Dantes, welcher dem Inferno, dem Durchschreiten der Hölle, folgt und eine Steigerung des Protagonisten in Aussicht stellt. Simon Beckett liest nicht nur dieses Kapitel, sondern den Ulysses überhaupt als „purgatorial“, da Joyce in ihm einen „vicious circle of humanity“ darstelle. 432 Darüber hinaus evoziert der Verweis auf die frische Bergluft den Brocken im Faust, den höchsten Berg des Harzgebirges, auf dem der Legende nach Hexen und weibliche Geistergestalten ihre Zusammenkünfte halten. Häufig wurde auch das Kapitel mit der goetheischen Walpurgisnacht verglichen, da es ebenso geisterhaft und fantastisch wie diese beschrieben ist. Zudem verweist der Ausdruck auf den biblischen Calvarienberg, den Mount Calvary, auf dem Jesus der Heiligen Schrift zufolge gekreuzigt wurde. Somit geriert sich Bloom ein weiteres Mal als Jesus Christus, eine Parallele, welche auch seine ursprüngliche Zugehörigkeit zum Judentum unterstreicht. Bloom wird damit für Stephen nicht nur zu einer Vaterfigur, sondern auch zu einem Glaubensstifter. Allerdings missioniert er nicht im Sinne einer bestimmten Religion, sondern im Sinne eines Pazifismus und einer Humanität, welche sich gegen die kriegerische Vergangenheit und Gegenwart Irlands und Europas wendet.

3.4.10 Satanistische Messe und Vision Rudys Die Hölle, welcher Bloom und Stephen mit der Flucht aus Bellas Bordell entkommen sind, wirft einen letzten Abglanz auf Dublin, da es den Anschein hat, als würde die Stadt brennen. „Distant Voices“ verkünden: „Dublin's burning! Dublin's burning! On fire, on fire! (Brimstone fires spring up. Dense clouds roll past. Heavy Gatling guns boom. Pandemonium. (…). The midnight sun is darkened. The earth trembles. The dead of Dublin from Prospect and Mount Jerome in white sheepskin overcoats and black goatfell cloaks arise and appear to many. (…) Laughing witches in red cutty sarks ride through the air on broomsticks. Quakerlyster plasters blisters. It rains dragons's teeth.“ (S.555). In dieser Schreckensvision nimmt Joyce Bezug auf einen weiteren literarischen Vorläufer, der den Descensus ad inferos im Detail beschrieben hat, John Milton. Paradise Lost beschreibt den Fall der Engel sowie den Fall Adams und Evas und behandelt somit eines der wichtigsten Motive im Werke Joyces, den Abfall von Gott sowie die Sündhaftigkeit des Menschen. Besonders deutlich wird der Bezug zu dem englischen Autor des 17. Jahrhunderts, da Joyce das Samuel Beckett. „Dante … Bruno … Vico … Joyce“ In: Ebd. (Hrsg. u.a.) Our Exagmination round his factification for incamination of work in progress. London. Faber & Faber. 1961. S.22. 432

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„Pandemonium“ aufgreift, die Bezeichnung für den Hauptsitz der Hölle in Miltons Werk. In der Endzeitvision Blooms und Stephens erstehen die Toten aus ihren Gräbern, um sich kurz darauf ins Meer zu stürzen. Ihre Existenz ist eine schattenhafte und sinnlose, wie es scheint. Sie erinnern Bloom zudem an seinen verstobenen Sohn Rudy, da sie wie dieser in seinem Sarg Mäntel aus Schafsfell tragen. Einige jedoch sind auch mit Ziegenfell bekleidet, was wiederum eine gänzlich andere Konnotation mit sich bringt, da die Ziege als Attribut des Dionysos sowie des Teufels fungiert. Die infernalische Szene geht unmittelbar in eine Schwarze Messe über, in deren Mitte die hochschwangere Mina Purefoy auf einem Altar prangt: On an eminence, the centre of the earth, rises the field altar of Saint Barbara. Black candles rise from its gospel and epistle horns. From the high barbacans of the tower two shafts of light fall on the smoke palled altarstone. On the altarstone Mrs Mina Purefoy, goddess of unreason, lies, naked, fettered, a chalice resting on her swollen belly. Father Malachi O'Flynn in a long petticoat and reversed chasuble, his two left feet back to the front, celebrates camp mass. The Reverend Mr Hugh C Haines Love M.A. in a plain cassock and mortar board, his head and collar back to the front, holds over the celebrant's head an open umbrella. (U, S.556).

Die erste Szene des Romans parodistisch wiederaufnehmend verkündet O'Flynn sodann: „Introibo ad altare diaboli“ und bezeugt somit seine Zughörigkeit zum Teufel, dem diese zweite Mock Mass gewidmet ist. Im folgenden arbeitet Joyce vor allem mit der Umkehrung von Wörtern, einer Stilfigur, welche dem Palindrom ähnelt, auch wenn die Sätze der Priester rückwärts gesprochen teilweise keinen Sinn ergeben. „God“ wird zu „Dog“, Gott und die tierische Natur der Schöpfung werden also in eins gesetzt und somit relativiert. Kreutzer betont, dass „in den kontrastierend aufeinander bezogenen Wortinhalten, besonders kraß in den zahlreichen obszön-blasphemischen Wortspielen, (...) sich eine Wertrelativierung Ausdruck“ verschafft, „die das Erhabenste und Trivialste in innerem Zusammenhang sieht – ein Grundgedanke, der den ganzen Roman wesentlich bestimmt und hier in dem vom Unbewußten gesteuerten kalauerhaften Selbstentlarvungen und Verhöhnungen besonders deutlich hervortritt.“ 433 Es handelt sich um ein Herabsetzen Gottes, eine Entmythisierung, eine regelrechte Anti-Apotheose, in welcher Gott auf ein tierisches, hündisches und somit unterwürfiges Wesen reduziert wird. Da auch Satan in der Literatur häufig in Hundegestalt erscheint, spielt Joyce hier ein weiteres Mal mit den Dualismen Gut und Böse. Gott und Satan werden einander angenähert, um zu verdeutlichen, dass der Teufel nur eine andere Spielart des Allmächtigen und somit Teil Gottes ist. Campbell spricht von einem „cosmic conflict“ zwischen Gott und dem Teufel und zwei verschiedenen Weltanschauungen,434 übersieht jedoch die ironische Untermalung des Textes, welcher die Eberhard Kreutzer. Sprache und Spiel in »Ulysses« von James Joyce. S.60. Joseph Campbell. Mythic Worlds, Modern Words. S.7.

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Gegensätze miteinander verbindet und somit jeglichen Konflikt oder Kampf obsolet erscheinen lässt. Die Messe bleibt schließlich keine Schwarze Messe. Zunächst zwar wird „Dog“ und dem Teufel gehuldigt, im Anschluss aber verkehrt sich die Sprache der Zelebranten und man betet zu Gott, dem allmächtigen Schöpfer und Herrscher über die Erde. Gottes Macht mag in dieser ambivalenten Messe zunächst relativiert werden, letzten Endes aber wird ihm gehuldigt und sein Machtanspruch und seine Existenz werden folglich untermauert. Als Bloom die Straße erreicht, findet er Stephen auf dem Boden liegend und geistig abwesend. Er scheint im Delirium zu halluzinieren, sodass Bloom sich genötigt sieht, ihn zu wecken. Stephens Worte verweisen auf den Inhalt seines (Wach-)Traumes. Abwesend brabbelt er die Worte: „Who? Black panther vampire.“ (U, S.564). Die Worte Stephens rufen sowohl den ersten Traum des Ulysses ins Gedächtnis, den des Engländers Haines im Martello Tower, als auch den Beginn der Divina Commedia, wo Dante zunächst auf einen Panther, das Sinnbild der Wolllust, trifft. Wie Carole Slade ausführt, beinhaltet die Fleischeslust bei Dante jedoch eine durchaus positive Komponente, da sie dem Dichter als Inspiration für sein Werk gilt. 435 Die Liebe für Beatrice und die Sehnsucht nach ihr veranlassen ihn, die Vita Nuova und die Divina Commedia zu verfassen. Dies trifft ebenso auf Stephen zu, dessen sexuelle Sehnsucht auch Quelle der Inspiration ist, was insbesondere für die Erscheinung des jungen Mädchens am Priel im Portrait gilt. Der Verweis auf den Vampir scheint ebenfalls Haines zu gelten, da der Engländer als Sinnbild für den Kolonialismus und die Vormachtstellung der Briten gelten darf, als geldgieriger Blutsauger, der das landwirtschaftlich geprägte Irland ausbeutet. Zudem verweist der Vampir auf die anderen Autoritäten, mit welchen Stephen sich auseinandersetzt, mit seiner Mutter, dem irischen Staat und der katholischen Kirche. Vor allem letztere mit ihrer jahrhundertelangen Geschichte, ihrer Starrheit und Leblosigkeit fügt sich in das Motiv des Vampirismus, auch da sie Stephen der Lust am Lernen und am Leben beraubt und viele ihrer Anhänger über Jahrhunderte ausgebeutet hat. Während seiner Vision zitiert er einzelne Wörter eines Gedichtes von William Butler Yeats: „Who... Drive... Fergus now. And pierce... Wood's woven shade?... (…) ...shadows... the woods. ...white breast... dim...“ (U, S.564). Vor allem die Wiederholung der Wörter für Wald und Schatten verweisen erneut auf die Divina Commedia, denn wie Dante steht Stephen in der Mitte seines Lebens und ist nicht sicher, ob er auf dem rechten Wege ist. Eine kurze Analyse des vollständigen Gedichts von Yeats macht dies deutlich:

Carol Slade. „The Dantean Journey through Dublin“ In: Modern Language Studies 6. 1976. S.17.

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Who will go drive with Fergus now, And pierce the deep wood's woven shade, And dance upon the level shore? Young man, lift up your russet brow, And lift your tender eyelids, maid, And brood on hopes and fear no more. And no more turn aside and brood Upon love's bitter mystery; For Fergus rules the brazen cars, And rules the shadows of the wood, And the white breast of the dim sea And all dishevelled wandering stars.

Die Hauptfigur des Gedichtes, Fergus, könnte auf drei Personen verweisen: den ersten König von Galloway, den irischen Bischof und Heiligen Fergus, oder die irische Sagengestalt eines kräftig gebauten und potenten Kriegers. Wahrscheinlich ist letzterer gemeint, da das Gedicht als Aufforderung angesehen werden kann, sich von Politik und Inwendigkeit abzuwenden, um das Leben, aber vor allem die körperliche Liebe anzugehen. Besonders die erste Strophe scheint eine sexuelle Konnotation zu tragen, da es dort heißt, dass der junge Mann, in den dunklen Wald eindringen, ihn „durchbohren“ soll. Beide Geschlechter werden aufgefordert, ihren Blick zu heben, um sich selber, der Welt, der Natur um sich herum gewahr zu werden und den Blick nach innen, die Beschäftigung mit der Philosophie und die ewige Frage nach dem Rätsel der Liebe, aufzugeben. Sie sind angehalten, sich ein Beispiel an dem lebenstüchtigen und kühnen Fergus zu nehmen, da dieser Herrscher über Wald, Meer und Sterne ist, nicht da er sie in ihrem innersten Wesen durch seine Räson verstanden hätte, sondern da er sie als sein natürliches Umfeld begreift und mit ihnen zu verschmelzen vermag. Die James-Joyce-Forschung ist geteilter Meinung darüber, ob das Zusammentreffen von Stephen und Bloom sowie der sich anschließende Heimweg zum Hause Blooms auf eine Vereinigung von Vater und Sohn schließen lässt. Curtius etwa argumentiert, dass die Symbolik des Ulysses geradezu auf den Augenblick hintreibe, „wo Bloom in Stephen seinen geistigen Sohn erkennt“, was wiederum auf eine Konsubstantialität von Vater und Sohn deutet. 436 Auch wenn Stephen entscheidet, nicht in der Eccles Street Number 7 zu übernachten und seinen eigenen Weg fortsetzt, scheint vieles für eine Vater-Sohn Beziehung der beiden zu sprechen. Beide sind auf der Suche nach einer Bezugsperson. Bloom versucht seinen verstorbenen Sohn Rudy zu ersetzen, Stephen seine verstorbene Mutter sowie seinen Vater Simon, zu dem er kein gutes Verhältnis hat. Dass Bloom und Stephen in vieler Hinsicht ähnlich sind und sich geradezu ergänzen, zeigen vor allem ihre teils parallel verlaufenden Gedankenströme, etwa bezüglich der Überlegung, Vgl. Ernst R. Curtius. James Joyce und sein Ulysses. S.28.

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dass es mehr Frauen als Männer auf der Welt gebe. Dieses „merging of the minds“437 verdeutlicht die sich überschneidenden Interessen von Stephen und Bloom. Eine dieser Interessen ist die Astronomie, welcher sich beide Protagonisten in ihrer Freizeit widmen. Wie Tindall treffend bemerkt, ist dieses Interesse Ausdruck der Suche und des Verständnisses des Makrokosmos,438 was den Protagonisten Joyces einen faustischen Charakter verleiht und sie zudem in die geistige Nähe Hans Castorps rückt, der ebenfalls den Kosmos zu ergründen sucht. Das Interesse Blooms für den jungen Studenten zeigt sich mehrfach im Verlauf des Romans, etwa in „Hades“, wo Simon Dedalus von seinem Sohn berichtet und Bloom an den Verlust des eigenen Sohnes erinnert wird. Aber vor allem im Krankenhaus, wo Bloom sich nach dem Befinden von Mina Purefoy erkunden will, erwacht Blooms Sympathie für Stephen sowie sein Beschützerinstinkt. Er folgt ihm in das Bordellviertel, um zu verhindern, dass dieser sich von den Prostituierten um sein Geld betrügen oder von den Wachleuten verprügeln lässt. Zudem sorgt er sich um Stephens Gesundheit, versucht ihn vom Alkoholgenuss und Tabakkonsum abzuhalten und rät ihm, etwas Essbares zu sich zu nehmen (U, S.522). Bloom steht Stephen bei und richtet ihn auf, wenn dieser fällt. Er erweist sich somit nicht nur als sorgende Vaterfigur, sondern auch als Retter und als Führer Stephens durch die Unterwelt. Blooms Antriebsfeder für sein vorbildhaftes Verhalten ist sicher auch egoistisch begründet, da er versucht, den eigenen verlorenen Sohn zu ersetzen. Dennoch vertritt die vorliegende Arbeit die These, dass das Verhalten Blooms auch aus einer seinem Wesen eigenen Humanität entspringt, welche ihn der Welt und seinen Mitmenschen gegenüber offen, freundlich und hilfsbereit auftreten lässt. Hermann Broch beschreibt dieses Phänomen sowie das Zusammenlaufen der Motive in „Circe“ als „platonische Idealität des Geschehens, dessen Simultaneität vom Ich und nur vom Ich her bestimmt wird, von einem Ich, das zwar in diesem besonderen Falle hier Bloom heißt, letztlich aber das Ich schlechthin, das Humane schlechthin ist.“439 Auch Stanford bezeichnet Bloom als (agnostischen) Humanisten, dessen „compassionate humanism“ die Menschen zueinander führt.440 Die Fähigkeit Blooms, sich in andere hineinzufühlen, sich für sie zu freuen, aber auch mit ihnen zu leiden, zeigt sich besonders bei der Beerdigung Paddy Dignams, wo er auch an dessen Frau und Kinder denkt und sie mit einer großzügigen Spende unterstützt. Ebenso wird dies am Beispiel Mina Purefoys deutlich, der Bloom einen Besuch abstattet, um zu sehen, ob sie die Entbindung ihres Kindes schon hinter sich gebracht hat. Die Peter Egri. Avantgardism and Modernity. S.63. William York Tindall. „James Joyce and the Hermetic Tradition“ S.36. 439 Hermann Broch. „James Joyce und die Gegenwart“ In: Ebd. Gesammelte Werke 6. Dichten und Erkennen. Essays Band 1. Rhein-Velag. Zürich. 1955. S.195. 440 William Bedell Stanford. The Ulysses Theme. A Study in the Adaptability of a Traditional Hero. Basil Blackwell. Oxford. 1954. S.214. 437 438

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mythische Dimension seiner Humanität wird offenbar, wenn man bedenkt, dass er mit seinem Handeln vor allem die Distanz zwischen Selbst und Anderem verringert, um nicht zu sagen schließt, „closing the gap between event and meaning, self and other.“ 441 Er bewegt sich dabei nicht nur auf den Anderen als Person zu, sondern auch auf das Andere, auf das Unbekannte, das Jenseitige, was insbesondere durch das Motiv des Spiegels versinnbildlicht wird. 442 Bloom wird somit auch zu einem Vertreter des Humanismus, den Joyce in seinem Werk darstellt. Folgt man der Argumentation Auberts nämlich, versucht dieser durch den in seinem Werk portraitierten Antiidealismus der Desillusionierung der Menschheit entgegenzuwirken. 443 Dass Bloom für Stephen eine Vaterfigur darstellen könnte, wird in „Circe“ besonders an der Stelle deutlich, wo Stephens tatsächlicher Vater, Simon Dedalus, erscheint. Stephens Ausruf „Pater“ könnte seinem leiblichen Vater oder aber Bloom gelten, da er mit diesem ins Gespräch vertieft ist. Stephen sinniert: „It was here. Street of harlots. In Serpentine Avenue Beelzebub showed me her, a fubsy widow. Where's the red carpet spread? (…) No, I flew My foes beneath me. And ever shall be. World without end. (He cries.) Pater! Free! (…) Break my spirit, will he? O merde alors!“ (U, S.532). Der Ausruf Stephens könnte sich zudem auf den göttlichen Vater beziehen bzw. auf dessen Gegenspieler (oder eigentlich Teil desselben): Satan. Dafür spricht vor allem, dass Stephen sagt, Beelzebub selber habe ihn in die Serpentine Street, die „Straße der Schlangen“ geführt, ein weiterer Verweis auf den biblischen Sündenfall Adams und Evas und auf die Wolllust, welche Stephen zu quälen scheint. Die erneute Erwähnung des Teufels und die Möglichkeit, dass Bloom dieser Teufel sein könnte, zeigt, dass auch in Bloom trotz seiner Gutmütigkeit und seiner Humanität ein kleiner Teufel steckt. In diesem Sinne ist er ein vollständiger Mensch, da er gute und böse Eigenschaften auf sich vereint: „Then we can set it down that to complete his humanity Mr Bloom has something of a little devil about him somewhere.“ 444 Die Erinnerung, welche Stephen hier heraufbeschwört, ist die eines Traumes, welchen er nachts gehabt hatte. Schon dort hatte er Bloom einmal gesehen, was ein erneuter Hinweis auf die Verbundenheit Blooms und Stephen ist. Sein Mentor ist ihm im Traum erschienen, damit er ihn im wirklichen Leben wiedererkenne. Bloom und Stephen sind Vater und Sohn im Geiste, auch wenn es offen bleibt, ob der Kontakt zwischen ihnen, welcher in „Circe“ hergestellt wurde, tatsächlich bestehen bleibt. Es bleibt zu hoffen, dass Stephen sich die Humanität Blooms zum Vorbild nimmt, um seinen weiteren Lebensweg zu beschreiten. In diesem Falle würde der Ulysses zu einem Bildungsroman, da der junge Stephen Dedalus auf vielen Umwegen den Weg zum Leben gefunden Eric Gould. Mythical Intentions in Modern Literature. Princeton University Press. Princeton;New Jersey. 1981. S.84f. Vgl. auch Jean Michel Rabaté. Joyce – Portrait de l'auteur en autre lecteur. Cistre. Petit-Rœulx. 1984. S.59. 443 Vgl. Jacques Aubert. Introduction générale In: Ebd. (Hrsg.). James Joyce Œuvres. Edition Gallimard. Paris. 1982. 444 Frank Budgen. James Joyce and the Making of Ulysses. Oxford University Press. London. 1972. (1960). S.282f. 441 442

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hätte. Der Durchgang durch die Hölle hätte eine Läuterung zur Folge, welche zu einer Besserung und Steigerung des jungen Protagonisten beiträgt. Denn „die vollendete Verneinung von Sinn und Sein ist eine Katharsis. Nur wer den Abgrund gesehen hat, kann hoffen, sich wieder zum Lichtreich des Geistes zu erheben. (…) Das Inferno des Ulysses ist, so betrachtet, selbst ein Purgatorium.“445 Der Roman sollte daher nicht nihilistisch gelesen werden. Er folgt eher dem Vorbild Dantes, da Stephen und Bloom den Weg ins Paradies, den Weg in ein friedvolles und humanes Europa beschreiten. Stephen tritt hierbei als eine Art Initiand auf, welcher von Bloom in die Geheimnisse der Welt (und vielleicht auch der Freimaurerei) eingeweiht wird. Er erfährt einen „rite de passage“, welcher ihn zum Mann macht und der Welt sowie der Kunst als neuer Mensch gegenüber treten lässt. Während dieses Prozesses gibt Stephen seine zweiflerische und nihilistische Natur auf, um im übertragenen Sinne neu geboren zu werden: „The effect of the successful adventure of the hero is the unlocking and release again of the flow of life into the body of the world, a moment, of spiritual passage, which, when complete, amounts to a dying and birth.“ 446 Tindall betont, dass die Begegnung Stephens mit Bloom zur Folge habe, dass der junge Student sich als Teil der Gesellschaft begreife und sein Hochmut daher dem Mitgefühl weiche. Dabei huldige Stephen nicht einem Gott, sondern einzig der Humanität selbst, 447 welche als Kernbegriff des Ulysses angesehen werden müsse. Wie auch für Thomas Mann spielt für Joyce zudem der europäische Kontext des Romans eine große Rolle, da es ihm auf ein friedliches Miteinander der Menschen sowie der Nationen untereinander ankommt. Die Bezugnahme auf ein zusammenwachsendes und kooperierendes Europa wird schon im Portrait deutlich, wo Stephen die Flucht auf den Kontinent als einzigen Ausweg aus der Engstirnigkeit und Prüderie Dublins begreift. Vor allem Paris, welches Ziel seiner Reise ist, erscheint als europäische Metropole par excellence, aufgrund seiner umfassenden Bibliotheken und seiner kosmopolitischen Intelligenzia, welche zu Anfang des Jahrhunderts nicht zuletzt in den Salons verkehrt. Zum anderen jedoch erscheint die Stadt wegen ihrer vielen Bordelle als Sündenpfuhl, was wiederum Stephens sinnlichen Bedürfnissen entspricht. Sie scheint die zwei Seiten Stephens adäquat zu verkörpern und ist für ihn somit als Wahlheimat wie geschaffen. Wie im Kapitel zum Portrait bereits angedeutet, kann Stephen darüber hinaus als europäische Figur gelten, da seine mythischen und philosophischen Vorbilder vor allem griechischer Natur sind. In seiner Internationalität und Weltoffenheit steht Bloom Stephen allerdings in nichts nach. Sein Vater Rudolf Virag stammt aus Ungarn und ist über Wien und Triest nach Dublin gelangt. Er war ursprünglich Jude, konvertierte jedoch seiner Frau Ellen zuliebe zum Protestantismus. Ellen Ernst Robert Curtius. James Joyce und seine Welt. S.61.f. Joseph Campbell. The Hero with a Thousand Faces. Pantheon Books. New York. 1949. S.51. 447 W.Y. Tindall. „Dante and Mrs Bloom“ In: Accent 11. S.140. 445 446

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hingegen ist geborene Irin. Bloom wurde somit von ungarischen wie irischen, jüdischen wie protestantischen Einflüssen geprägt. Da Religion, im Gegensatz zu Humanität und Nächstenliebe, in seinen Augen austauschbar ist, ist er seiner Frau Molly zuliebe zum Katholizismus übergetreten. Diese wiederum stammt aus Gibraltar, was ihm zufolge ihre spanische Natur, ihre Leidenschaft und Leichtlebigkeit bzw. Treulosigkeit erklärt. Bloom sieht ihr das nach, da sein buntes und vielfältiges Umfeld ihn Toleranz gelehrt hat. Er nimmt die Menschen so wie sie sind, er akzeptiert ihre Fehler sowie auch die eigenen, er macht keinen Unterschied zwischen ihnen bezüglich ihrer Abstammung oder ihrer Religion. Diese „transnationale“ Persönlichkeit Blooms entspricht dem Verständnis, welches Joyce, aber auch Kazantzaki von der Figur des literarischen Vorbilds Odysseus haben: „Unlike most of their predecessors in the tradition, these two authors see Ulysses not as a regional, or a national emblem, but as a cosmopolitan, supra-national figure. He bears, in a sense, the hopes and fears, the wisdom and folly, both of contemporary European society and of the whole European literary tradition.“ 448 James Joyce jedoch bedient sich bei seiner Mythos-Vorstellung nicht lediglich des Vorbilds Homers. Sein Umgang mit dem Mythos ist, ähnlich dem Thomas Manns, von einer Vielzahl an Vorlagen geprägt. Er schöpft aus unterschiedlichen Mythologien und orientiert sich an verschiedensten Vorläufern. So finden literarische Vorbilder wie eben Homers Odysseus oder Shakespeares Hamlet Eingang in den Ulysses, aber auch biblische bzw. christliche Figuren, wie Jesus, Moses, Elija oder Satan. Darüber hinaus bedient sich Joyce der Antiken Mythologien, wenn er den jungen Stephen seinem Namensgeber Daidalos nachstreben lässt. Wie Abele betont, spielt Joyce hier ganz bewusst mit der Kategorie Mythos und mythisiert diesen somit selbst. Ulysses zelebriert seiner Ansicht nach den Mythos des Mythos, entziehe ihm aber jegliche Interpretationsbasis respektive Bedeutung. Bloom verkörpert für ihn „the commonplace reality to which all mythopoetic extravagances dwindle. But this is far from the celebration of myth with which we began.“449 Folgt man der Deutung Abeles, persifliert Joyce gar den Mythos, um statt diesem das Leben selbst darzustellen: „The world of myth is put under comic criticism by a world of antimyth, and what results is neither the apotheosis of myth nor the denigration of modern culture, but the presentation of a fictive universe whose most amusing paradox is that, though saturated with death and kitsch, it yet gives off an authentic and inexhaustible aura of life.“ 450 Auch Harry Levin bescheinigt Joyce eine Tendenz zum „Anti-Mythos“, da Odysseus und Bloom in vieler Hinsicht geradezu konträr gestaltete Figuren seien und Ulysses damit zur Umkehrung der William Bedell Stanford. The Ulysses Theme. S.225. Rudolph von Abele. „Ulysses: The Myth of Myth“ In: PMLA 69. 1954. S.362. 450 Ebd. S.364. 448 449

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Odyssee, zu einem „mock-epic“ werde. 451 In der Tat scheint der Mythos, dessen Inhalte er gänzlich umkehrt, Joyce vor allem als Folie zu dienen. So zieht sein moderner Odysseus etwa nicht in den Krieg gegen Troja und rächt auch nicht den Ehebruch seiner Frau. Bloom divergiert maßgeblich von der homerischen Figur Odysseus', denn er ist Pazifist und Gutmensch und steht als solcher für eine Humanität ein, deren Europa zu Beginn des 20. Jahrhunderts dringend bedarf. Wenn Joyce den Mythos jedoch umdeutet, bedeutet dies nicht, dass er ihn jedweder Bedeutung entleert. Er gibt ihm lediglich eine neue, der Moderne zugedachte Funktion. In der Tat spielt dabei der literarische Realismus Joyces, die möglichst genaue Darstellung des Lebens, so wie es tatsächlich ist, eine entscheidende Rolle. Der Autor vermittelt in seinem Ulysses jedoch nicht nur die „Aura des Lebens“, sondern betont - auch hier nahe bei Mann dessen Vormachtstellung über den Tod. Diese Vormachtstellung des Lebens, welches ihm als höchstes Gut gilt, das zu wahren eines jeden Pflicht ist, drückt ebenfalls seinen Pazifismus und seinen Humanismus aus. Im Ulysses wird das Leben an sich nicht nur dargestellt, wie es tatsächlich ist, es wird als kostbares Gut zelebriert und damit mythisiert. Teil dieser Mythisierung ist auch, die Gegenwart sowie den Alltag als mythisch zu begreifen, das Hier und das Jetzt als Teil des Mythos zu sehen. Hermann Broch betont in seinem Aufsatz „Die mythische Erbschaft der Dichtung“, dass große Dichtung immer um das Zeitlose bzw. die Zeitlosigkeit wisse. „Denn erst in der Vereinigung von Vergangenheit und Zukunft wird der Einheitsraum immerwährender Gegenwart geschaffen, nach dem die Seele sich sehnt und in den sie eingehen will, weil in ihm das Zeitlose und daher sie selbst ruht.“ 452 So vereint auch Bloom die verschiedenen Zeitebenen, wenn er zum einen die Reinkarnation Odysseus darstellt, zum anderen den Menschen der Moderne, welcher, ähnlich Thomas Manns Settembrini, bemüht ist, die Welt durch Fortschritt und durch Humanität zu verbessern. Der Blick in die Zukunft findet laut Broch dabei meist im Traum statt. Dies lässt sich vor allem mit dem Traum Stephens in Verbindung bringen, der von einer möglichen Zusammenkunft mit Bloom in der Harlot Street zeugt. Darüber hinaus obliegt es dem Mythos, die „Welt in ihrer Nacktheit“ darzustellen. Dies sei Joyce sowohl mit dem Ulysses als auch mit Finnegans Wake vorbildlich gelungen: „Joyce hat sich dieser Aufgabe in zwei Etappen genähert, die erste, Ulysses, hat den antiken Mythos über die Gesamthistorie und damit über das Menschenleben schlechthin ausgebreitet.“ 453 Dadurch dass Joyces Bearbeitung des Mythos den Menschen sowie die Gegenwart in den Vordergrund rückt, gerät die einst verehrte Götterwelt ins Hintertreffen. Bloom und Stephen Harry Levin. James Joyce. S.71. Hermann Broch. „Die mythische Erbschaft der Dichtung“ In: Ebd. Gesammelte Werke 6. Dichten und Erkennen. Essays Band 1. Rhein-Velag. Zürich. 1955. S.243. 453 Hermann Broch. „Die mythische Erbschaft der Dichtung“ S.247. 451 452

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erfahren eine regelrechte Apotheose und versinnbildlichen somit die Gottwerdung des Menschen, die Bedeutung, welche ihm in der Moderne, nach dem Zeitalter der Industrialisierung und dem Abfall von Gott zukommt. Die Götterwelt wird folglich entmythisiert, die Menschen hingegen mythisiert. Mit dieser Mythisierung des Menschen jedoch geht auch eine große Verantwortung einher, da er nun Herr seines Schicksals, Schmied seines eigenen Glückes ist. Verantwortung für die eigene Person und das eigene Handeln, aber Verantwortung auch in Bezug auf den Makrokosmos, Verantwortung für das eine Europa, für die Eine Welt. Joyces Auffassung des modernen Odysseus Leopold Bloom entspricht der Konzeption Adornos und Horkheimers von der Figur des Odysseus, da in ihren Augen schon der homerische Held die Götter, insbesondere Poseidon und dessen Sohn Polyphem herausgefordert und überlistet hat und somit selber gottgleich wurde. Zudem zeige die Odyssee den engen Zusammenhang zwischen Mythos und Aufklärung auf: „Kein Werk aber legt von der Verschlungenheit von Aufklärung und Mythos beredteres Zeugnis ab als das homerische, der Grundtext der europäischen Zivilisation.“ 454 Interessant sind besonders die Implikationen, welche die List des Odysseus gegen Polyphem mit sich bringen. Diesen nämlich täuscht er, indem er seinen eigenen Namen verleugnet, um sich statt dessen Outis, also Niemand, zu heißen. Er gibt somit das eigene Subjekt auf und nähert sich dem Amorphen, dem Toten an, um das eigene Leben sowie das der Gefährten zu retten: „In Wahrheit verleugnet das Subjekt Odysseus die eigene Identität, die es zum Subjekt macht und erhält sich am Leben durch die Mimikry ans Amorphe.“455 Die Nivellierung von Totem und Lebendigem, Tod und Leben, dient somit als Mittel zum Überleben für Odysseus. Diese Annäherung an das ThanatosMotiv findet sich sowohl in „Hades“ als auch in „Circe“ wieder, wo es beide Male eine auf Bloom stimulierende, da Lebenslust hervorrufende, Wirkung ausübt. Wie T.S. Eliot in seinem Aufsatz „Ulysses, Order and Myth“ ausführlich darlegt, ist Joyces Umgang mit dem Mythos insofern revolutionär, als die Formelemente des klassischen Mythos, welche Joyce in sein Werk übernimmt, der im Chaos versinkenden Gegenwart Struktur und Sinn verleihen: „In using the myth, in manipulating a continuous parallel between contemporaneity and antiquity, Mr Joyce is pursuing a method which others must pursue after him (…) a way of controlling, of ordering, of giving a shape and a significance to the immense panorama of futility and anarchy which is contemporary history.“456 Mit seiner „mythischen Methode“, welche sowohl Ethnologie als auch Psychologie umfasst, erschließt Joyce die Moderne für die Kunst.457 Theodor W. Adorno; Max Horkheimer. Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. Suhrkamp Verlag. Frankfurt a.M. 1981. S.63. 455 Ebd. S.86. 456 T.S. Eliot. „Ulysses, Order and Myth“ S.201. 457 Ebd. S.202. 454

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Wie das folgende Kapitel zeigen wird, gelingt Mann in seinen Werken Ähnliches. Denn auch er benützt den Mythos als strukturelles Instrument, um der Gegenwart Bedeutung und Form zu verleihen, wobei er, ähnlich Joyce, auf verschiedene Mythologeme zurückgreift, um der entgötterten Moderne Herr zu werden. Sowohl Thomas Mann als auch James Joyce bedienen sich des Topos der Unterwelt, um ein düsteres Bild der Moderne zu entwerfen, das aber von einem Rest Hoffnung zeugt. Bedeutsam ist vor allem, dass die Unterwelt bei beiden Autoren ein diesseitiges Phänomen ist. In Doktor Faustus etwa steigt nicht der Protagonist Adrian Leverkühn in die Hölle hinab, sondern der Leibhaftige besucht den Komponisten im italienischen Palästrina. Auch als Wahnvorstellungen Leverkühns gedeutet, welche im Zuge seiner Syphilis-Erkrankung auftreten könnten, wäre der Teufel ein diesseitiges, ein geradezu wissenschaftliches Phänomen. Auch Joyce begreift die Katabasis als ein gegenwärtiges und diesseitiges Motiv. Schon im Portrait wird deutlich, dass die Hölle des jungen Stephen Dedalus zwar von der christlichen bzw. jesuitischen Höllenvorstellung inspiriert ist, letztlich aber lediglich in seinem Kopf Realität besitzt. Einzig sein ihn ewig quälendes Gewissen sowie seine Ungewissheit bezüglich der Zukunft als Künstler verursachen ihm höllische Qualen. Ebenso verhält es sich im Ulysses. Wie Campbell ausführt, ist die Unterwelt dort kein real erfahrbarer Ort, sondern ein „state of the soul that is absolutely committed to its earthly experiences and to your limitations.“ Die Figuren des Romans, insbesondere Stephen und Bloom, sind „bound, locked in their ego systems devaluing the mystical dimension.“458 So umtreiben Bloom in „Circe“ zum einen der Ehebruch seiner Frau, zum anderen aber seine eigenen sexuellen Wünsche und Phantasien. Seine Hölle ist eine personalisierte und internalisierte Hölle, welche dem christlichen Vorbild nicht mehr im geringsten gleicht. Ähnlich verhält es sich mit Stephen, dessen Hölle noch immer von den Traumata seiner Kindheit bestimmt ist, ergänzt durch die Schuldgefühle, welche ihm der Tod seiner Mutter verursacht. Joyce kehrt hier die Tradition der literarischen Höllenfahrt geradezu in ihr Gegenteil um, wenn er seinen Leser eben nicht in die mythische Sphäre der Unterwelt führt, sondern die Unterwelt zum Leser und damit in die Welt bringt. 459 Ebenso wie Thomas Manns beschreibt Joyce die Unterwelt als ein diesseitiges, vor allem aber als ein psychisches Phänomen. Der moderne Mensch wird von seinem Gewissen geplagt, von seinen unerfüllten Wünschen und verletzten Eitelkeiten. Wie schon bei Dante ist eine Läuterung jedoch nicht ausgeschlossen. Stephen scheint auf seinem Weg durch die Unterwelt Circes, eine Läuterung zu erfahren, da sein geistiger Mentor Bloom ihn sicher aus der Joseph Campbell. Mythic Worlds. Modern Words. S.15. Vgl. ebd.

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Hölle hinausführt und ihm humanistisches Gedankengut nahelegt.

3.5 Schattenwelt und Gruselkabinett – Die Unterwelt im Werk James Joyces Wie bei Thomas Mann erfährt die Verwendung des katabatischen Topos im Werke Joyces im Laufe der Zeit eine Wandlung. In Dubliners wird die Stadt selber als trüber und höllischer Ort dargestellt, insbesondere aufgrund ihrer Bigotterie und ihres Viktorianismus. In „Grace“ bedient sich Joyce dabei der Vorlage Dante Alighieris, indem er die Struktur und die Bedeutung der Divina Commedia geradezu in ihr Gegenteil verkehrt. Der Treppensturz ebenso wie der soziale und wirtschaftliche Niedergang des Teehändlers Tom Kernan entspricht einem „Fall from Grace“, der ihn von dem Inferno der Trunksucht über die vermeintliche Läuterung bis hin zum Paradiso, der bigotten „retreat sermon“ in der Kirche führt. Diese parodistische Unterhöhlung des literarischen Vorbilds zeigt vor allem die Bigotterie der Dubliner Geschäftswelt und schildert Tom Kernan und seine Genossen als eitle, trunksüchtige, heuchlerische und gierige Zeitgenossen. Wie Auerbach in seiner Analyse der Divina Commedia ausführt, treten in der Unterweltsschilderung des Florentiner Schriftstellers die Charakterzüge der „Schatten“ besonders eindringlich vor das Auge des Lesers. Die Essenz ihres Wesens tritt stärker hervor als zu Lebzeiten der Figuren, sodass der „wahre“ Charakter ans Licht kommt. Ähnlich verhält es sich mit den Figuren in Joyces Erzählung, da die desolate Lage Kernans seine ambivalente Persönlichkeit in all ihren Facetten offenbart. Die Hölle, welche Joyce in „Grace“ beschreibt, wird folglich vor allem von der Scheinfrömmigkeit und der Falschheit der irischen Großstädter geprägt, welche stets auf den eigenen Vorteil bedacht sind, nicht aber auf ihr spirituelles Wohl oder auf den rücksichtsvollen Umgang miteinander. Ähnlich behandelt Joyce den katabatischen Topos in der letzten Erzählung des Zyklus, „The Dead“, wo die Festgesellschaft die Züge von Schatten annimmt, welche die Vergangenheit verklären und dieser nostalgisch anhängen. Wie in Thomas Manns Tod in Venedig wird Dublin als eine Stadt beschrieben, die krankt und von einer Art Seelenfäulnis befallen ist. Gabriel Conroy nimmt sich zunächst von dieser Gesellschaft aus, muss am Ende der Erzählung jedoch erkennen, dass auch er Züge dieser Gesellschaft trägt, etwa wenn er seine Liebe zu Gretta, die in Wahrheit von „clownish lusts“ bestimmt wird, zu einer romantischen Seelenverwandtschaft verklärt. Im Hotelzimmer beginnt Gabriel, sich seines Charakters und seiner tatsächlichen Handlungsmotive bewusst zu werden und erfährt somit ein Stück Selbsterkenntnis. Im Rahmen dieser Erkenntnis wird er sich der eigenen Sterblichkeit bewusst. Für die Zukunft nimmt er sich daher vor, den Westen Irlands und sinnbildlich die eigenen Wurzeln ebenso wie die eigene Vergangenheit zu erforschen. Mit dieser 244

Annäherung an die Vergangenheit und die Welt der Toten, deren Repräsentant Michael Fury ist, schließt Gabriel die Kluft zwischen sich und der Schattenwelt ebenso wie die zwischen seinem jetzigen Leben und der eigenen Vergangenheit. Die Hinwendung zu der Welt der Toten und der Vergangenheit bedeutet allerdings auch einen Rückschritt, da er in romantisches Gedankengut zurückfällt und das Jenseitige und Abgründige zu idealisieren und zu überhöhen droht. Er wird somit zu einem Feind der Aufklärung, nähert sich damit aber einer anderen Humanität an, nämlich der Humanität, welche Clawdia Chauchat im Zauberberg beschreibt und die besagt, dass man sich verlieren muss, um sich (und das Leben) zu gewinnen: „il faut se perdre, pour se gagner.“ Durch die Auflösung des Individuums Gabriel Conroy vermag er es, mit seinen Vorfahren ebenso wie seinen Mitmenschen eins zu werden. Diese Ineinssetzung wird auch im Portrait aufgegriffen, wo Stephen „in den Spuren“ seines mythischen Vorfahren Daidalos geht und wo schon der märchenhafte Stil zu Beginn nahelegt, dass sein Lebensweg einen allgemeingültigen, mythischen Charakter trägt. Ähnlich Hans Castorp erlebt auch Stephen Momente, in denen er eine Art Steigerung erfährt, da er über sich als Individuum hinauszuwachsen scheint, um sich der Welt seiner Vorfahren anzunähern. Wie Hans Castorp ist er sich der mythischen Rolle, welche er übernimmt, bewusst und stilisiert sich wissentlich als der Nachfolger Daidalos' oder Satans. Besonders die Rolle Luzifers, welche er mit seinem Credo „Non serviam“ übernimmt, legt seine Rebellion gegen Elternhaus, Kirche und Staat nahe. Im Gegensatz zum Teufel lehnt er sich jedoch weniger gegen Gott bzw. gegen den Glauben an eine höhere Macht auf, als viel eher gegen die Verbohrtheit und Doppelmoral der katholischen Kirche. Durch die Tabuisierung der Sexualität nämlich, welche die Kirche maßgeblich zu verantworten hat, hegt Stephen ein gestörtes Verhältnis zum eigenen Körper und zu seinen erwachenden Trieben. Er fühlt sich zerrissen zwischen seinem sexuellen Verlangen und der Keuschheit, welche Kirche und Gesellschaft von ihm erwarten. Dieser innere Konflikt Stephens lässt ihn als eine Art modernen Faust erscheinen, auch da der junge Student sich selbst zu erkennen sucht. Die Kirche steht jedoch nicht nur seiner sexuellen Entwicklung entgegen, sondern auch seiner geistigen, da sie die aufkommenden Wissenschaften ebenso wie die Philosophie, welcher Stephen besonders nahesteht, als Bedrohung der eigenen Vormachtstellung empfindet und daher verdammt. Aufgrund dieses im Portrait geschilderten Konflikts zwischen der Entwicklung eines jungen, intelligenten Mannes und den Dogmen der Kirche, fungiert der erste Roman Joyces als Kritik an der katholischen Kirche, welche Stephen seine Höllenvorstellungen eingibt. Während der „retreat“-Woche nämlich zeichnet Father Arnall den jungen Schülern des Jesuitenkollegs ein wahres Höllenszenario, welches sowohl die fünf Sinne des Körpers als auch die Seele in Mitleidenschaft zieht. Aufgrund seiner sexuellen „Vergehen“ erhält Stephen den Eindruck, 245

jedes Wort der Predigt sei einzig und allein für ihn bestimmt, woraufhin die eigentliche Höllenfahrt des Schülers ihren Anfang nimmt. Denn von nun an wird Stephen durch Gewissensbisse geplagt, die Halluzinationen in Form wahrer Höllenvisionen hervorrufen. Auch wenn Stephen sich einige Zeit später von diesem Trauma zu erholen scheint, so wird im Ulysses doch deutlich, dass die Jesuiten ihm die Furcht vor der Hölle eingeimpft haben. Die Gewissensbisse, welche ihn schon als Schüler plagten, verfolgen ihn noch Jahre später. Unbewusst bleibt Stephen dieser Angst eingedenk, auch wenn er später die bewusste Entscheidung trifft, sich von der Kirche, und folglich auch von ihren Höllenbeschreibungen, abzuwenden. Gegenüber Cranly bemerkt er ironisch, dass ein Himmel, in den Father Arnall einginge, ewige Glückseligkeit bedeuten müsse (Vgl. P, S.202). In Wahrheit wäre es für ihn die Hölle, seinen Peiniger und Demütiger stetig vor Augen zu haben. Seine Desillusionierung bezüglich der Kirche geht daher mit einer Entmythisierung derselben einher. Die von der Kirche propagierte Hölle tritt für ihn in den Hintergrund, die von ihr verursachten „höllischen“ Gewissensbisse jedoch nicht. Im Portrait ebenso wie im Ulysses handelt es sich folglich um eine verinnerlichte Hölle, welche von Ängsten ebenso wie von unerfüllten Sehnsüchten geprägt ist. Letztere offenbaren sich vor allem in der „Circe“-Episode, in der Leopold Bloom seine sexuellen Fetische Gestalt annehmen sieht. Das Kapitel zeigt die Totalität des Lebens auf, Ängste wie Wünsche, Bewusstsein und Unbewusstes, Traum und Realität, Vergangenheit und Zukunft. Es kommt einer „heaven and hell show“ gleich, in welcher zunächst der klassische Mythos durchgespielt wird, da sowohl Leopold Bloom als auch Stephen Dedalus in einen Diskurs mit ihren verstorbenen Verwandten treten. Anders als bei Homer oder Vergil, kommt es allerdings nicht zu einer anrührenden Szene, einem glücklichen Wiedersehen oder gar zu einer Prophezeiung. Viel eher drehen sich die Gespräche Blooms mit seinen Eltern und seinem Großvater, ebenso wie die Begegnung zwischen Stephen und seiner Mutter, in einer Art (Teufels-)Kreis, da die Toten mit den ewig gleichen Vorwürfen aufwarten, die sie ihrer Nachkommenschaft schon zu Lebzeiten gemacht haben. Blooms Anwesenheit in diesem zwielichtigen Viertel wird bemängelt ebenso wie der Umstand, dass Stephen sich dem Glauben verweigert hat. Die „Totengespräche“ also reißen lediglich alte Wunden auf und erinnern Bloom und Stephen an ihre vermeintliche Unzulänglichkeit, ihre anti-heroischen Qualitäten. Das schwierige Verhältnis zu den Eltern, im Falle Blooms auch zu seiner Frau und seiner Tochter Milly, verdeutlicht die geistige Nähe der beiden Protagonisten ebenso wie dies ihre teils ähnlich verlaufenden Gedankenströme tun. Sich dieser Nähe (halb) bewusst, bemüht sich der gutmütige und menschenfreundliche Bloom um eine Annäherung an den jungen Studenten, der ebenso wie er eine Art Einzelgänger ist. Bloom wird somit zu einem Mittler, einem Mediator, und tritt folglich in die Fußstapfen der Hermes-Figur. Die Mittler-Rolle steht ihm insofern gut zu 246

Gesicht, da sein Hintergrund interkulturell geprägt ist. Bloom nämlich ist ungarischer Abstammung und ein ehemaliger Jude. Seine Familie ist nach Irland immigriert und er ist, Molly zuliebe, zum Katholizismus übergetreten. Bloom dient somit als Europäer par excellence, da er Grenzen überschreitet und Mauern zwischen den Völkern und Religionsgemeinschaften einreißt. Er dient als Muster des (geistigen) Weltbürgers und der Toleranz, welche Joyce sich für Europa erhofft. Wie schon im Portrait so übt Joyce gegen Ende der „Circe“-Episode zudem harsche Kritik an der katholischen Kirche. Die Schwarze Messe, welche die Dubliner zelebrieren, fungiert als parodistisches Gegenstück zu der den Roman eröffnenden Mock Mass Buck Mulligans. Durch die Umkehrung kirchlicher Riten ebenso wie der Wörter „God“ und „Dog“ wird der vermeintlich tierische, viehische Charakter Gottes deutlich, was ihn der Figur des Teufels annähert. Dieser wird als Teil Gottes, als Teil von dessen Schöpfung angesehen. Mit der hier vorgenommenen Herabsetzung der göttlichen Instanz geht eine Aufwertung des Menschen, eine regelrechte Apotheose einher, welche Bloom auch in dem Kapitel „Cyclops“ erfährt: „And they beheld Him even Him, ben Bloom Elijah, amid clouds of angels ascend to the glory of the brightness at an angle of fortyfive degrees over Donohoe's in Little Green Street like a shot off a shovel.“ (U, S.330). Ins Zentrum des Romans rückt folglich der Mensch, womit Joyce, ebenso wie Thomas Mann, einen Mythos des Menschen und seines diesseitigen, sinnlichen Lebens begründet, der mittelalterlichen und antiken Unterweltsvorstellungen teils zuwiderläuft.

4. Die Höllen der Moderne – Katabatische Motive in den Werken von Thomas Mann und James Joyce Obgleich zahlreiche komparatistische Arbeiten über die Literatur der Moderne vorliegen, wurde nur selten der Vergleich zwischen Thomas Mann und James Joyce angestellt. Michael Palencia-Roth spricht sogar von einer Nicht-Beziehung der beiden Autoren, da Mann die Werke Joyces nur vereinzelt und auch nur in Übersetzung gelesen habe.460 Und tatsächlich ist der direkte Einfluss der beiden Schriftsteller aufeinander verschwindend gering. Dennoch zeugt ihr Werk von einer geistigen Verwandtschaft, wie auch Thomas Mann betont.461 Diese Nähe der Autoren resultiert nicht zuletzt aus der gemeinsamen Erfahrung des in stetem Wandel begriffenen Europas und dem Ende der romantischen Epoche, welche sie in ihren Werken ironisch beleuchten und kritisch hinterfragen. Vgl. Michael Palencia-Roth. „Thomas Mann's Non-Relationship to James Joyce“ In: MLN 91. 1976. S.575-582. Vgl. Thomas Mann. Die Entstehung des Doktor Faustus. S.474.f.

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Ins Visier nehmen die Autoren hierbei die politische sowie religiöse Riege, vor allem jedoch die Gesellschaft selber. Diese Ähnlichkeiten und Affinitäten im Werke der beiden Schriftsteller spiegeln, selbst wenn sie teils zufälliger Natur sein mögen, den Zeitgeist und den „heartbeat“ der ausgehenden Epoche.462 Im Falle Thomas Manns und James Joyces finden sich zahlreiche dieser Parallelen. Ein Vergleich ließe sich etwa anstellen im Hinblick auf das Portrait der Intellektuellen, welches beide in ihren Werken zeichnen und das eine regelrechte Karikatur der europäischen geistigen Elite darstellt, da sie letztlich in ihren Gedanken verhaftet bleibt und nicht zum Handeln fähig ist, ja geradezu paralysiert wirkt und daher in den politischen und gesellschaftlichen Prozess nicht einzugreifen vermag. Stephen Dedalus etwa verkörpert diesen Typus, da er im Privaten geistige Höhenflüge unternimmt, im sozialen Bereich jedoch zumeist scheitert, weil er sich nicht in die Gesellschaft einzugliedern vermag. Im Werke Thomas Manns fallen insbesondere Leo Naphta und Lodovico Settembrini unter diese Kategorie, da auch sie den Fortschritt der Gesellschaft lediglich in Gedanken voranbringen und Hans Castorp durch ihre übertriebenen Bemühungen um (geistige) Einflussnahme auf ihn verschrecken, womit sie ihn wider Willen in die Arme Clawdia Chauchats und Mynheer Peeperkorns treiben. Ein weiteres Thema, welches beide Werke kennzeichnet, ist die Künstler-Bürger-Problematik. Das Bürgertum wird eingehend geschildert, sowohl in den Buddenbrooks Manns als auch in Joyces Dubliners, das Künstlertum vor allem in den Novellen Manns sowie im Portrait of the Artist as a Young Man.463 Diese beiden entgegengesetzten Welten prallen in den Werken beider Autoren häufig aufeinander, etwa wenn Gustav Aschenbach die körperliche Leidenschaft, welche Tadzio in ihm entfacht und welche sein künstlerisches Schaffen inspiriert, nicht mit den bürgerlichen Idealen vereinbaren kann, nach denen er sein Leben bisher ausgerichtet hatte. Dieser innere Konflikt zwischen bürgerlicher Erwartungshaltung und sexuellem Verlangen, welches mit künstlerischer Inspiration einhergeht, prägt auch die Figur des Stephen Dedalus. Die spießbürgerliche Gesellschaft kommt in dieser Gegenüberstellung eher schlecht weg. Lilian R. Furst spricht gar von einer „decomposition of the middle class.“464 Der im Werk beider portraitierte Niedergang des Bürgertums, welcher von einem Verfall des bisher gültigen Wertesystems begleitet wird, hat Richard Kain zufolge sogar prophetischen Charakter, da er die gesellschaftliche Entwicklung beschreibt, welche letztlich zu den europäischen Katastrophen des 20. Jahrhunderts geführt hat. In seiner Joyce-Studie Fabulous Voyager spricht er von einer „uncanny prescience of writers who long Vgl. Robert K. Weninger. „James Joyce and German Literature“ In: Richard Brown (Hrsg.). A Companion to James Joyce. Blackwell Books. Malden. 2008. S.741. S.153. 463 Vgl. Harry Levin. James Joyce. S.212. 464 Lilian R. Furst. „Thomas Mann's Interest in James Joyce“ In: The Modern Language Review 64. 1969. S.605-613. 462

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ago sensed the imminence of the present catastrophic changes in society.“ 465 Die düstere, prophetische Zeichnung der Epoche wie der Gesellschaft findet ihren Ausdruck nicht zuletzt auch in der Handlung, wenn die vermeintlichen Helden sich in die Unterwelten der Moderne begeben. Wie Campbell feststellt, finden sich sowohl im Zauberberg als auch im Ulysses „a deliberate calling-in of myth, using intentionally and with direct references the mythology of the hero's voyage into the world of darkness, the abyss and the return.“ 466 Was Campbell insbesondere auf den Zauberberg und den Ulysses bezieht, lässt sich auch auf andere Werke beider Autoren übertragen. Wie in den großen Epen der europäischen Literaturgeschichte, der Odyssee und der Aeneis, wird die Suche und die Reise eines (oder im Falle Joyces auch zweier) Protagonisten beschrieben, welche im Laufe dieser Irrfahrt auch das Reich der Schatten, die Unterwelt, besuchen. In vielerlei Hinsicht orientieren sich Mann und Joyce dabei an ihren literarischen Vorläufern Homer und Vergil, etwa was die Funktion der Hadesfahrt anbelangt. In einem Punkt jedoch setzen sie sich deutlich von ihnen ab, nämlich was die Beschaffenheit der modernen Hölle betrifft. Wie vor allem im Doktor Faustus deutlich wird, ebenso wie in der „Circe“-Episode des Ulysses, kann die Hölle nicht mehr im traditionellen Sinne als tatsächlicher Strafort der Sünder gesehen werden. Dieser fungiert als christlich-religiöses Relikt, welches im Portrait etwa noch eingehende Beschreibung findet, dem Menschen der Moderne jedoch nicht mehr entspricht. Die moderne Hölle ist persönlich beschaffen, sie ist verinnerlicht. Diese Internalisierung des katabatischen Topos, und auch des Teufels, der im Doktor Faustus gar als eine Art Halluzination erscheint, welche Adrians an der Syphilis erkranktes Gehirn ihm vorgaukelt, verdeutlicht, dass die Qualen der Moderne das Innerliche des Menschen, sein Seelenleben und Innenleben betreffen. Sie sind psychologisch motiviert und somit in gewisser Weise selbst verschuldet. Stephen etwa stilisiert sich regelrecht als Sünder und imaginiert folglich die auf ihn in der Hölle wartenden Strafen. Auch später bestehen seine Qualen hauptsächlich aus Selbstvorwürfen und Selbstzweifeln, etwa wegen des Konflikts mit seiner verstorbenen Mutter. Die Unterwelt ist also sowohl in traditioneller als auch in moderner Form im Werke beider Autoren durchaus gegenwärtig und tritt in Verbindung mit verschiedenen Motivkomplexen auf. Einige dieser Motive, welche sowohl bei Thomas Mann als auch bei James Joyce Verwendung finden, sollen im Folgenden eingehend analysiert werden.

Richard M. Kain. Fabulous Voyager. S.8f. Joseph Campbell. Mythic Worlds, Modern Words. S.10.

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4.1 Waisen, Vereinzelung, Einsamkeit Eines dieser katabatischen Motive ist eng mit dem klassischen Epos verknüpft, die Elternlosigkeit bzw. die Vatersuche. Sie spielt vor allem in der Aeneis eine wichtige Rolle, da der junge Aeneas eigens in den Hades hinabsteigt, um sich bei seinen Vater Anchises Rat zu holen. Dieser übernimmt eine prophetische Rolle, wenn er seinem Sohn und Schützling in seiner Aufgabe, die Stadt Rom zu gründen, bekräftigt und ihm seine Nachkommenschaft und seinen Erfolg vorführt. Durch die Unterredung mit seinem Vater erhält Aeneas folglich eine Bestimmung und Berufung, welche seiner Zukunft und somit seinem Streben einen Sinn verleihen. Aeneas wird damit sowohl göttlicher als auch familiärer Beistand zuteil. Auch in der homerischen Odyssee hat die Vatersuche eine die Handlung motivierende Rolle inne, da Telemachus auszieht, um seinen schon Jahrzehnte auf Irrfahrt verschollenen Vater Odysseus zu suchen. Diese Reise des jungen Telemach, welche auch als Auflehnung und Befreiungsschlag gegenüber den Penelope belagernden Freiern angesehen werden kann, kommt einer Initiation, seiner Mannwerdung, gleich. Die Suche nach dem Vater ist zudem aufs engste mit der Selbstfindung des jungen Helden verknüpft, mit der Entwicklung seiner Persönlichkeit und der Frage, ob er in Zukunft das königliche Erbe des Vaters wird antreten können oder ob er einen anderen Weg einzuschlagen gedenkt. Mit der Entscheidung, den Vater in die Heimat zurückzuholen, bekennt sich Telemach zu seiner Familie, aber auch zu seiner Heimat, dem Königreich Ithaka, dessen rechtmäßigen Herrscher er ihm wieder zuführen möchte. Wie der Titel Ulysses schon vermuten lässt, hat sich Joyce die homerische Odyssee zur Vorlage genommen und greift zahlreiche der homerischen Motive und Themen auf, so auch das der Vaterbzw. der Elternsuche. Zwar verfügt der junge Stephen Dedalus über einen leiblichen Vater, nämlich Simon Dedalus, jedoch kann er sich mit diesem nicht identifizieren und möchte nicht in seine Fußstapfen treten. Er ist folglich auf der Suche nach einem geistigen Vater, einer Art Mentor, welcher ihm seine zukünftige Bestimmung weist. Diesen Mentor glaubt er in einem mythischen Vorfahren zu erblicken, dem griechischen Handwerker und Künstler Daidalos, den er aufs innigste verehrt und am Ende des Portrait anruft: „Old father, old artificer, stand me now and ever in good stead.“ (P, S.213). Das Verhältnis Stephens zu seiner mittlerweile verstorbenen Mutter ist ebenfalls von Distanz und Unverständnis gezeichnet. Er kann ihren blinden und naiven Glauben an die katholische Kirche nicht nachvollziehen und verwehrt ihr ihren letzten Wunsch, er möge seinen „österlichen Pflichten“ nachkommen, Kommunion feiern und für sie beten. Stephen sagt sich von seinem Elternhaus und dem göttlichen Vater los, um seiner künstlerischen Berufung, welche Daidalos ihm verheißt, 250

nachzukommen. Das Motiv wird somit variiert und ironisch unterlegt, da Stephen trotz seines schwindenden Glaubens an die Götter und seines aufgeklärten Geistes Zuflucht bei einem mythischen Göttervater sucht, anstatt sich eine menschliche Vaterfigur zum Vorbild zu erwählen. Gesteigert wird diese ironische Verkehrung noch durch den Umstand, dass Leopold Bloom ebenfalls ein Suchender ist, ein Sohn-Suchender. Obgleich er seine Tochter Milly verehrt und liebt, fehlt ihm sein kurze Zeit nach der Geburt verstorbener Sohn Rudy schmerzlich und er sucht Ersatz zu schaffen, indem er sich dem jungen Stephen zuwendet. Pongs behauptet gar, dass nicht etwa Stephen auf der Suche nach einem Seelenverwandten sei, sondern lediglich Bloom, dass der Vater also den verlorenen Sohn suche, dieser seiner aber gar nicht bedürfe. 467 Auch im Werk Thomas Manns ist das Verhältnis zwischen Eltern und Kindern häufig schwierig, teils sogar inexistent. Hans Castorp etwa wird schon in jungen Jahren zum Vollwaisen und muss noch vor Beendigung des 12. Lebensjahres Vater, Mutter und schließlich auch seinen Großvater in das Reich der Toten eingehen sehen. Doch auch er sucht ganz unverkennbar Ersatz zu schaffen. Nach dem Tod seiner Eltern etwa fasst er eine starke Zuneigung und Bewunderung für den Großvater, der mit seiner spanischen Halskrause beinahe geschichtlich anmutet. Hans Castorp überhöht ihn regelrecht zu einer mythischen Figur, in deren Spuren er gehen möchte, was besonders deutlich wird, als auch er auf dem Berghof zu zittern anfängt und dies zu verbergen sucht, indem er, ähnlich dem Großvater, sein Kinn mit der Hand abstützt. Dafür, dass Hans Castorp Beistand sucht, gibt es zahlreiche Hinweise. Das „Sorgenkind des Lebens“ ist von früher Kindheit an anämisch und bedarf der Stärkung durch ein drittes Frühstück und dazu gereichtem Porter, der die Blutbildung des Jungen anregen soll. Zudem ist er entscheidungsunfreudig, ja geradezu träge und auch überaus müde. Er betätigt sich kaum sportlich und zieht es vor, sich auszuruhen. Seine Unentschiedenheit zeigt sich insbesondere bei der Berufswahl, die Hans Castorp eher zufällig als bewusst trifft. In diese Richtung gedrängt, wird er Schiffsbauingenieur, hätte sich aber ebenso gut vorstellen können, Priester oder Arzt zu werden. Auf dem Berghof eingetroffen, sieht Hans Castorp sich denn auch sogleich nach neuen Mentoren um. Zunächst erscheint ihm Hofrat Behrens als überaus interessanter und amüsanter Zeitgenosse, bald jedoch nimmt er Abstand von ihm und wird im Weiteren von Settembrini und Naphta geleitet. Diese Mentoren inspirieren, ihn zu „regieren“ und Studien zu betreiben. Nach mehreren Unterredungen mit Behrens etwa erwirbt Castorp Fachliteratur zur Anatomie des menschlichen Körpers, um sich neue Kenntnisse im Bereich der Medizin anzueignen. Im Mittelpunkt steht dabei stets der Mensch, was das (eher unbewusste) Interesse Castorps am „Humanen“ erahnen lässt. Das Vgl. Hermann Pongs. Im Umbruch der Zeit. Das Romanschaffen der Gegenwart. Verlag der Deutschen Hochschullehrer-Zeitung. Göttingen. 1958. S.45. 467

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Verweilen Hans Castorps auf dem Berghof über sieben Jahre hinweg kann hierbei als eine Art Flucht aus dem Flachland gesehen werden, da ihn dort das wahre Leben mit all seinen Entscheidungen und Fehlentscheidungen erwarten würde. Die Berglandschaft kann hierbei auch als Symbol für die geistigen Höhenflüge gelten, welche Hans Castorp vor allem während der ersten Monate und Jahre auf dem Berghof unternimmt. Im Flachland hingegen würde er lediglich seinem Beruf nachkommen und in einen alltäglichen Trott verfallen. Auch die Figuren in Thomas Manns Novellen hegen ein kompliziertes Verhältnis zu ihren Erzeugern. Die Zwillinge Siegmund und Sieglinde in Wälsungenblut etwa verachten ihren Vater für seine ehemals ärmliche Herkunft und seine Freude am selbst angehäuften Vermögen. Sie selber wurden in eine Welt des Luxus hineingeboren und nehmen diesen als selbstverständlich hin. Das innig verbundene Geschwisterpaar zeichnet sich zudem durch seine scharfe Intelligenz und kühle Intellektualität aus, welche es der Welt entfremdet. Da die stolzen Geschwister aber ohnehin nur wenig für die restliche Welt oder soziale Kontakte übrig haben, flüchten auch sie sich, nämlich in die traute Zweisamkeit des Inzests. Anna aus der Novelle Die Betrogene zeichnet sich ebenso wie die Zwillinge durch jene kühle Intelligenz sowie durch eine gewisse Distanz und Hochmütigkeit gegenüber ihrer Mutter und der von ihr verehrten Natur aus. Bei aller emotionalen Gebundenheit an Rosalie, ermangelt Anna eines Vaters, da dieser recht früh verstorben ist, und wurde mit dem männlichen Geschlecht nie wirklich warm, was zum einen daraus resultieren mag, dass ihre Mutter sie allein aufzog, zum anderen aus ihrer Behinderung, welche sie von Sport und Tanzveranstaltungen jedweder Art ausschloss. Auch Anna unternimmt eine Flucht, um der Welt der Liebenden und der Natur zu entkommen. Sie flüchtet sich in die Welt der abstrakten Kunst, eine Welt der Gedanklichkeit und der Philosophie, in welcher sie die Natur nicht imitiert, sondern kühl seziert. Rosalie empfindet die Arbeiten sogar als bitterböse Satire, da Anna die Natur in ihrer Kunst dekonstruiert und die Naturliebe ihrer Mutter geradezu verhöhnt. Einige der Figuren Joyces und Manns haben also ein schwieriges Verhältnis zu ihren Erzeugern gemein, welches sicherlich auch mit ihrer Rolle in der Gesellschaft insgesamt zusammenhängt. Denn alle sind sie Außenseiter, welche außerhalb der sozialen Sphäre zu stehen scheinen und sich nicht zu integrieren vermögen oder wollen. Wie J. Mitchell Morse feststellt, hängt diese Außenseiterrolle auch damit zusammen, dass die Figuren Künstler sind bzw. sich als solche verstehen.468 Anna studiert an der Kunsthochschule in Düsseldorf, Siegmund versucht sich in der Malerei, wenn auch mit wenig Erfolg. Selbst Hans Castorp hat in jungen Jahren häufig Schiffe gezeichnet und auch Stephen fühlt sich der Kunst und dem Schriftstellertum verpflichtet. Da Kunst J. Mitchell Morse. „The Artist as Savior“ In: MFS 5. 1959. S.104.

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und Bürgertum in den Werken Manns und Joyces jedoch nur schwer vereinbar, ja regelrechte Antagonismen sind, leben die Figuren ein innerlich zurückgezogenes Leben. Wie Renato Saviane anmerkt, wohnt dem Künstler eine „Tendenz zum Abgrund“ und zum Dionysischen inne,469 die er jedoch überkommen müsse. Die Lösung des Konfliktes sei eine Aussöhnung der Kunst, im Falle Aschenbachs eine Versöhnung der Literatur mit dem Leben und der Realität. 470 Zwei dieser Figuren scheinen im Laufe ihrer Entwicklung ihren Bannkreis zu durchbrechen und zumindest in gewisser Hinsicht mit dem Leben und der Welt in Kontakt zu treten. Während der sieben Jahre, die Hans Castorp auf dem Berghof verbringt, wird er dem „Flachlande“, seiner norddeutschen Heimat, zwar entfremdet, dafür eröffnen sich ihm aber höhere (geistige) Regionen. Settembrini führt ihn in die Gedankenwelt und Philosophie des Südens bzw. des Okzidents ein. Naphta und Chauchat hingegen sind Vertreter des Ostens und östlicher Trägheit und Gelassenheit, wie dies schon seiner Anlage entspricht. Hans Castorp beschäftigt sich während seiner Zeit auf dem Berghof intensiv mit den verschiedenen Kulturen und gedanklichen Strömungen, welche ihm begegnen und welche ihn für sich zu gewinnen versuchen. Nach langem Schwanken scheint er zu seiner eigenen Wahrheit zu finden, dass das Leben mehr wert sei als der Tod und dass ihm daher auch die volle Aufmerksamkeit gebühre, auch wenn man des Todes stets eingedenk sein sollte. Auch Stephen Dedalus scheint gerade über seine Außenseiterrolle zum Internationalen, zum Europäer, vielleicht sogar zum Weltbürger zu werden. Die rückständige und viktorianisch anmutende Engstirnigkeit Irlands treibt ihn zunächst in ein geistiges Exil, in welchem er sich mit fremdländischer, insbesondere klassischer Literatur beschäftigt. Gegen Ende des Portrait lässt er diesem gedanklichen Exil denn auch die tatsächliche Flucht auf den Kontinent folgen. In Paris, der Stadt der Sünde und zugleich dem Mekka europäischer Kultur, stehen Stephen alle Wege offen, auch wenn seine finanziellen Mittel begrenzt sind. Wie Mario Domenichelli ausführt, wird Stephen somit zum „internationalista culturale, il senza patria, che fa del mondo la sua casa.“ 471 Sowohl Hans Castorp als auch Stephen Dedalus überschreiten somit die Grenzen bürgerlichen Denkens und nationaler Identität, wodurch sie eine politische und soziale Weltgemeinschaft, ein friedliches Miteinander der Völker, in Aussicht stellen.

Renato Saviane. „Morte e Trasfigurazione a Venezia“ In: Cultura Tedesca 5. 1996. S.102. Ebd. S.97. 471 Mario Domenichelli. Il Mito di Issione. Lowry, Joyce e l'Ironia modernista. ETS. Pisa. 1982. S.18. 469 470

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4.2 Tod und Wiedergeburt Ein weiteres katabatisches Motiv, welches vor allem bei Thomas Mann anklingt, ist die Nähe zwischen Grab und Mutterleib, die im Englischen auch sprachlich ihren Niederschlag findet. Die Verbindung der beiden scheinbar so verschiedenartigen Motive stammt insbesondere aus der ägyptischen Mythologie, in der die Göttin Isis die Sonnenbarke am Abend verschlingt, um sie am nächsten Morgen wieder zu gebären. Somit symbolisiert sie sowohl das Leben als auch den Tod, Geburt und Niedergang. Rosemarie Daniel schreibt ihr zudem den Geist erneuernde Kräfte zu. 472 Das hiervon abgewandelte Motiv des Mutterschoßes, welcher Geborgenheit, Sicherheit und Vertrautheit sowie Fruchtbarkeit symbolisiert, findet sich etwa in Thomas Manns Wälsungenblut, wo die Zwillinge Siegmund und Sieglinde in einer hermetisch abgeschlossenen Kutsche zur Oper fahren, welche sie birgt und vor der Außenwelt schützt: Der kleine, weiche Raum, darin sie saßen, war sanft durchwärmt. (…) Sie waren im Herzen der Stadt. Lichter stoben hinter den Gardinen vorbei. Rings um den taktfest hurtigen Hufschlag ihrer Pferde, um die lautlose Geschwindigkeit ihres Wagens, der sie federnd über Unebenheiten des Bodens trug, brauste, gellte und dröhnte das Triebwerk des großen Lebens. Und abgeschlossen davon, weichlich bewahrt davor, saßen sie still in den gesteppten, braunseidenen Polstern, - Hand in Hand. (WB, 448).

Der Hufschlag der Pferde scheint in dieser Beschreibung den Herzschlag zu symbolisieren, den der Zwillinge, welche aufgrund ihrer Leidenschaft freudig erregt sind, aber auch den der die Kutsche symbolisierenden Mutter. Wie Donald F. Nelson jedoch anmerkt, ist das Motiv des Mutterschoßes und der Gebärmutter durchaus positiv zu lesen, da es die Voraussetzung für eine Wiedergeburt darstelle, einen Neubeginn und eine Wiederherstellung ehemaliger Einheit. Falsch hingegen sei die Annahme, das Motiv verweise auf einen Wiedergewinn der verloren gegangenen Sicherheit, welche der pränatale Lebenszustand im Uterus evoziere und welchen viele als paradiesischen Zustand ansähen.473 Dieses Motiv nun wird auch im Tod in Venedig aufgegriffen, wo die Gondel, welche Gustav Aschenbach zum Lido übersetzt, eine ungemein bequeme und träge machende Wirkung auf ihn hat: Lau angerührt vom Hauch des Scirocco, auf dem nachgiebigen Element in Kissen gelehnt, schloß der Reisende die Augen im Genusse einer so ungewohnten als süßen Lässigkeit. Die Fahrt wird kurz sein, dachte er; möchte sie immer währen! In leisem Schwanken fühlte er sich dem Gedränge, dem Stimmengewirr entgleiten. Wie still und stiller es um ihn wurde! Nichts war zu vernehmen, als das Plätschern des Ruders, das hohle Aufschlagen der Wellen gegen den Schnabel der Barke, der steil, schwarz und an der Spitze hellebardenartig bewehrt über dem Wasser stand.“ (TiV, 524).

Vgl. Rosemarie Daniel. „'Nachtmeerfahrt' – Tiefenpsychologische Reflexionen über Höllenfahrten“ In: Markwart Herzog. Höllen-Fahrten. S.252. 473 Vgl. Donald F. Nelson. Portrait of the Artist as Hermes. A Study of Myth and Psychology in Thomas Mann's Felix Krull. University of North Carolina Press. Chapel Hill. 1971. S.96. 472

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Hier wird die Parallele zur ägyptischen Sonnenbarke, welche tagsüber durch den Himmel und nachts durch die Unterwelt fährt, noch deutlicher. In diesem Kreislauf, welcher laut Aschenbach immer währen möge, fühlt sich der Protagonist durchaus wohl, ja geradezu berauscht und den Einflüsterungen des zwielichtigen Gondolieres geneigt. Zudem spielt die Gondel aber auch explizit auf die homerische Odyssee an, in welcher Odysseus und seine Gefährten ebenfalls das Schiff nutzen, um zum Rand des Okeanos, zum Hades, zu gelangen. Aschenbach fühlt sich in der Gondel derart wohl, dass es ihm sogar gleichgültig ist, ob der Gondoliere ihn in das Reich der Toten befördert: „Das ist wahr, dachte Aschenbach und spannte sich ab. Das ist wahr, du fährst mich gut. Selbst, wenn du es auf meine Barschaft abgesehen hast und mich hinterrücks mit einem Ruderschlage ins Haus des Aides schickst, wirst du mich gut gefahren haben.“ (TiV, 526). Die Gondel, welche äußerlich einem Grab bzw. einem Sarg ähnelt, im Inneren aber ungemein bequem und komfortabel auf Aschenbach wirkt, kann somit als Vereinigung der beiden Motive gesehen werden, da sie sowohl die Schrecken des Grabes als auch die Geborgenheit und Einheit im Mutterschoß symbolisiert. In beiden Erzählungen hat das Motiv eine der Welt entfremdende Funktion. Sowohl die AarenholdZwillinge als auch Gustav Aschenbach entrücken der Realität und ergeben sich ihrer Selbstliebe sowie ihrer Trägheit. Diesem „Tode“ jedoch folgt insofern eine Wiedergeburt, als die Leidenschaft sowohl der Zwillinge als auch Aschenbachs im Folgenden erweckt wird und die Protagonisten auf ein sexuelles Abenteuer einstimmt. Während die Zwillinge dieses Abenteuer, den Inzest, ausleben, kommt es im Falle Aschenbachs bereits zu einer Verinnerlichung der Leidenschaft. Ähnlich stimulierend und sexuell konnotiert erscheint der Motivkomplex um Grab und Mutterleib im Doktor Faustus, wo Adrian Leverkühn in Begleitung des schottischen Professors Caperzailcie eine Tiefseefahrt unternimmt. Die zwei Tonnen schwere Hohlkugel, welche ihnen dabei als Gefährt dient, ist „nichts weniger als bequem“ und ermöglicht ihnen ungeahnte Eindrücke aus dem Leben in der Tiefe des Ozeans. Motivation Adrians ist ein ungemeiner „Erkenntniskitzel“ und er fühlt sich regelrecht als Voyeur, aufgrund der Indiskretion, welche die Betrachter gegenüber den scheuen, sich im Dunklen verbergenden Geschöpfen walten lassen, wenn sie die „ewig stille und jungfräuliche Nacht“ durchhellen: „Adrian sprach von dem Erkenntniskitzel, den es bereitete, das Unerschaute, nicht zu Erschauende, des Geschautwerdens nicht sich Versehende dem Blicke bloßzustellen. Das damit verbundene Gefühl der Indiskretion, ja der Sündhaftigkeit wurde nicht ganz beschwichtigt und ausgeglichen durch das Pathos der Wissenschaft, der erlaubt sein muß, so weit vorzudringen, wie es ihrem Witz eben gegeben ist.“ (DF, 390). Diese Beschreibung des Grabes bzw. des Mutterschoßes legt nun nicht nur die Verbindung mit 255

Leidenschaft und Sexualität nahe, sondern auch die Möglichkeit auf transzendente Erkenntnis. Adrian schaut eine ihm völlig unbekannte Welt voller Wunder und Absonderlichkeiten. Er geht auf den Grund des Meeres und erforscht somit in gewisser Hinsicht die Unterwelt. Im Falle Adrians ist diese Unterwelt jedoch unbemannt, da ihm jeglicher „wärmender“ Umgang mit den Menschen vom Teufel versagt bleibt. Anders gestaltet sich das Motiv in Joyces Portrait, wo es relativ explizit am Ende des zweiten Kapitels auftritt. Stephen wandert durch einen „Irrgarten“ aus engen und schmutzigen Straßen, wo die auffällig vielen Frauen bunte Kleidung tragen und wo sich vor den Häusertüren Gruppen von Menschen versammelt haben, als ob sie einem „Ritus“ beiwohnen wollten. Stephen begreift zunächst nicht, dass es sich dabei um seinen eigenen Initiationsritus, seine Mannwerdung, handelt. Die Beschreibung des Bordellzimmers und der Wärme, welche die Stephen verführende Prostituierte ausstrahlt, macht sie zu einer Mutterfigur, in deren Schoß und an deren Busen Stephen sich geborgen, darüber hinaus aber auch stark und selbstbewusst fühlt: Her room was warm and lightsome. (…) As he stood silent in the middle of the room she came over to him and embraced him gaily and gravely. Her round arms held him firmly to her and he, seeing her face lifted to him in serious calm and feeling the warm calm rise and fall of her breast, all but burst into hysterical weeping. Tears of joy and relief shone in his delighted eyes and his lips parted though they would not speak. (…) His lips would not bend to kiss her. He wanted to be held firmly in her arms, to be caressed slowly, slowly, slowly. In her arms he felt that he had suddenly become strong and fearless and sure of himself. (...) With a sudden movement she bowed his head and joined her lips to his. (…) He closed his eyes, surrendering himself to her, body and mind, conscious of nothing in the world but the dark pressure of her softly parting lips. They pressed upon his brain as upon his lips as though they were the vehicle of a vague speech; and between them he felt an unknown and timid pressure, darker than the swoon of sin, softer than sound or odour. (P, S.85).

Stephen wird in dieser Szene vom pubertierenden Jungen zum sexuell aktiven Mann, aber auch die Prostituierte durchläuft eine Wandlung, da sie Stephen zunächst als „little rascal“ bezeichnet und einen Kuss von ihm verlangt. Sie tritt als schützende und bevormundende Mutterfigur auf, legt diese Rolle aber ab, als sie bemerkt, dass Stephen ihr keinen unschuldigen Kuss geben möchte und sich ihrem Willen somit widersetzt. Er möchte nicht länger wie ein Kind, sondern wie ein begehrenswerter Mann liebkost werden, was das Freudenmädchen realisiert. Die Rollen werden folglich vertauscht, wenn sie nun seinem Wunsch nachkommt und ihn nicht als Mutter, sondern als Geliebte küsst und ihn somit in die weibliche Sexualität einführt. Joyce verwendet das Motiv des Mutterschoßes deutlich expliziter als Mann dies tut und spielt damit unverhohlen auf die sexuelle Komponente des Gegenstandes an. Die sexuelle Initiation Stephens verbindet die Motive von „tomb“ und „womb“, da sie zum einen als Tod, zum anderen als Wiedergeburt Stephens gedeutet werden kann. Der körperlich unberührte und unsichere Stephen stirbt einen symbolischen Tod, um in das Mannesalter einzutreten.

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4.3 Dionysische Klänge – Gesang der Sirenen Ein weiteres unterweltliches Motiv in den Werken Manns und Joyces ist die Musik. In Thomas Manns Wälsungenblut ist es die Opernmusik Wagners, die Walküre, welche Siegmund die Leidenschaft, derer es zur Kunst bedarf, einflüstert und somit zum Inzest beiträgt. Die Verwendung des Motivs kommt somit der Auffassung Nietzsches nahe, für den die Musik dionysisch konnotiert ist und als Ausdruck des Willens zum Leben gedeutet werden kann. 474 Denn Siegmund entscheidet sich mit dem Inzest zum einen für die ihm schon lange inne wohnende Leidenschaft und zeugt zudem ein Kind mit seiner Schwester, wie der letzte Satz der Erzählung andeutet. Somit wird er selber zum Schöpfer und Künstler, dessen Wirkungsraum das Leben darstellt. Auch im Tod in Venedig tritt die Musik als dionysisches Prinzip auf. Schon während Aschenbachs Gondelfahrt gesellt sich eine zweite Gondel hinzu, auf welcher Musik gespielt wird und welche zu Aschenbachs träumerischem Zustand beiträgt. Geradezu alarmierend wirkt die Vorführung des Bändelsängers und seiner Musiktruppe auf der Terrasse des Hotels, da der Lachrefrain, den dieser immer wieder anstimmt, einer Verhöhnung des sich in Sicherheit wiegenden, doch in Gefahr schwebenden Publiku*ms gleichkommt. Schließlich gleicht sogar die fremdländische Sprache Tadzios in Aschenbachs Ohren einer Musik: „Aschenbach verstand nicht ein Wort von dem, was er sagte, und mochte es das Alltäglichste sein, es war verschwommener Wohllaut in seinem Ohr. So erhob Fremdheit des Knaben Rede zur Musik.“ (TiV, 552). Hier tun sich erste Parallelen zu den Werken Joyces auf, da Aschenbach Alltägliches zu Göttlichem erhebt. Die mythische Überformung des Knaben sowie seine fremde, exotische Sprache lassen ihn gottgleich erscheinen und entschuldigen die möglicherweise banalen Inhalte seiner Rede. Dass Tadzios Rede für Aschenbach Musik ist, nähert ihn der Figur des Dionysos, dessen Kulte von Musik begleitet wurden. John Burt Foster bemerkt, dass der Einfluss der Musik im Tod in Venedig beständig zunimmt und somit auch der Wirkungskreis des Dionysischen: „When he (Aschenbach) notices the mysterious stranger on the steps of the funeral hall in Munich, this man is the first of several messengers of death (among them Tadzio) whose ever closer association with music suggests a growing influence of the Dionysian.“475 Auch Renato Saviane betont den Zusammenhang zwischen der Musik, insbesondere der des Bändelsängers, und dem dionysischen Prinzip, welches im Tod in Venedig zu Tage tritt: „La musica è, nietzscheanamente, manifestazione del dionisaco e il cantante, con i suoi ritmi incalzanti e le irridenti ritmiche risate rivolte alla bella società raccolta sulla terrazza dell'albergo, sembra volere distruggere o annunciare la distruzione di un mondo Vgl. Friedrich Nietzsche. Die Geburt der Tragödie. S.51ff. John Burt Foster Jr. Heirs to Dionysus. A Nietzschean Current in Literary Modernism. Princeton University Press. Princeton. 1981. S.148. 474 475

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aristocratico-borghese che la prima guerra mondiale avrebbe di li a poco effettivamente disperso.“ 476 Auch Lodovico Settembrini sieht in der Musik das rauschhafte, dionysische, ja teuflische Prinzip am Werke, wie er gegenüber dem Musikliebhaber Hans Castorp verlauten lässt: „Die Kunst ist sittlich, sofern sie weckt. Aber wie, wenn sie das Gegenteil tut? Wenn sie betäubt, einschläfert, der Aktivität und dem Fortschritt entgegenarbeitet? Auch das kann die Musik, auch auf die Wirkung der Opiate versteht sie sich aus dem Grunde. Eine teuflische Wirkung, meine Herren. (…) Ich bleibe dabei, daß sie zweideutigen Wesens ist. Ich gehe nicht zu weit, wenn ich sie für politisch verdächtig erkläre.“ (ZB, 175). Die Wirkung, welche Settembrini der Musik zuschreibt, scheint sie auf seinen Schützling Hans Castorp tatsächlich zu haben. Bei den zweiwöchentlich stattfindenden Konzerten, welchen Hans Castorp mit Leidenschaft lauscht, verfällt er regelmäßig in Trägheit, Apathie und Paralyse. Die Musik übt auf ihn also zunächst keine stimulierende, sondern eine lähmende Funktion aus, welche der Atmosphäre auf dem Berghof, der Einerleiheit, entspricht. Insofern ist sie für den Humanisten gefährlich, da sie halb artikuliert, zweifelhaft, unverantwortlich und indifferent ist. (Vgl. ZB, S.173). Indes hat sie insofern eine anregende Wirkung, als sie die Gefühlswelt der Protagonisten anspricht und stimuliert. Sie dient als Kanal und Wegbereiter für die Leidenschaft, aber wie sich im Falle Hans Castorps beobachten lässt, auch für die Trauer. Nach dem Tode seines Vetters Joachim nämlich zieht der Ingenieur sich vermehrt zurück, um das im Hause neu angeschaffte Grammophon zu nutzen und sich, der Musik lauschend, der Erinnerung an seinen Vetter zu ergeben. Das Grammophon ist hier also nicht Mittel des Vergessens, sondern Mittel des Erinnerns und Gedenkens an die Toten. Eine ähnliche Funktion kommt dieser neuen Technik im Ulysses zu, wo Leopold Bloom in „Hades“ darüber sinniert, die Stimmen der Verstorbenen auf Platte zu bannen, um sie nach deren Ableben noch immer hören zu können, damit sie nicht dem Vergessen anheimfallen. Bloom verwirft diese Idee jedoch, da die Platten sich nach einer gewissen Zeit abnutzen würden und die Stimme nur kratzig zu vernehmen wäre. Auch in „Circe“ wird das Motiv des Grammophons wiederaufgenommen, obgleich in einer prophetischen Funktion. Das Grammophon, welches in dem Bordell von Zeit zu Zeit erklingt, verkündigt nämlich das Weltende und die Ankunft des Antichristen. Damit greift es die Neuigkeiten der kürzlich erschienenen Zeitungsausgabe wieder auf, welche von einem Jungen auf der Straße vertrieben wird. Es fungiert als Mittler zwischen dem hermetisch abgeschlossenen Innenraum des Bordells und der geschichtlichen Realität bzw. der Außenwelt.477 Im Zauberberg wie auch in „Circe“ übernimmt das Grammophon somit eine vermittelnde Funktion, indem es zum einen Renato Saviane. „Morte e Trasfigurazione a Venezia“. S.105. Vgl. Viktor Link. Bau und Funktion der Circe-Episode. S.51.

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zwischen Lebenden und Toten ein Band knüpft, zum anderen zwischen Traum und Realität, Innen und Außen. Die wichtigste Rolle aber spielt die dämonisch konnotierte Musik im Doktor Faustus, wo Adrian schon von klein auf mit ihr auf vertrautem Fuße steht, zunächst durch die kanonischen Gesänge mit der Stallmagd, später durch den Klavierunterricht bei seinem Lehrer Kretzschmar. Die Kanongesänge zeichnen sich noch durch eine gewisse „Stallwärme“ aus, welche den Zugang der Musik zum Gefühl des jungen Protagonisten nahelegt. Dieser Charakter der emotionalen Wärme geht im Laufe von Adrians musikalischer Karriere jedoch mehr und mehr verloren, da ihm von Seiten des Teufels die „wärmende Liebe“ untersagt ist und diese Gefühlskälte Adrians, die schon in seiner Natur liegt, durch den Pakt mit dem Teufel aber noch eine Steigerung erfährt, sich auch im Werk des Komponisten niederschlägt. So brilliert Adrian vor allem in der Komposition streng formaler Tonwerke, welche an die atonale Musik Schönbergs erinnern und in deren System „keine freie Note“ mehr möglich ist. Im letzten Werk indes scheint Adrian ein erneuter Zugang zur Menschlichkeit und somit zu einer neuen Humanität zu gelingen, wie auch das tief ergreifende letzte Konzert des Komponisten zeigt. Zuvor jedoch testet der junge Komponist die Parodie der ihm zufolge bereits erschöpften Kunst aus, indem er sie durch die schematische Herangehensweise, der Zwölftontechnik, ihres Herzens beraubt. Die Kunst wird am Beispiel der Musik regelrecht entzaubert, indem in deren Zentrum eine kühle Leere gerückt wird. Die Parodie hat jedoch nicht nur eine nihilistische Funktion, sondern zeigt, wie David Kiremidjian feststellt, auch die Ambivalenz der voller Gegensätze steckenden Natur auf, welche Adrian zeit seines Lebens beschäftigt hat: „It's the purpose of art – and specifically of parody – to reveal the ambiguity of opposites in nature.“ 478 Einige James-Joyce-Forscher, wie Brian Cosgrove, haben die Kompositionen Adrian Leverkühns daher mit dem Werk James Joyces verglichen: „Like Thomas Mann's Adrian Leverkühn in Doktor Faustus Joyce has apparently seen beyond the technical trickery of music to an essential vacuity.“ 479 So wie Adrian die Formen der Musik parodistisch durchspielt und als überholt erweist, führt Joyce die Entwicklung der englischen Sprache vor. Ähnlich Mann verwendet Joyce zudem eine Art Leitmotivtechnik, in welcher die verschiedenen, katabatischen Motive immer wieder auftauchen und aufeinander verweisen.480 Beide zeigen somit, dass die Formen, welche ihnen von der künstlerischen Tradition überliefert wurden, heute nicht mehr zeitgemäß und nicht mehr David Kiremidjian. A Study of Modern Parody. James Joyce's Ulysses and Thomas Mann's Doktor Faustus. Garland Publishing Inc. New York/London. 1985. S.65. 479 Brian Cosgrove. „Joyce's demystification of the 'magical begailements of the Sirens'“ In: Jacqueline Genet (Hrsg. u.a.). Studies on Joyce's Ulysses. Université de Caen. 1991. S.40. 480 Vgl. Walton Litz. The Art of James Joyce. Method and Design in 'Ulysses' and 'Finnegans Wake'. Oxford University Press. London. 1961. S.69. 478

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gebräuchlich sein können, sondern dass die Kunst neue Wege beschreiten muss, was Joyce denn auch in seinem Folgewerk Finnegans Wake eindrucksvoll gelingt.

4.4 Der Traum – Pforte zum Jenseits Die Musik wiederum inspiriert in den Protagonisten Manns ein weiteres Motiv, welches sich auch bei Joyce finden lässt, das des Traumes. Die Jenseitsfahrt im Rahmen eines Traumes bzw. einer Vision hat insofern Tradition, als literarische Vorläufer wie etwa Cicero sich ihrer bedient haben. Im Somnium Scipionis beschreibt dieser den prophetischen Traum des Scipio Aemilianus, in welchem ihm sowohl sein (Adoptiv-)Großvater als auch sein Vater erscheinen, um ihm seine erfolgreiche Zukunft vorherzusagen sowie um ihn die himmlischen Sphären als auch die Sphärenmusik erfahren zu lassen. Auch die Aeneis legt nahe, dass Traum und Jenseits benachbarte Reiche sind, da Aeneas am Ende seines Aufenthalts zwei Ausgangstore aus dem Elysium erblickt: „Sind zwei Pforten dort des Traumgotts: eine, so heißt es, ist aus Horn, läßt leicht die wahren Träume entschweben; schimmernd aus gleißendem Elfenbein ist die andre vollendet, falschen Traum aber senden aus ihr zum Himmel die Manen.“481 James Hillmann hat eigens zu diesem Thema einen Aufsatz verfasst, in dem er ebenfalls darlegt, dass der Traum als Teil der Unterwelt anzusehen ist, wobei er insbesondere auf den Ansatz Sigmund Freuds eingeht, dass der Traum Ausdruck des klassischen Mythos sei. Zudem fungiere der Traum als „nightworld“, das Traum-Ich als dunkles Alter Ego des Träumenden, welches die Triebe des Menschen, das „Es“ zum Ausdruck bringe.482 Diesen Motivkomplex greift Thomas Mann sowohl im Tod in Venedig als auch im Zauberberg wieder auf. So überkommt Gustav Aschenbach gleich zu Beginn der Erzählung eine Urwaldvision. Der Anblick des Fremden entrückt ihn und inspiriert eine der Offenbarung des Johannes gleichende Traumwelt, in welcher Aschenbach wilde Tiger und phallische Pflanzen erblickt. Seine Neigung zu Visionen und Träumen scheint sich während der Reise nach Venedig immer mehr zu verstärken und gipfelt in dem nächtlichen Traum, welcher einer dionysischen Orgie gleichkommt, deren Parole der Name des jungen Tadzio ist. In beiden Fällen haben die Visionen einen prophetischen Charakter, da die erste Vision Aschenbachs seine Reiselust vorwegnimmt und die zweite Vision seine Verfallenheit an den polnischen Knaben und den mit dieser einhergehenden Vergil. Aeneis. S.245. Vgl. James Hillmann. The Dream and the Underworld. Harper and Row. New York. 1979. S.240ff.

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Niedergang widerspiegelt. Im schriftstellerischen Werk Joyces ähnelt den Manschen Traumvisionen vor allem die Schreckensvision Stephens im Anschluss an die Predigt Father Arnalls. Ebenso wie die Vision Aschenbachs gleicht sie der Offenbarung des Johannes in ihrem prophetischen Duktus. Stephen „sieht“ die Schreckgespenster und Untiere, welche ihn in der Hölle erwarten. Beeinflusst und traumatisiert von der detailreichen Höllenbeschreibung des Priesters, hat Stephen tatsächlich den Eindruck, die Hölle, welche lediglich seinem Geist entspringt, sinnlich zu erfahren. Er glaubt ihre Insassen sehen und spüren zu können, was der Vision einen halluzinatorischen Charakter verleiht. Die Träume Hans Castorps wiederum sind anderer Natur. Während seiner ersten Tage auf dem Berghof träumt er vor allem nachts, wobei er die vielen neuen Eindrücke verarbeitet, welche auf ihn einstürmen. Im weiteren Romanverlauf jedoch scheint er überhaupt zum Träumerischen zu neigen. Die sich einstellenden Visionen Hans Castorps sind insofern von besonderem Interesse, da sie Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft miteinander verbinden und die chronologische, geschichtliche Zeit somit aufheben. Nach seinem Spaziergang etwa, der ihn sehr ermüdet und schwächt, muss er sich auf einer Bank nahe einem Wasserfall niederlassen, wobei ihm das Bild Pribislav Hippes aufgeht, dessen Reinkarnation, Clawdia Chauchat, Hans Castorp täglich vor Augen steht. Dieser Traum ruft ihm ein Vorkommnis auf dem Schulhof ins Gedächtnis, als sein Kamerad ihm einen Bleistift geliehen hatte. Diese Traumhandlung verweist zudem auf die Zukunft, nämlich auf den Fastnachtabend, an welchem sich Hans Castorp erneut einen Stift leihen wird, diesmal aber von der schönen Kirgisin Chauchat. Auch der Karnevalsabend kommt einer Traumsequenz gleich, da Castorp gegenüber Clawdia mehrfach betont, dass ihm der Abend, das Gespräch mit ihr, die Intimität, welche vorherrscht, wie ein Traum anmuten, „un reve bien connu.“ Dieser letzte Traum, der streng genommen der realen Sphäre zugehört, kann als eine Art Wunschtraum gedeutet werden, da er die von Hans Castorp lang ersehnte Liebesnacht herbeiführt und somit das Ausleben seiner Gefühle und Triebe. Den Bogen zwischen Vision und Vergangenheit bzw. Vision und Sexualität schlägt auch Joyce in der „Circe“-Episode. Wie Hans Castorp im Zauberberg, wird Stephen hier von den Geistern der Vergangenheit heimgesucht, im Gegensatz zu jenem aber nicht von angenehm konnotierten, sondern von Szenen und Personen, welche ihn traumatisiert und verstört haben, seine tote Mutter etwa oder der sad*stische Father Arnall, der dem Pianolo des Bordells entspringt. Für Leopold Bloom hingegen kommt „Circe“ einem „feuchten“ Traum nahe, der ihm seine sublimierten sexuellen Wünsche aufzeigt, auch die, welche in der Realität nicht umsetzbar sind. So wird Bloom nach dem Erscheinen Bellas zu einer Frau und vollzieht somit einen sexuellen 261

Rollentausch. Das „merging“ der Figuren wie auch der Kategorien ist von besonderer Bedeutung. Bloom und die Frau, die er verkörpert, Bello und Bella, aber auch Bloom und Stephen, wenn ihre Gedankenströme in den gleichen Bahnen laufen, zeigen die Einheit aller Persönlichkeiten und allen Seins auf. Diese Einheit und Multiplizität der verschiedenen Figuren ist es, die sich auch Hans Castorp offenbart, wenn dieser Pribislav Hippe und Clawdia Chauchat miteinander identifiziert. Zudem unterstreicht diese Koinzidenz der Gegensätze die Nähe zwischen „Circe“ und dem „Schnee“-Traum Hans Castorps, da auch in jenem die Gegensätze ineinanderfallen, wenn der Protagonist sich über dieselben erhebt. Auch Slochower vergleicht die Werke Manns und Joyces bezüglich ihrer Traumsequenzen, stellt jedoch fest, dass diese in mancher Hinsicht auch voneinander divergieren. Besonders den „Schnee“Traum liest Slowocher positiv, als zukünftiges Versprechen eines neuen Menschheitsgefühls: „The dream is forgotten by Castorp as he returns to the Berghof, but it remains stored away in his subconscious, where he has 'always' known it. For Mann, dreams are promises, not merely recollections of the past.“ Dies wiederum übertrage sich auch auf Manns Verständnis von Geschichte und Mythos, welche für Mann ebenfalls ein hoffnungsfrohes Versprechen darstellten, für Joyce jedoch nicht: „If, for Spengler, Ezra Pound, Proust and Joyce, history and the myth are the abandoned dreams of man to be passed in review as historic ruins, they are for these men [Thomas Mann u.a.] the promises of continuity and recurrence.“ 483 Was die Trauminhalte betrifft, scheint Slochower hiermit zunächst recht zu haben, bei eingehender Betrachtung allerdings wird ersichtlich, dass erst die Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit ebenso wie mit der Sexualität, mit der Geschichte ebenso wie mit den sublimierten Trieben, Voraussetzung für eine kommende Humanität darstellt. In der Auseinandersetzung der beiden Protagonisten mit ihrem jeweiligen Unbewussten, ihren Ängsten und ihren Wünschen, findet zudem die Selbstfindung derselben statt und somit auch eine Steigerung und Entwicklung. Die „historic ruins“, die Überreste, welche die verbrannte Erde hinterlässt, ermöglichen überhaupt erst das Aufsteigen des Phönix aus der Asche und können somit durchaus positiv gedeutet werden. Trotz ihrer Gemeinsamkeiten betont auch Peter Egri die Divergenzen zwischen „Schnee“ und „Circe“. Während der Traum Hans Castorps eher den Gesetzen der Logik und einer Struktur folgt, scheint die „Nighttown“-Episode im Ulysses sehr konfus und chaotisch gestaltet.484 In der Tat ähnelt sie in dieser Hinsicht einem tatsächlichen, nächtlichen Traum, da sie assoziativ und nicht Harry Slochower. „The Idea of Universal Culture“ In: Charles Neider (Hrsg.). The Stature of Thomas Mann. New Directions. New York. 1947. S.375ff. 484 Vgl. Peter Egri. Avantgardism and Modernity. S.95. 483

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chronologisch oder deduktiv agiert. Egri betont, dass insbesondere „Schnee“ als „concept of the writer's outlook on life“ zu verstehen sei und somit Manns Hoffnung auf die kommende, neue Humanität vermittle.485 Die Vorherrschaft des Lebens über den Tod, die Quintessenz des Zauberbergs, scheint deutlich einfacher auszumachen als dies in „Circe“ der Fall ist. Der zentrale Satz des Romans ist ostentativ in Kursivschrift gesetzt. Gleichwohl sind die Schlussfolgerungen, welche sich dem aufmerksamen Leser bei der Lektüre des „Circe“-Kapitels eröffnen, durchaus vergleichbar mit denen Manns. Tindall betont, dass „Schnee“ ebenso wie „Circe“ außerordentliche Traumsequenzen darstellen, und dass diese, vor allem im Falle Manns, auch einer „inner exploration“, also einer Suche nach dem Selbst, gleichkommen.486 Diese Suche ist sowohl bei Hans Castorp als auch bei Stephen und Bloom von (zumindest teilweisem) Erfolg gekrönt und entspricht somit einer (Selbst)Erkenntnis. Darüber hinaus erkennen die Protagonisten die Ambivalenz der Natur und die mit dieser einhergehende Koinzidenz der Gegensätze. Teil dieser allumfassenden Einheit ist auch das Ineinandergreifen von Traum und Realität, von persönlicher, subjektiver Wahrnehmung und vermeintlich objektiver Geschichtlichkeit. Hans Castorp etwa integriert sein Jugenderlebnis mit Hippe in seine erste Vision ebenso wie seinen Heimatdialekt und die heimischen Wälder in den „Schnee“-Traum, wo diese persönlichen Elemente neben mythischen Motiven, wie etwa der Kore-Demeter-Statue oder den das Kind verschlingenden Hexen, auftreten. Ebenso handhabt dies Joyce, wenn er die Ängste Stephens oder die sexuellen Träume Blooms in den homerischen Mythos integriert. „Circe“ verbindet Traum und Realität, Alltag und Mythos, Vergangenheit und Zukunft, Mann und Frau. Über weite Teile des Kapitels ist nicht auszumachen, welche Schilderungen der fiktiven Realität entsprechen und welche lediglich der Phantasie bzw. dem Unbewussten der Protagonisten entspringen. Wie Frye feststellt, hat der „Circe“-Traum also eine Erkenntnis, ja eine regelrechte Epiphanie zur Folge, welche die Bedeutung des Mythos offenlegt: „Now, if we wish to see this central myth as a pattern of meaning also, we have to start with the workings of the subconscious where the epiphany originates, in other words with the dream.“ Auch Jung betont, dass der Traum und der Mythos eng miteinander zusammenhängen, ja dass der Traum als Ausdrucksform und Manifestation des Mythos zu gelten habe: „Der Traum bringt uns in ferne Zustände der menschlichen Kultur wieder zurück und gibt uns ein Mittel an die Hand, sie besser zu verstehen. (…) Die bewußten Phantasien erzählen uns also an einem mythischen oder sonstigen Stoffe von noch nicht oder nicht mehr anerkannten Wunschtendenzen in der Seele.“ 487 Die Vgl. ebd. Vgl. W.Y.Tindall. The Literary Symbol. S.171ff. 487 Carl Gustav Jung. Wandlungen und Symbole der Libido. Beiträge zur Entwicklungsgeschichte des Denkens (1912). Deutscher Taschenbuchverlag. München. 1995. S.38ff. 485 486

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persönlichen Wünsche entsprechen Jung zufolge dem „kollektiven Unbewussten“, den Wünschen aller. Allen Menschen und allen Völkern wohnen die gleichen Wünsche und Triebe inne, was wiederum zu den Analogien zwischen den verschiedenen mythologischen Stoffen führt. Der Traum ist das Mittel, diese mythologischen Inhalte bzw. die sublimierten Wünsche der Menschheit zu erschließen. Er ist die Ausdrucksform des Mythos.

4.5 Die Krankheit als Stimulans und Mittel zur Steigerung Zwei weitere Motive, die mit der Reise in die Unterwelt zusammenhängen, sind die Intoxikation und die sich in Folge häufig einstellende Krankheit. Wiederholt folgt letzteres ersterem auf dem Fuße und dient zudem als Stimulans und als Inspiration für den künstlerisch veranlagten Helden. Das Motiv der Intoxikation findet sich bereits im Frühwerk Thomas Manns, im Tod in Venedig, wo Gustav Aschenbach während der Vorstellung des Bändelsängers einen Granatapfelsaft trinkt, welcher ihn an die Unterwelt bindet, wie Persephone einst durch das Verzehren eines Granatapfels an den Hades gebunden worden ist. Auch die überreifen und weichen Erdbeeren, welche ihn mit der Cholera infizieren, können als Symbol der Vergiftung Aschenbachs gelten, da Dionysos, der wie die Cholera aus Indien stammt, sich seiner zusehends bemächtigt. Die Inspiration geht im Falle Aschenbachs jedoch der Intoxikation voraus. Vielmehr dient die Liebe zu Tadzio, welche er sich gegen Ende der Erzählung eingesteht, als Stimulans, und der junge Pole, in dessen Gegenwart ihm ein kunstvoller Essay gelingt, somit als seine Muse. Diese Liebe ist eng mit dem Motiv der Krankheit verbunden, wie im Zauberberg vor allem Dr. Krokowski in seinen zweiwöchentlichen Vorträgen ausführt. Der Psychoanalytiker deutet die Krankheit sogar als Ausdruck heimlicher, nicht ausgelebter Liebe. Wie auch in Wälsungenblut und Die Betrogene deutlich wird, dient die Intoxikation der Überwindung der Vorbehalte gegenüber einer tabuisierten Liebe und motiviert die Protagonisten zum Ausleben ihrer geheimen Leidenschaft. So geben sich Siegmund und Sieglinde, berauscht von Cognac-Kirschen, Wein und der Musik Wagners, dem Inzest hin. Rosalie, beflügelt vom Wasserwind und von dem auf dem Boot genossenen Portwein, gesteht Ken ihre Liebe und tauscht erste Zärtlichkeiten mit dem deutlich jüngeren Mann aus. Bei Joyce kommt das gesamte „Circe“-Kapitel einem Rausch gleich, währenddessen Stephen seine Vergangenheit aufarbeitet und Bloom, ähnlich den Figuren Manns, seine sexuellen Vorlieben verwirklicht. Ebenso wie der Inzest oder die Liebe einer älteren Frau zu einem jüngeren Mann, sind diese Vorlieben teils ungewöhnlicher Natur, sodass Bloom seine Fetische für sich behält, da sie von 264

der Gesellschaft tabuisiert würden. In „Circe“ jedoch begibt er sich in die Rolle einer sad*stisch gequälten Frau oder beobachtet seine Frau Molly beim Ehebruch mit Blazes Boylan, was seine voyeuristische Ader hervorkehrt. Durch die Intoxikation ergeben sich die Figuren Manns und Joyces folglich ihren geheim gehegten Leidenschaften und tragen somit in gewisser Hinsicht auch zu einer Gesundung ihres Körpers bzw. ihres seelischen Wohlbefindens bei, da sie auch ihre Neigungen und ihre Sexualität akzeptieren, anstatt sie aufgrund der gesellschaftlichen und ethischmoralischen Zwänge zu unterdrücken. Dass zudem die Krankheit als Stimulans, als Aphrodisiakum und auch als Mittel zur geistigen Steigerung fungiert, wird vor allem in den Werken Thomas Manns deutlich. Auf dem Berghof, wo die meisten der Patienten an Tuberkulose oder anderen Lungenerkrankungen leiden, geht es im Allgemeinen recht liederlich zu. So vergnügt sich etwa das russische Ehepaar, welches das Zimmer neben dem Hans Castorps bewohnt, allabendlich bei einem Schäferstündchen, welches teils gleich am darauf folgenden Morgen wiederholt wird. Anfangs von dieser Verbindung von Krankheit, Körperlichkeit und Lustgewinn befremdet, lebt sich auch Hans Castorp in jeglicher Hinsicht in den Berghof ein und verguckt sich in kürzester Zeit in die kranke und lasterhafte Clawdia Chauchat. An Karneval schließlich überwindet er seine Zweifel und verbringt eine Liebesnacht mit der verheirateten Frau. Dass die Krankheit und ihre Symptome zu einem rauschhaften Zustand führen können, beschreibt Frau Stöhr während einer der Tischgespräche auf dem Berghof sehr treffend: Frau Stöhr insbesondere, hochroten, störrischen Gesichts über ihrer Halsrüsche und kleine Sprünge in der Wangenhaut, legte eine fast wilde Gesprächigkeit an den Tag und erging sich über die Vergnüglichkeit des Hustens, - ja, es habe unbedingt eine unterhaltliche und genußreiche Bewandtnis damit, wenn in den Gründen der Brust der Kitzel sich mehre und wachse und man mit Krampf und Pressung so recht hinunterlange, um dem Reiz zu genügen: ein ähnlicher Spaß sei das wie das Niesen, wenn die Lust dazu gewaltig anschwelle und unwiderstehlich werde und man mit berauschter Miene ein paarmal stürmisch aus- und einatme, sich wonnig ergäbe und über dem gesegneten Ausbruch, die ganze Welt vergäße. Und manchmal komme es zwei-, dreimal hintereinander. Das seien kostenfreie Genüsse des Lebens, wie beispielsweise auch noch, sich im Frühling die Frostbeulen zu kratzen, wenn sie so süßlich juckten, - sich so recht innig und grausam zu kratzen bis aufs Blut in Wut und Vergnügen, und wenn man zufällig in den Spiegel sähe dabei, dann sähe man eine Teufelsfratze. (ZB, S.263f.)

Zunächst scheint diese Verbindung von Krankheit und Rausch bzw. Lebensgenuss paradox, da die Krankheit doch auf den Tod hinzudeuten scheint. Bei genauer Betrachtung jedoch wird deutlich, dass eben diese Nähe zum Tode den Wert des Lebens steigert. Erst angesichts des Todes, wird sich der Kranke des Wertes seines Lebens bewusst. Zudem betreffen die Krankheitssymptome den Körper, welcher in der Regel vom Menschen kaum wahrgenommen wird. Im Falle einer Krankheit 265

macht der Körper sich bemerkbar und der Mensch erfährt die eigene, körperliche Existenz, da die Krankheit als Ausdruck und Symbol des Lebens gelten darf. Wie Dr. Behrens es ausdrückt, ist das Leben ja nichts anderes als Krankheit, ein Verfallsprozess, der mit dem Tode sein jähes Ende findet. Dass eben jener Rausch, welcher das Leben und seine Erfahrungen intensiviert, mit dem Teufel in Zusammenhang steht, belegt Frau Stöhrs Eindruck, dass man im Spiegel eine „Teufelsfratze“ sehe, wenn man seinen körperlichen Leiden fröne. Der Rausch, welcher den Menschen entrückt und ihn der Realität entfremdet, steht also nicht nur mit Dionysos im Bunde sondern auch mit dem christlich gedachten Teufel. Darüber hinaus verleitet die Krankheit, in seinem Fall vielleicht bereits das leichte Fieber, Hans Castorp dazu, medizinische, botanische sowie astronomische und astrologische Studien zu betreiben sowie sich mit den übrigen Weggefährten, allen voran Settembrini und Naphta, in philosophischen Diskussionen zu üben. Die Krankheit dient auf dem Zauberberg also nicht lediglich als Mittel zum Lustgewinn, sondern auch als ein Weg zu geistiger Steigerung. Ähnlich verhält es sich mit der Vision Stephens am Strand, wo die seltsame Erscheinung des birdgirls ihn in eine Art Fieber zu versetzen scheint, ihn aber auch in seinem Vorhaben bestätigt, der Berufung zum Künstler zu folgen: „He turned away from her suddenly and set off across the strand. His cheeks were aflame; his body was aglow; his limbs were trembling. On and on and on and on he strode, far out over the sands, singing wildly to the sea, crying to greet the advent of the life that had cried to him.“ (P, S.144/5). Diese geistige, auch künstlerische Steigerung stellt eine Parallele zwischen Joyces Portrait und Manns Altersroman Doktor Faustus dar, wo Adrian Leverkühn, dessen Teufelspakt durch die Ansteckung mit der Syphilis beschlossen wird, aufgrund eben dieser Krankheit zu seinen Werken inspiriert wird. Damit steht er vor allem in der Tradition des Unterweltreisenden Orpheus, dessen Besuch im Hades ihn zum Erfinder der Poesie werden ließ, „come Orfeo, discendere agli inferi per ricevere in premio dagli dei delle tenebre il dono della poesia.“ 488 Der Besuch der Unterwelt hat folglich auch inspirierende, die Kunst beflügelnde Wirkung.

488

Harold Fisch. A remembered future. A study in literary mythology. Indiana University Press. Bloomington. 1984. S.24ff.

266

4.6 Eros und Thanatos Verknüpft mit dem Motiv der Krankheit und der Intoxikation ist der Motivkomplex um die Begriffe Eros und Thanatos. Dieser lässt sich sowohl im Früh- als auch im Spätwerk beider Autoren nachweisen. So erscheint er bei Thomas Mann vor allem im Tod in Venedig, wo Tadzio zum einen als Eros dargestellt wird, dessen „Haupt“ und Schönheit er trägt, gegen Ende der Erzählung aber auch als Totengeleiter auftritt. Thanatos kam in der griechischen Mythologie die Funktion zu, den Menschen sanft in den Tod zu führen, im Gegensatz zu der todbringenden Göttin Ker, welche ihren Opfern einen gewaltsamen Tod brachte. Die Verknüpfung von Liebe und Tod, welche Thomas Mann in seiner Erzählung vornimmt, zeigt sich aber auch darin, dass Aschenbach sich mit wachsender Liebe zu dem jungen Tadzio auch seinem eigenen Tod annähert. Ebenso findet sich die Verflechtung von Eros und Thanatos im Zauberberg, wo insbesondere die Kranken und Leidenden der Liederlichkeit und der Liebe frönen. Gerade die Nähe zum Tod macht den Berghof zu einem ausgelassenen und einem erotisch aufgeladenen Ort, an dem der körperlichen wie der romantischen Liebe gehuldigt wird. So verliert Hans Castorp sein Herz an die exotische Clawdia Chauchat. Ebenso verliebt sich sein treuherziger und gutmütiger Vetter Joachim Ziemßen, nämlich in die lachfreudige und schüchterne Marusja. Joachim jedoch unterdrückt seine Liebe ebenso wie seine „Triebe“ und somit bleibt offen, ob sich die Verschlechterung seines Zustandes, die letztlich seinen Tod zur Folge hat, nicht auch Ausdruck dieser Sublimation seines Innen- und seines Trieblebens ist und die Theorie Dr. Krokowskis, die Krankheit als Ausdruck unterdrückter Liebe deutet, doch zu ihrem Recht kommt. Die Verbindung der beiden Begriffe, welche vor allem zu Anfang des 20. Jahrhunderts - mit dem Aufkommen der Psychoanalyse - in Mode gekommen ist, findet sich auch im Werke James Joyces. So begegnet sie uns schon im Portrait, wenn Stephen seine ersten sexuellen Erfahrungen mit einer Prostituierten macht. Die Szene ähnelt der Beschreibung einer Geburt, aber ebenso dem Dahinscheiden, „conscious of nothing in the world but the dark pressure of her softly parting lips. They pressed upon his brain as upon his lips as though they were the vehicle of a vague speech; and between them he felt an unknown and timid pressure, darker than the swoon of sin, softer than sound or odour.“ (P, S.85). Die Verbindung von Sexualität bzw. dem org*smus und dem Tod spiegelt sich besonders anschaulich in dem französischen Ausdruck für den sexuellen Höhepunkt, „la petite mort“, welche den Bewusstseinszustand der beiden Seinszustände einander vergleicht. Zudem findet sich der Motivkomplex in dem Kapitel „Hades“, wo Bloom über den Friedhofswärter und Totengräber John O'Connell und dessen Kinderschar – beredtes Zeugnis seiner Potenz und Fruchtbarkeit - sinniert. Er fragt sich, ob eben die moribunde Atmosphäre, welche auf dem Friedhof 267

vorherrscht und auch O'Connell anhängt, die Leidenschaft der Damenwelt befeuern könnte, wie dies bereits in Kapitel 3.4.3 angedeutet wurde (Vgl. U, S.104). Bloom selber verweist hier auf die literarische Tradition des Motivkomplexes, auf Romeo und Julia, deren finales Treffen auf dem Friedhof stattfindet, da Julia ein Mittel genommen hat, das ihren Scheintod zur Folge hat. In dem Glauben, Julia sei tatsächlich gestorben, trinkt Romeo ein todbringendes Gift, um ihr in den vermeintlichen Tod zu folgen und so auf ewig mit ihr vereint zu sein. In Joyces „Hades“ steigert der Besuch auf dem Friedhof nicht nur die Lebens- und Liebeslust der Damen, sondern auch die des Protagonisten selber. Der Todeshauch, der den Glasnevin Friedhof umgibt, lässt Bloom noch leidenschaftlicher am Leben hängen, als er es ohnehin schon tut. Er entflieht den „maggoty beds“, um dem „warm, fullblooded life“ entgegenzugehen. Dem kalten Totenbett zieht er die warmen Betten des (Ehe-)Lebens bei weitem vor.

4.7 Une déstruction organique – Leben heißt Sterben Eine frappierende Ähnlichkeit zwischen den Werken Manns und Joyces zeigt die Haltung mancher Figuren zum menschlichen Körper. Vor allem die Mediziner im Zauberberg und im Ulysses legen diesbezüglich eine außergewöhnliche Kühle und Nüchternheit an den Tag. Hofrat Behrens etwa bezeichnet das Leben als eine „déstruction organique“ und sieht die Kurgäste folglich nur unter dem Aspekt der Krankheit und der Pathologie. Mit- und Feingefühl hingegen sind seine Sache nicht. Auch nimmt er eine regelrechte Zergliederung des Körpers seiner Patienten vor, ähnlich wie Dr. Krokowski dies im Hinblick auf die Seele tut. Er zeigt ihnen etwa ihren Brustkorb oder ihre Hand mithilfe von Röntgenstrahlen und dekonstruiert somit ihren Körper in seine Einzelteile. Selbst wenn er malt, gelingt es ihm nicht, das Gesicht, den Ausdruck, die Seele Madame Chauchats einzufangen, sondern lediglich ihre Haut angemessen zu portraitieren. Wenn die Patienten auf dem Sterbebett wimmern oder mit dem Tode hadern, fährt er sie an, dass sie sich nicht so anstellen sollen. Ebenso zynisch und kaltschnäuzig tritt Stephen Dedalus' vermeintlicher Freund Buck Mulligan auf, welcher bei der Arbeit im Krankenhaus täglich dem Tod ins Auge sieht und daher eine sehr nüchterne Einstellung diesem gegenüber hat. Ähnlich Hofrat Behrens vermag er es aber nicht, den Tod eines geliebten Menschen und die damit verbundene Trauer nachzuempfinden oder gar Mitgefühl zu zeigen: „And what is death, he asked, your mother's or yours or my own? You saw only your mother die. I see them pop off every day in the Mater and Richmond and cut up into tripes in the dissecting room. It's a beastly thing and nothing else.“ (U, S.8). Die Dekonstruktion des Körpers lässt sich vor allem in dem Kapitel „Hades“ beobachten, wo Joyce 268

den Zerfallprozess der auf dem Glasnevin Cemetery befindlichen Leichen schildert: − −

I am the resurrection and the life. That touches a man's inmost heart. It does, Mr Bloom said.

Your heart perhaps but what price the fellow in the six feet by two with his toes to the daisies? No touching that. Seat of the affections. Broken heart. A pump after all, pumping thousands of gallons of blood every day. One fine day it gets bunged up and there you are. Lots of them lying around here: lungs, hearts, livers. Old rusty pumps: damn the thing else. That last day idea. The resurrection and the life. Once you are dead you are dead. (U, 102).

In dieser Passage wird das Organ, welches Joyce für das Kapitel gewählt hat, besonders deutlich, es handelt sich um das menschliche Herz. Eigentlich sollte man jedoch sagen, um das Brechen, das Versagen desselben, da die Textstelle den Zustand der Organe nach dem Ableben des Menschen schildert. Auffällig ist, dass die Sprache hier regelrecht ins Technische hinüberspielt, wenn der Herzmuskel einer Pumpe verglichen wird, die den Organismus in Gang hält, sich mit der Zeit aber abnutzt und rostet. Zudem legt die Passage nahe, dass das Herz nicht der Sitz der menschlichen Seele sei, sondern lediglich praktische und funktionelle Bedeutung für den Menschen habe. Der letzte Satz deutet sogar darauf hin, dass Bloom nicht an ein Leben nach dem Tod glaubt, sondern viel eher vermutet, dass auch das, was der Mensch Seele nennt, stirbt. Möglicherweise sieht er die Seele als Produkt chemischer Prozesse. Diese Annahme würde auch das Missbehagen erklären, welches der Gedanke an den Tod in Leopold Bloom hervorruft. In dem zentralen Kapitel des Zauberbergs, „Schnee“, spielt das Herz ebenfalls eine prominente Rolle, wie die folgende Textstelle belegt: Während sein Blick sich in der weißen Leere brach, die ihn blendete, fühlte er sein Herz sich regen, das vom Aufstieg pochte, - dies Herzmuskelorgan, dessen tierische Gestalt und dessen Art zu schlagen er unter den knatternden Blitzen der Durchleuchtungskammer, frevelhafterweise vielleicht, belauscht hatte. Und eine Art von Rührung wandelte ihn an, eine einfache und andächtige Sympathie mit seinem Herzen, dem schlagenden Menschenherzen, so ganz allein hier oben im Eisig-Leeren mit seiner Frage und seinem Rätsel. (ZB, S.720).

Castorp scheint sich nicht entscheiden zu können, ob er das eigene Herz physiologisch oder mystisch zu betrachten habe, ob ihm eine rein körperliche Funktion zukomme oder ob es nicht auch ein Rätsel berge, welches den Zugang zu Spiritualität und Transzendenz verheißt. An späterer Stelle vergleicht er es zwar einer Uhr, betont aber dennoch die Rührseligkeit des Herzens, dessen Wärme lebensnotwendig ist: „Und er sah nach seiner Uhr, obgleich es den starren Fingern nicht leicht fiel, sie ohne Gefühl aus den Kleidern zu graben, - nach seiner goldenen Springdeckeluhr mit Monogramm, die lebhaft und pflichttreu hier in der wüsten Einsamkeit tickte, ähnlich seinem Herzen, dem rührenden Menschenherzen in der organischen Wärme seiner Brustkammer...“ (ZB, 269

S.735). Die Uhr steht in diesem Falle für das Herz Hans Castorps, welches den widrigen, extremen Naturgewalten trotzt: „Ohren, Fingerspitzen und Zehen waren wohl taub, allein nicht mehr, als schon so oft beim nächtlich-winterlichen Liegen in der Loge. Es gelang, die Uhr hervorzugraben. Sie ging. Sie war nicht stehen geblieben, wie sie zu tun pflegte, wenn er sie abends aufzuziehen vergaß.“ (ZB, S.749f.). Neben der funktionalen Bedeutung kommt seiner goldenen Springdeckeluhr „mit Monogramm“ aber auch eine fast nostalgische Bedeutung zu, da sie ihn als Teil einer Familie, als Teil eines großen Ganzen auszeichnet, als Rädchen im Uhrwerk seiner Zeit. Anders als Leopold Bloom vergleicht Hans Castorp das menschliche Herz nicht mit einer Pumpe, sondern mit einer Uhr, die auch bei starkem Schneesturm ihren Dienst leistet. Aber ebenso wie die Pumpe gibt die Uhr eines Tages ihren Geist auf. Sie ähnelt dem von Thomas Mann häufig verwandten Motiv des Stundenglases, dessen Zeit ebenfalls abläuft. Das menschliche Herz also, welches für das Leben und die Vitalität des Menschen steht, ist endlich. Im Laufe des Lebens verkalkt es und versagt schließlich seinen Dienst. Der Vergleich mit einer Pumpe bzw. einer Uhr veranschaulicht folglich die Endlichkeit des menschlichen Lebens und die damit einhergehende Allgegenwärtigkeit des Todes. Darüber hinaus legt die Verbindung von Herz und Technik aber auch nahe, dass das Herz eben kein transzendentes, sondern ein lediglich funktionales Organ ist, dass es eben nicht Sitz der Seele ist, sondern dem Körper lediglich als Motor dient. Dem widersprechen indes Hans Castorps stetige Verweise auf die Rührseligkeit und die Wärme des Herzens, die „andächtige Sympathie mit seinem Herzen, dem schlagenden Menschenherzen.“ (ZB, S.720). Denn auch wenn Hans Castorp um die Funktionalität des Körpers weiß, so gesteht er ihm auch einen mystischen, einen religiösen Charakter zu. Blooms Aussage scheint eindeutiger und kühler, wissenschaftlicher Natur zu sein, aber sein Verhalten widerlegt diesen Zynismus. Sein Gedenken der Toten, seine Gutmütigkeit und seine Liebe für die Familie bezeugen, dass Bloom durchaus an die Liebesfähigkeit des Menschen und seine Warmherzigkeit glaubt. Der Vergleich zwischen Herz und Pumpe bzw. Herz und Technik ist daher sicher auch der bereits im 18. Jahrhundert einsetzenden Industrialisierung zuzuschreiben, ebenso wie der damit einhergehenden Entgötterung und dem Umstand, dass das Individuum gegenüber der Transzendenz eine Aufwertung erfährt. Bedenkt man aber die Prinzipien der Freimaurer, denen zumindest Leopold Bloom, ebenso wie Settembrini, angehört, dann zeitigt der technische Fortschritt, wie ihn die Industrialisierung herbeigeführt hat, auch den Fortschritt und die stetige Vervollkommnung der Menschheit und damit die Möglichkeit einer neuen Humanität. Das Herz als Technikum wird daher zwar seiner 270

transzendenten Konnotation beraubt, gewinnt aber eine fortschrittliche, humanitäre Funktion.

4.8 Humanistische Mentoren – Settembrini und Bloom Im Gegensatz zu Hans Castorp, welcher anfänglich eine tiefe Verehrung für Krankheit und Tod hegt, ist Bloom dem Leben von Natur aus wohlgesonnen. Er sucht seine Erfahrungen im Diesseits zu machen und kostet das Leben in vollen Zügen aus, den Tod aber meidet er, wie seine Flucht vom Glasnevin Cemetery zu Ende des Kapitels „Hades“ veranschaulicht. Bloom übernimmt somit eine ähnliche Rolle wie Settembrini im Zauberberg. Er ist aufgrund seiner Lebensfreundlichkeit und seiner Humanität ein geeigneter Mentor für den düsteren, sich mit der Eschatologie auseinandersetzenden Stephen. So wie Settembrini versucht, Hans Castorp anzuleiten und auf den rechten Weg zu führen, bemüht sich auch Bloom, den jungen Studenten kennenzulernen und von seinen Ideen zu überzeugen. Darüber hinaus verbindet die beiden Figuren, dass sie Mitglieder der Freimaurerloge sind, deren Ziel unter anderem der Geist einer neuen Humanität durch Fortschritt ist. Durch die ständige Arbeit an sich selbst sowie den Fortschritt in der Gesellschaft hoffen die Freimaurer zu einer neuen Humanität zu gelangen. Die Leitideen, welche sie dabei verfolgen, sind Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, Toleranz und eben Humanität. Alle fünf Prinzipien finden in Bloom und Settembrini ehrenhafte Vertreter. Bloom etwa macht keinen Unterschied zwischen Menschen verschiedener Klassen oder fremder Herkunft, im Gegenteil. Seine Frau stammt aus Gibraltar und sein Vater aus Ungarn. Er ist überaus tolerant gegenüber seinen Mitmenschen und auch gegenüber seiner Frau Molly. Manchmal scheint es sogar, als sei er zu tolerant und übertrieben gutmütig, da er sich von den übrigen Dublinern sowie auch von seiner Ehefrau vieles klaglos gefallen lässt. Erst am Ende des Romans scheint es, als begehre Bloom gegen das treulose Verhalten Mollys auf, wenn er, der in der Regel Molly ihr Frühstück serviert, dieser aufträgt, sie solle ihm das Frühstück machen. Dies unterscheidet ihn von Settembrini, der trotz seiner Armut und seiner „gelb gewürfelten“ Hosen ein stolzer Mann ist, der sich seiner Bildung und seines Intellekts bewusst ist und sich daher nicht alles bieten lässt. Wie Bloom ist dieser ein Befürworter des technischen Fortschrittes und findet Gefallen an der Tätigkeit Castorps, der ausgebildeter (Schiffsbau-)Ingenieur von Beruf ist. Auch er selber bemüht sich zu diesem Fortschritt beizutragen, indem er einen Artikel für die Enzyklopädie der Leiden schreibt, deren Ziel es ist, alle bisher bekannten Krankheiten zu erfassen und auf lange Sicht zu besiegen. Bloom

und

Settembrini

tragen

durch

ihre

pädagogischen

Bemühungen

zu

diesem 271

Fortschrittsauftrag bei, wenn sie ihre Schützlinge vor Dummheiten zu bewahren suchen und sie vor allem in ideeller und ethischer Hinsicht instruieren. Fraglich bleibt indes, ob Hans Castorp und Stephen Dedalus sich instruieren lassen. Zwar sind beide auf der Suche nach einer Vaterfigur und nach einem Mentor, dieser muss jedoch nicht aus Fleisch und Blut sein. Hans Castorp etwa nimmt sich vor allem seinen verstorbenen Großvater zum Vorbilde, folgt dann zwar eine Zeit lang Settembrini in seinen Ausführungen, aber ebenso Clawdia Chauchat, Naphta und Peeperkorn. Die beiden Streithähne Settembrini und Naphta tut er schon nach einiger Zeit als „Schwätzerchen“ ab, deren großen Worten er nur wenig abgewinnen kann. Es drängt ihn viel eher eigene Studien anzustellen und zu eigenen Schlüssen und Ansichten zu gelangen. So nimmt sich Castorp unter anderem die Medizin, die Botanik und die Astronomie vor, belässt es aber ebenso häufig beim „Regieren“, wenn er seinen Gedanken nachhängt und sich mit verschiedenen Wissensgebieten befasst. Ähnlich hält es Stephen, dem seine umfassende Bildung zwar zunächst auf der Schule zuteil wird, der sich im folgenden aber, ganz im Sinne des Humboldtschen Ideals, als Student selber bildet und sein Wissen vor allem in der Bibliothek erlangt sowie in Diskussionen mit seinen Kommilitonen und seinen Freunden. Auch Stephen scheint keinen tatsächlichen, leibhaftigen Vaterersatz zu suchen, sondern hält sich vor allem an seinen mythischen Mentor Daidalos, die Figur des Künstlers, Baumeisters und Technikers. Gerade letztere Eigenschaft jedoch könnte Stephen in die Arme Blooms treiben, da die Technik und der Fortschritt ein gemeinschaftliches Interesse darstellen.

4.9 Der Jesuitenorden – Teuflische Pädagogen Besonders Stephen wird dem Leser als vergeistigter und dem Leben entfremdeter Student vorgestellt. Buck Mulligan vermutet gar eine Art Trauma, welches die Jesuiten zu verantworten haben, da sie Stephen in der Woche der „retreat“ im wahrsten Sinne des Wortes eine „Höllenangst“ eingejagt haben. Dieses Kindheitstrauma erklärt Stephens anhaltendes Interesse für eschatologische Fragen. Im Ulysses ist die Beschäftigung mit dem Tod für ihn von großer Aktualität, da seine Mutter vor kurzem verstorben ist und er ihrem letzten Wunsch, für sie zu beten, nicht nachkam. Die jesuitische Schule, welche Stephen als Junge besucht, wird im Portrait ohnehin als infernalisch beschrieben, als ein Ort der Demütigung und der Zucht, an dem Stephen erstmals an den priesterlichen Autoritäten und der Kirche zu zweifeln beginnt, da Father Dolan ihn züchtigt, ohne dass er sich etwas zu Schulden hätte kommen lassen. Joyce greift somit das Motiv der christlichen Strafhölle auf, in welcher die Menschen für ihre zu Lebzeiten begangenen Sünden büßen müssen, 272

indem ihnen eine der Sünde gemäße Strafe zuteil wird. Die Hölle im Portrait besteht aber nicht nur aus der körperlichen Züchtigung sowie der „retreat“, welche die Jesuiten dem jungen Stephen angedeihen

lassen,

sondern

auch

aus

dessen

daraus

erfolgendem

Trauma,

seinen

Wahnvorstellungen, in denen er sich die eigens auf ihn wartende Hölle ausmalt. Auch im Werke Manns trägt der Jesuitenorden teuflische Züge. Sein Vertreter ist der Hausgenosse und Antagonist des Humanisten Lodovico Settembrini, Leopold Naphta. Dieser ist ein Nihilist, den David mit dem Teufel Goethes vergleicht, da er ein Geist ist, der stets verneint.489 Schon die Beschreibung des Jesuiten lässt auf seine geistige Schärfe, aber auch auf seine Radikalität schließen: Er war ein kleiner, magerer Mann, rasiert und von so scharfer, man möchte sagen: ätzender Häßlichkeit, daß die Vettern sich geradezu wunderten. Alles war scharf an ihm: die gebogene Nase, die sein Gesicht beherrschte, der schmal zusammengenommene Mund, die dickgeschliffenen Gläser der im übrigen leicht gebauten Brille, die er vor seinen hellgrauen Augen trug, und selbst das Schweigen, das er bewahrte, und dem zu entnehmen war, daß seine Rede scharf und folgerecht sein werde. (ZB, S.562f.).

Wie sich in den folgenden Kapiteln zeigt, sind seine Positionen durchaus radikal, aber dabei immer stringent. Naphta vertritt seine politischen Ideen, die eine Mischung aus Terror, Anarchismus und Kommunismus darstellen, aber auch durchaus schon faschistoide Züge tragen, mit brillanter Eloquenz. Im Gegensatz zu Settembrini, den er rhetorisch regelrecht an die Wand zu spielen vermag, ist Naphta, wie man es den Jesuiten im Allgemeinen nachsagte, fortschrittsfeindlich. Er richtet sich gegen die von Settembrini vertretene Aufklärung, in welcher dem menschlichen Geist und der Humanität ein hoher Stellenwert eingeräumt wird, und tritt für eine Staatsform ein, die dem gesellschaftlichen Urzustand ähneln und die Gleichheit aller beinhalten sollte. Die vom Orden vorgesehenen Leitideen von Ehelosigkeit, Gehorsam und Armut erfüllt Naphta jedoch nur zum Teil, da schon seine Kleidung darauf schließen lässt, dass er finanziell gut gestellt ist. Auch die Räumlichkeiten, welche er im Hause Lukačeks, des Damenschneiders, bewohnt, zeugen von seiner üppigen Barschaft. Sein Zimmer ist mit goldenen Stoffen ausgekleidet und in einer Ecke des Raumes befindet sich eine Pietà aus dem 14. Jahrhundert, die ebenfalls von beträchtlichem Wert ist. Settembrini lässt im Gespräch mit den Vettern durchblicken, dass der Jesuitenorden Naphta so gut versorge und für körperliches und leibliches Wohl aufkomme. Wegen der gängigen Vorurteile, mit denen die Jesuiten vor allem im 18. und 19. Jahrhundert zu kämpfen hatten, trage Naphta dies jedoch nicht zur Schau. Nach außen wirkt seine Behausung in der ersten Etage des Schneiderbetriebes bescheiden und einem Ordensbruder gemäß, von innen betrachtet zeugt sie von Vgl. Claude David. „Naphta, des Teufels Anwalt“ In: Rudolf Wolff (Hrsg.). Thomas Mann. Aufsätze zum Zauberberg. Bouvier Verlag. Bonn. 1988. S.28. 489

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einem Luxus, der beinahe dekadent anmutet. Als Feind der Humanität und des Fortschritts trägt Naphta, der insbesondere die Vorherrschaft des Terrors und damit der Barbarei propagiert, durchaus infernalischen Charakter. Inge Diersen bemüht einen Vergleich mit dem goetheischen Mephisto, da er mit Antinomien jongliere und mit Vorliebe Widersprüche aufdecke, um Konfusion in seinem Umfeld zu stiften.490 Seine Affinität zu Krankheit und Tod zeichnet ihn darüber hinaus als eine Art Todesboten aus. Naphta verklärt diese, indem er sie geistiger Größe zugesellt. Er geht sogar so weit, das Genie und seine geistigen Höhenflüge als Folge der Krankheit zu bezeichnen. Der Fortschritt also, welchen Settembrini so hoch schätzt, sei einzig und allein eine Konsequenz aus der Krankheit. Wie Castorp feststellt, gehen die Kategorien durcheinander und die Antagonisten widersprechen sich nicht nur gegenseitig, sondern auch sich selber. Verwirrt und irritiert ob so großer gedanklicher Konfusion wendet Castorp sich schließlich von seinen beiden Mentoren ab, hegt aber nach wie vor Sympathie für Settembrini, wie er in „Schnee“ bemerkt: „Ach ja, du pädagogischer Satana mit deiner ragione und ribellione, dachte er. Übrigens habe ich dich gern. Du bist zwar ein Windbeutel und Drehorgelmann, aber du meinst es gut, meinst es besser und bist mir lieber als der scharfe kleine Jesuit und Terrorist, der spanische Folter- und Prügelknecht mit seiner Blitzbrille, obgleich er fast immer recht hat, wenn ihr euch zankt...“ (ZB, S.719).

4.10 Cavaliere meets Femme Fatale – Cipolla und Bella Cohen Naphta zählt zu den teuflischen Figuren Thomas Manns, welche die Radikalität und Barbarei der anbrechenden Epoche symbolisieren. Einen weiteren prominenten Vertreter dieser Art stellt der Cavaliere Cipolla aus der Erzählung Mario und der Zauberer dar, dessen Ähnlichkeit mit Bello/a aus der „Circe“-Episode in Joyces Ulysses bezeichnend ist. Cipolla zeichnet sich vor allem durch seinen Sadismus aus, unter welchem das Publikum zu leiden hat. Aufgrund seiner Verkrüppelung ist er sexuell frustriert und lässt diese Frustration an den Liebenden aus, vornehmlich den jungen Männern des Ortes. Hierbei erweist er sich vor allem als Kenner der menschlichen Psyche. Er scheint in die Herzen und in die Vergangenheit seiner „Opfer“ zu schauen, wenn er diese und ihre (un)glücklichen Liebschaften vor dem versammelten Dorf bloßstellt. Zudem offenbart er ihre Geheimnisse und ihre Leidenschaften und bemächtigt sich gar ihres Willens, sodass das Publikum ihm regelrecht untertänig - nach seiner Pfeife tanzt. Mit der Vorführung des „Herrn aus Rom“, der Vgl. hierzu auch Inge Diersen. „Epochenverständnis und poetische Konzeption in Thomas Manns Romanen der Reifezeit“ In: Helmut Brandt; Hans Kaufmann (Hrsg.). Werk und Wirkung Thomas Manns in unserer Epoche. Ein internationaler Dialog. Aufbau Verlag. Berlin. 1978. S.23f. 490

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gegen seinen Willen zu tanzen beginnt, ist „Cipollas Triumph auf seiner Höhe; der Stab der Kirke, diese pfeifende Ledergerte mit Klauengriff, herrschte unumschränkt.“ (MZ, S.734). Anhand dieser Textstelle wird der Bezug zu der homerischen Circe-Episode deutlich, da Cipolla seinem Ruf als Zauberer gerecht wird, da er über geradezu magische Kräfte verfügt und das Publikum gänzlich in seinen Bann schlägt. Cipolla wird hier explizit mit den Attributen der Circe-Figur ausgestattet und gleicht in vielerlei Hinsicht der Joyceschen Bordellmutter Bella Cohen bzw. ihrer männlichen Entsprechung, Bello. Auch Bella hat ihr Opfer, Leopold Bloom, fest im Griff. Sie erniedrigt ihn, indem sie seine sexuellen Vorlieben vorführt und somit Intimes offenbart. Wenn sie sich in einen stinkenden, schwitzenden und unangenehmen Mann verwandelt, zeigt dies Blooms Metrosexualität, sein Interesse an der Geschlechtlichkeit der Frau und daran, wie diese sich anfühlen mag. Er selber wird zu einem verschüchterten Mädchen, welches Bello flieht, sich im folgenden aber von ihm reiten und erniedrigen lässt, welches ihm untertan ist und seine Stiefel schnürt. Sowohl Cipolla als auch Bello/a greifen folglich vor allem die Sexualität ihrer „Opfer“ an und offenbaren sich somit als Handlanger eines christlichen und mittelalterlich gedachten Teufels. Adorno bezeichnet Circe als die „erste Hetäre der Literatur“ und unterstreicht damit ihren körperlichen, erotischen Charakter. Darüber hinaus betont er aber, dass die Figur der Zauberin stets zweideutig sei, da sie die Tochter des Helios, also der Sonne und des Feuers, aber die Enkelin des Okeanos, des Wassers sei. Sie trägt somit widersprüchliche Züge. Sie symbolisiert Feuer und Wasser, Vater und Mutter, Verderberin und Helferin.491 Die Circe Joyces trägt durch ihre Zweigeschlechtlichkeit, ebenso wie Bloom, zudem hermaphroditische Züge und zeigt sich als Nachfahrin des Hermes und der Aphrodite. Sie vermittelt zwischen Blooms (sublimierter) Sexualität und der Realität. Sowohl Cipolla als auch Circe bestechen den Leser durch ihre Ambivalenz, da sie zum einen die sexuellen Wünsche ihrer Opfer verbalisieren und in gewisser Hinsicht auch realisieren, zum anderen gerade dadurch verderblich und schädlich auf sie wirken. Die beiden Figuren symbolisieren folglich die Ganzheit der Schöpfung und die Zweideutigkeit der Natur.

Vgl. Theodor W. Adorno; Max Horkheimer. Dialektik der Aufklärung. S.88f.

491

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4.11 Hermetische Motive Bei Thomas Mann tritt der göttliche Hermes vor allem als Wanderer auf, etwa zu Beginn des Tod in Venedig, wo Gustav Aschenbach auf dem Münchner Nordfriedhof einen Fremden erblickt, der mit Hut, Stock und einem gelben Mantel ausgestattet ist. Dieser auffällige und aggressiv anmutende Fremde fungiert als Personifikation von Aschenbachs Reiselust und seinem Drang, das beschauliche München zu verlassen, um sich in Venedig dem süßen Nichtstun und der Gelassenheit hinzugeben. Darüber hinaus überkommt ihn die erotisierte Vision der tropischen Wildnis, welche als Ausdruck seines Geschlechtstriebes und seiner verkappten Leidenschaft gelten darf. Zu Ende der Erzählung hingegen übernimmt Tadzio die Funktion des Totengeleiters und Seelenführers, also des Hermes Psychopompos, wenn er Gustav Aschenbach ins „VerheißungsvollUngeheure“ voranschwebt: Vom Festlande geschieden durch breite Wasser, geschieden von den Genossen durch stolze Laune, wandelte er, eine höchst abgesonderte und verbindungslose Erscheinung, mit flatterndem Haar dort draußen im Meere, im Winde, vorm Nebelhaft-Grenzenlosen. (…) Ihm war aber, als ob der bleiche und liebliche Psychagog dort draußen ihm lächle, ihm winke; als ob er, die Hand aus der Hüfte lösend, hinausdeute, voranschwebe ins Verheißungsvoll-Ungeheure. Und, wie so oft, machte er sich auf, ihm zu folgen. (TiV, S.592).

Es scheint, als führe Tadzio Aschenbach seinem Tode zu, als diene er diesem als Totengeleiter und Seelenführer, der einen sanften und angenehmen Tod kündet, da der Schriftsteller dem Geliebten folgen darf. Fast wirkt es, als habe Aschenbach eine letzte Vision, die ihm Erlösung vom Leben mit seinen Zwängen verheißt und die ihm die Freiheit schenkt, sich in seine sublimierte Leidenschaft zu ergeben. Diese Deutung wird noch von dem Motiv des Meeres gestützt, welches im Werk Manns den „Hange zum Ungegliederten, Maßlosen, Ewigen, zum Nichts“ versinnbildlicht. (TiV, S.536). Blumenberg betont, dass dem Meer schon in der antiken Mythologie eine ähnliche Bedeutung zukomme, da es dort als Ursprung des Gestaltlosen und des Übergestaltigen, etwa des Poseidon oder der Medusa, gelte.492 Eine der Schlusspassage des Tod in Venedig vergleichbare Textstelle findet sich in James Joyces Portrait, wenn Stephen eine Vision am Meer hat, in der ein junges Mädchen, das einem Vogel gleicht, seinen Ruf zum Leben und zur Kunst bekräftigt. Im Gegensatz zu Tadzio, welcher Aschenbach in den Tod „wiegt“, belebt das bird-girl die Lebensgeister Stephens und erregt ein regelrechtes Fieber in ihm. Auch Joyce verwendet in dieser Vision am Meer ein hermetisches Motiv, da die nackten Beine des Mädchens von smaragdfarbenen Seealgen geschmückt sind „where an emerald trail of seaweed had fashioned itself as a sign upon the flesh“ (P, S.144). Die Wahl des 492

Hans Blumenberg. Arbeit am Mythos. Suhrkamp Verlag. 6. Auflage. Frankfurt a.M. 2001. S.131.

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Wortes „emerald“ und der Umstand, dass Joyce die Pflanze als „Zeichen“ ansieht, lässt darauf schließen, dass die Zierde ein Erkennungssymbol ist, welches das Mädchen als hermetische Figur kennzeichnet. Wie Esmeralda im Doktor Faustus, deren Name ebenfalls sprechend ist, infiziert sie Stephen mit einer Krankheit, die alchemistische Steigerung und Inspiration verheißt. Hermes tritt in beiden Romanen als Gott der Alchemie auf, wobei die Verwandlung einfacher Stoffe in Gold auch als Sinnbild für die Steigerung und Vervollkommnung des Menschen und der Menschheit angesehen werden muss. So wie Esmeralda Adrian seiner Bestimmung zuführt, indem sie ihn mit der Syphilis infiziert, so führt das bird-girl Stephen seiner Berufung als Schriftsteller, aber auch als soziales Wesen, zu. Auch im weiteren Verlauf des Portrait findet die Gottheit explizite Erwähnung, wenn Stephen vor der Bibliothek steht und in den Himmel schaut: for ages men had gazed upwards as he was gazing at birds in flight. The colonnade above him made him think vaguely of an ancient temple and the ashplant on which he leaned wearily of the curved stick of an augur. A sense of fear of the unknown moved in the heart of his weariness, a fear of symbols and portents, of the hawklike man whose name he bore soaring out of his captivity on osierwoven wings, of Thoth, the god of writers, writing with a reed upon a tablet and bearing on his narrow ibis head the cusped moon. (P, S.189).

Wie schon zuvor identifiziert sich Stephen hier mit seinem mythischen Vorbild Daidalos, fühlt sich beim Anblick des Himmels und des Mondes aber auch an den ägyptischen Gott Thot erinnert, den Schirmherr der Schriftsteller, dessen Gewogenheit er bedarf. An anderer Stelle tritt die Motivik subtiler zu Tage, etwa wenn die Protagonisten selber hermetische Züge annehmen und in die Fußstapfen der griechischen Mittlergottheit treten. So wirft Hans Castorp sich im „Schnee“-Kapitel zum Herrn über die Gegensätze auf, dem Unten und Oben gleichviel bedeuten und der sich als Mensch über die Dualismen erhebt. Er wird somit zu einer Mittlerfigur, welche die zahlreichen Einflüsse von Behrens, Settembrini, Naphta, Chauchat und Peeperkorn in sich aufnimmt, um die gegensätzlichen Prinzipien und philosophischen Strömungen, welche jene vertreten, in sich zu vereinen. Das Hochgebirge, in dessen Gefilden ihm diese Erkenntnis zuteil wird, erreicht er jedoch nur mithilfe spezieller Schneeschuhe, welche den Flügelschuhen des Hermes bzw. Merkus durchaus vergleichbar sind, wie Settembrini mit Freuden feststellt: „Tun Sie's sofort, bevor diese gute Lust Sie wieder verläßt! Ich gehe mit Ihnen, ich begleite Sie in das Geschäft, und stehenden Fußes erwerben wir miteinander diese gesegneten Utensilien! Auch in die Berge würde ich Sie begleiten, würde mit Ihnen fahren, Flügelschuhe an den Füßen, wie Mercurio, aber ich darf es nicht...“ (ZB, S.714). Wie Donald F. Nelson in seiner Analyse des Felix Krull feststellt, könne Hermes tatsächlich als Vermittler zwischen den Gegensätzen gedeutet werden, und eben jene Funktion der Synthese, der 277

Zusammenführung der Dualismen, sei dem Autor ein besonderes Anliegen: „synthesis is a stylistic as well as an intellectual concern of Thomas Mann.“493 Dies gilt nicht nur für den Felix Krull, sondern auch für den Zauberberg und sogar für den Doktor Faustus. Der späte Roman Manns vereint die Gegensätze von Himmel und Hölle, Gott und Teufel, indem Adrian Leverkühn das Paradies und die Unterwelt mit den gleichen Tönen zu schildern vermag. Diese Koinzidenz der Gegensätze impliziert auch, dass der Tod ein notwendiger Bestandteil des Lebens ist und man seiner stets eingedenk sein sollte, ohne ihm jedoch eine gedankliche Vorherrschaft einzuräumen. Eine ganz ähnliche Erkenntnis wie Hans Castorp erlangt Gabriel Conroy auf den letzten Seiten von „The Dead“, denn auch er beschließt, sich neuen Einflüssen zu öffnen, seiner Vergangenheit und seiner Herkunft. Zu Beginn der Erzählung wird deutlich, dass er sich bisher vor allem europäischen und westlichen Einflüssen ergeben hatte. Nach der Feier aber erkennt er, dass Irland und seine Vergangenheit Teil seiner Persönlichkeit sind. Die Entwicklung Gabriels scheint der Hans Castorps entgegen zu laufen, da jener aus dem Schatten seiner Vergangenheit, seinem Waisentum, der Bewunderung für den Großvater und seiner romantischen Verklärung heraustritt, während Gabriel eben in jenen Schatten einzutreten scheint. Seine vermeintliche Weltoffenheit tritt auf den letzten Seiten hinter der Annäherung an das Reich der Toten und an die irische Herkunft zurück. Wie Anna Maria Crispino ausführt, wurde insbesondere der Westen Irlands, wie im übrigen Großbritannien und Island, als infernalisches Land gedeutet. Diese Annahme fußt vor allem darauf, dass Seen, Grotten und Vulkane als Zugang zur Hölle galten. 494 Mit seiner Annäherung an die Toten und an die irische Herkunft wird Gabriel selber zum Schatten und fügt sich somit in die Festgesellschaft, welche die Vergangenheit nostalgisch verklärt und in dieser lebt, anstatt sich der Gegenwart, der Realität und ihren Herausforderungen zu stellen. Bedeutend ist zudem, dass das Motiv des Schneefalles sowohl in „Schnee“ als auch in „The Dead“ eine verbindende Funktion übernimmt, welche, besonders im Falle Manns, auch an das Motiv des Meeres und seine Bedeutung erinnert: „Jedoch liebte Hans Castorp das Leben im Schnee. Er fand es demjenigen am Meeresstrande in mehrfacher Hinsicht verwandt: die Urmonotonie des Naturbildes war beiden Sphären gemeinsam; der Schnee, dieser tiefe, lockere, makellose Pulverschnee, spielte hier ganz die Rolle wie drunten der gelb-weiße Sand.“ (ZB, S.711). Die „Urmonotonie“, welche Hans Castorp in Verbindung mit dem Meere und mit dem Schnee beschreibt, verweist wiederum auf die Einerleiheit und die zyklische Struktur der Zeit und der historischen Ereignisse, welche im Zauberberg ihren Ausdruck findet. Gillespie betont, dass das hermetische Moment in den Werken Manns und Joyces eine „transaction with death“ darstelle, Donald F. Nelson. Portrait of the Artist as Hermes. S.109. Anna Maria Crispino; Fabio Giovannini; Marco Zatterin (Hrsg.). Il libro del diavolo. Le origini, la culture, l'immagine. Edizioni Dedalo. Bari. 1986. S.18. 493 494

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„because the artist literally crosses the boundary that separates the past from the present and any present, in turn, from its future.“ 495 Es verweist aber auch auf die Relativität der Persönlichkeit, das Eingehen der eigenen Identität im Urgrunde aller Seelen, welche Castorps Identifikation mit dem Großvater etwa, oder auch Stephens Identifikation mit Daidalos spiegeln. Sie ist somit dem Konzept der Metempsychose verwandt, der Seelenwanderung, welche im Werke Joyces, aber auch im Werke Manns, etwa in den Joseph-Romanen, eine prominente Rolle spielt.

4.12 Der Pakt mit dem Teufel Ein weiteres Motiv, welches sowohl bei Thomas Mann als auch bei James Joyce Verwendung findet, ist das Motiv des Teufelspaktes. In Thomas Manns Doktor Faustus scheint Adrian Leverkühn von kleinauf mit dem Teufel im Bunde zu stehen und schließt einen Pakt mit ihm, wenn er Esmeralda hinterherreist, um sich bei ihr mit der Syphilis zu infizieren. Der Doktor Faustus unterscheidet sich von den vorigen Bearbeitungen des Stoffes vor allem darin, dass der Teufel Adrian Leverkühn nicht einfach nur Zeit verkauft, sondern „geniale Zeit“, welche ihm Inspiration und somit künstlerischen Ruhm verheißt. Der Pakt Adrian Leverkühns wird folglich im Zeichen der Kunst geschlossen, im Zeichen der Musik, welcher er sich verschrieben hat. Nach Elisabeth Frenzel kommt dies einer „selbstzerstörerischen, künstlerischen Rebellion“ gleich, welche ihn von der restlichen Gesellschaft isoliert. 496 Ganz ähnlich verhält es sich mit Stephen Dedalus, der zwar keinen expliziten Pakt mit dem Teufel schließt, sich diesem aber verbindet, indem er sich mit ihm identifiziert, wenn er die Worte „Non serviam“ zu seiner Parole macht und sich somit Kirche, Staat und Elternhaus widersetzt. Sein Rebellentum besteht vor allem in der Freiheit, welche jene Worte ihm gewähren, eine Freiheit, die Stephen vor allem im Sinne der Kunst zu nutzen gedenkt. Sowohl Adrian als auch Stephen verstehen sich folglich als Künstler, welche außerhalb der Gesellschaft stehen. Sie gedenken nicht, der Allgemeinheit zu dienen, sondern einzig der Kunst und dem eigenen Geiste. Was die beiden Romane darüber hinaus verbindet, sind die sehr expliziten und detaillierten Höllenbeschreibungen. Im Doktor Faustus erfolgen diese aus erster Hand, vom Teufel selber, der als Zuhälter und Intellektueller auftritt. Die Hölle, welche er in Gestalt des Dämonologen Professor Schleppfuß beschreibt, ist vor allem von zwei Merkmalen geprägt. Zunächst handelt es sich um eine akustische Hölle, in deren Innerem unerträglicher Lärm, Geschrei, Gezeter und Geächze Gerald Gillespie. Proust, Mann, Joyce in the Modernist Context. S.235. Elisabeth Frenzel. Motive der Weltliteratur. Ein Lexikon dichtungsgeschichtlicher Längsschnitte. 5. überarbeitete Auflage. Kröner Verlag. Stuttgart. 1999. S.399. 495 496

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herrschen. Umgeben ist diese Hölle, welche den Gestapokellern verglichen wird, von dicken Mauern des Schweigens, die keinen Laut nach aussen dringen lassen und so zu ihrer „geheimen Sicherheit“ beitragen, ihrer Nicht-Denunzierbarkeit. Darüber hinaus schildert der Teufel die Hölle als Ort der Extreme, an dem entweder eisige Kälte oder glühendes Feuer herrscht. Die Bewohner der Hölle flüchten stets vom einen zum anderen Extrem, da dies zunächst als Labsal erscheint, jedoch unmittelbar zur unerträglichen Qual wird. Die hier beschriebene Hölle spricht demnach vor allem zwei Sinne an, den auditiven und den taktilen. Ähnlich verhält es sich mit der Höllenbeschreibung im Portrait, welche durch Father Arnall erfolgt. Auch hier wird die Hölle vor allem als Ort der sinnlich erlebten Schmerzen beschrieben, jedoch deutlich grauenerregender und extremer als im Doktor Faustus, auch wegen des Umstandes, dass nicht lediglich zwei, sondern gleich alle fünf Sinne angesprochen werden. Die Augen werden mit ewiger Dunkelheit geschlagen, es obwalten ein grauenhafter Gestank und ein ohrenbetäubendes Gelärm. Der Geschmack der Insassen wird durch „foul matter“ beleidigt und die Haut wird mit glühenden Stachelstöcken verschandelt: Every sense of the flesh is tortured and every faculty of the soul therewith: the eyes with impenetrable utter darkness, the nose with noisome odours, the ears with yells and howls and execrations, the taste with foul matter, leprous corruption, nameless suffocating filth, the touch with redhot goads and spikes, with cruel tongues of flame. (P, S.102f.).

Zu den körperlichen Qualen, welche Father Arnall beschreibt, kommen zudem „spiritual pains“. Hierunter zählen die Gottesferne, die quälenden Gewissensbisse, die stetige Potenzierung der Qualen sowie ihre unvorstellbare Intensität. Diese Divergenz zwischen den Höllenbeschreibungen des Doktor Faustus und des Portraits erklärt sich vor allem, wenn man die Sprecher berücksichtigt. In Manns Roman geht es dem Teufel nicht etwa darum, Adrian in Angst und Schrecken zu versetzen, sondern vielmehr intendiert er, dessen Neugier zu befriedigen und die „Bedingungen“ des Paktes zu erläutern. Wenn er die Hölle als eine von Extremen geprägte akustische Hölle beschreibt, wird sogar deutlich, dass die Hölle erscheint, als sei sie wie für Adrian geschaffen, da dieser Zeit seines Lebens zu Extremen neigt. Es hat den Anschein, als handele es sich in seiner Beschreibung um eine personalisierte Hölle, was wiederum den Gedanken nahelegt, dass der Teufel, welcher Adrian in Palestrina besucht, und mit ihm die Beschreibung der Hölle, Ausgeburten der Phantasie Adrians sein könnten. Diese Personalisierung und Verinnerlichung der Hölle findet sich ebenso bei Joyce. Denn obgleich Father Arnall eine allgemeine Hölle beschreibt, die allen Sündern gleichermaßen gilt, hat Stephen den Eindruck, als spreche der Priester lediglich zu ihm, als sei jedes Wort seiner Ausführungen für ihn allein bestimmt. Er geht sogar noch weiter, indem er sich im Anschluss an die Predigt die eigens 280

für ihn bestimmte Hölle bildlich ausmalt. He saw. A field of stiff weeds and thistles and tufted nettlebunches. Thick among the tufts of rank stiff growth lay battered canisters and clots and coils of solid excrement. (…) Creatures were in the field; one, three, six: creatures with human faces, hornybrowed, lightly bearded and grey as indiarubber. The malice of evil glittered in their hard eyes, as they moved hither and thither, trailing their long tails behind them. (…) They moved in slow circles, circling closer and closer to enclose, to enclose, soft language issuing from their lips, their long swishing tails besmeared with stale sh*te, thrusting upwards their terrific faces … (P, S.116).

Auch diese Hölle, welche Stephen sich im Anschluss an die Predigt geistig vor Augen ruft, ist eine persönliche, selbst imaginierte Hölle, die stark an die Urwaldvision Aschenbachs im Tod in Venedig (und damit auch an die Offenbarung des Johannes) erinnert. Sowohl im Doktor Faustus als auch im Portrait steht die Figur des Teufels mit dem weiblichen Geschlecht und der Sexualität im Bunde. Dieses Motiv hat lange Tradition, da schon der biblische Sündenfall dahingehend gedeutet wird, dass Eva die Verführerin Adams gewesen sei. Vor allem im Mittelalter desavouierte die christliche Kirche die nichteheliche Sexualität als Stachel des Fleisches respektive der Sünde. Der mittelalterlich gedachte Teufel nähert sich seinen Opfern daher stets in der Form eines schönen Jünglings oder einer schönen Magd, um diese zu verführen. Er erschien ihnen als Succubus bzw. als Incubus, wobei davon ausgegangen wurde, dass deutlich mehr Frauen mit ihm im Bunde standen, da diese laut Kramers Malleus Maleficorum von Natur aus „schlecht“ seien und zudem für die Lehren des Teufels besonders empfänglich. Teils wird davon ausgegangen, dass erst der geschlechtliche Verkehr mit dem Teufel zu Zauberkräften befähige. Ein Zeitgenosse Thomas Manns und James Joyces, der österreichische Schriftsteller Stefan Zweig, erläutert in Die Welt von Gestern, dass in Wien selbst zu Zeiten der Jahrhundertwende die Sexualität und das Geschlechtliche gänzlich tabuisiert wurden, da die Vorstellung der Sündhaftigkeit noch immer stark mit ihnen verbunden wurde: Frühere, noch ehrlich religiöse Zeitalter, insbesondere die streng puritanischen, hatten es sich leichter gemacht. Durchdrungen von der redlichen Überzeugung, daß sinnliches Verlangen der Stachel des Teufels sei und körperliche Lust Unzucht und Sünde, hatten die Autoritäten des Mittelalters das Problem gerade angegangen und mit schroffen Verbot und – besonders im calvinistischen Genf – mit grausamen Strafen ihre harte Moral durchgezwungen. Unser Jahrhundert dagegen, als eine tolerante, längst nicht mehr teufelsgläubige und kaum mehr gottgläubige Epoche brachte nicht mehr den Mut auf zu einem solchen radikalen Anathema, aber es empfand die Sexualität als ein anarchisches und darum störendes Element, das sich nicht in ihre Ethik eingliedern ließ, und das man nicht am lichten Tage schalten lassen dürfe, weil jede Form einer freien, einer außerehelichen Liebe dem bürgerlichen >Anstand< widersprach. 497

Stefan Zweig. Die Welt von Gestern. Erinnerungen eines Europäers. Fischer Taschenbuch Verlag. 1970. (1944). S.87.

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Ähnlich ergeht es im Portrait Stephen Dedalus, der zwar seine Sexualität und seine Triebe erwachen spürt, diese jedoch nur unter ärgsten Gewissensqualen auszuleben wagt, da Kirche, Schule und Elternhaus die nichteheliche Sexualität tadeln. Father Arnall treibt diesen Kirchenbann auf die Spitze, da seine Predigt die körperliche „Unzucht“ verdammt, als handele es sich bei ihr um ein Kapitalverbrechen, auf welches ewige Höllenstrafen ausgesetzt sind. Stephen entscheidet sich gegen Kirche, Staat und Elternhaus, weil diese seine „Natur“ in jeder Hinsicht zu unterbinden suchen, sowohl seine Neugier bezüglich fremdländischer Kultur und Philosophie als auch die Neugier für den eigenen Körper und seine Geschlechtlichkeit. Er fühlt sich beengt und gehemmt, da die gesellschaftliche Moral und Ethik seine Entwicklung und die Ausbildung der eigenen Persönlichkeit in jeder Hinsicht beschneidet. Sein Bund mit dem Teufel, der Geschlechtsakt mit der Prostituierten sowie das „Non serviam“ können somit als Befreiungsschläge Stephens gelten, mithilfe derer er seine künstlerische und sexuelle Natur auszuleben vermag. Auch Adrian Leverkühns Bund mit dem Teufel wird über die Sexualität geschlossen, jedoch erfährt das Motiv eine gänzlich andere Behandlung. Ähnlich Stephen ist Adrian von klein auf ein äußerst neugieriger und aufgeweckter Geist, jedoch scheinen seine Interessen nicht im mindesten im Sexuellen zu liegen. Angeleitet von seinem Vater, beschäftigt er sich vornehmlich mit der „Zweideutigkeit“ der Natur, welche später auch in seiner Musik Ausdruck finden soll, mit der Theologie und der Dämonologie. Die Sinnlichkeit jedoch, welche auch Ausdruck der körperlichen und menschlichen Wärme ist, liegt ihm fern. Der „kühle“ Adrian bedarf gar eines Stadt- oder eher eines Seelenführers, um in das Leipziger Bordell zu finden, in welchem es zu der ersten „Berührung“ mit dem Teufel kommt. Eigentlich gedachte er, in eine Gaststube geführt zu werden, findet sich aber in einem Freudenhaus wieder, dessen „Glasflügler“ nicht ohne Einfluss auf ihn bleiben. Selbst die Flucht ans Klavier, in die ihm vertraute Sphäre des Musikalischen, kann daran nichts ändern. Die Berührung der spanisch anmutenden Esmeralda, welche mit ihrem Arm Adrians Wange streift, bleibt nicht ohne Folgen. Es handelt sich bei dieser Begegnung um eine erstmalige „Infizierung“ Adrians, der diese im weiteren Romanverlauf mit dem sexuellen Akt bekräftigt und sich somit von Esmeralda die Syphilis, mit ihr aber auch die „Illumination“, die Inspiration, holt. Das Sexuelle dient Adrian, so scheint es, lediglich der Muße und damit der Erfüllung seiner künstlerischen Ziele und Ambitionen. Die Sexualität, und damit auch der Teufel, dessen „Kleine“ Esmeralda verkörpert, dienen einzig der Steigerung seiner Genialität und seiner künstlerischen Eingebung. Auch nach der Definition Elisabeth Frenzels kann Adrian als „Teufelsbündner“ angesehen werden, denn dieser zeichne sich der literarischen Tradition gemäß durch „überdurchschnittliche Leistungen 282

und Erfolge“ aus, welche „als Verdienst des Teufels gedacht“ werden. Thomas Mann modifiziert den Teufelspakt aber durch die Parallelen mit dem Aufstieg der Nationalsozialisten dahingehend, als er auch als das „Paktieren der bürgerlichen Gesellschaft mit den totalitären Mächten der Zerstörung gesehen und am Schicksal des begabten Musikers Leverkühn sinnfällig gemacht (werden kann), der eine durch teuflische Paralyse ermöglichte Formkunst dem Epigonentum vorzieht.“ Der Teufel wird hierbei zu einer Art „zeitgenössischer Durchschnittsmensch, halb Realität, halb Ausgeburt einer von der Krankheit schon infizierten Einbildungskraft.“ 498

4.13 Die Stadt als Topos für die Unterwelt Das Bordell sowie die erwachende Sexualität der jungen Protagonisten wiederum sind eng mit einem Motiv verknüpft, welches in der expressionistischen Kunst des frühen 20. Jahrhunderts allgegenwärtig ist, dem Motiv der (Groß-)Stadt. Die Verknüpfung zwischen der Stadt und dem Laster und der Sündhaftigkeit geht schon auf die Bibel zurück, wo sowohl Sodom und Gomorra als auch Babylon als Stätten der Unzucht dargestellt werden. Im Alten Testament werden die Bewohner Babylons als hochmütige Menschen geschildert, da sie sich anmaßen, einen Turm, der bis zum Himmel reicht, bauen zu wollen. Gott beschränkt daraufhin ihre Macht, indem er ihnen verschiedene Sprachen gibt, welche zu Kommunikationsproblemen und dem Abbruch des Baus führen. Im Neuen Testament wird Babylon dann als Stätte geschildert, die sich gegen Gott richtet und mit dem Teufel in Verbindung steht, da dort Unzucht und Dekadenz vorherrschen. In der Offenbarung des Johannes heißt es: Danach sah ich einen andern Engel herniederfahren vom Himmel, der hatte große Macht, und die Erde wurde erleuchtet von seinem Glanz. Und er rief mit mächtiger Stimme: Sie ist gefallen, sie ist gefallen, Babylon, die Große, und ist eine Behausung der Teufel geworden und ein Gefängnis aller unreinen Geister und ein Gefängnis aller unreinen Vögel und ein Gefängnis aller unreinen und verhaßten Tiere. (Offb. 18,1f).

Diese Lasterhaftigkeit und Dekadenz der Großstadt wird in der Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts wieder aufgegriffen, zunächst in der Lyrik, insbesondere der Symbolisten, später auch in den realistischen Romanen Dickens', Hugos und Balzacs. Auch in Deutschland finden sich Vertreter dieser Großstadtliteratur, wie man besonders am Beispiel von Alfred Döblins Berlin Alexanderplatz sehen kann. Dort wird die Berliner „Unterwelt“ geschildert, in welcher sich der Elisabeth Frenzel. Motive der Weltliteratur. S.694.

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Protagonist, Franz Biberkopf, zurecht zu finden sucht und die vornehmlich aus Hehlern, Dieben und Prostituierten besteht. Lehan betont, dass auch Thomas Mann und James Joyce das Motiv der Stadt mit dem Motiv des „land of the dead“ verbinden. 499 In Joyces Ulysses wird dieses Milieu lediglich in „Circe“ ausgeleuchtet, dennoch kann der Roman als einer der bedeutendsten Großstadtromane angesehen werden,500 nicht zuletzt, da eben nicht nur das Sündenviertel ironisch portraitiert wird, sondern auch die Spießbürgerlichkeit vieler Bewohner Dublins. Zudem beschreibt Joyce akribisch genau das öffentliche Leben der Stadt, sei es beim Metzger, im Krankenhaus, im Büro des Freeman oder in der Pub. Arbeit, Freizeit, Sexualität und Sinnlichkeit werden vor dem Leser ausgebreitet und fügen sich zu einem vielschichtigen und ambivalenten Tableau der irischen Metropole. Auch bei Joyce ist die Großstadt ein Ort der Laster, der Trunksucht, des Antisemitismus wie der Prostitution. Besonders in den Kapiteln „Cyclops“ und „Circe“ werden die Abgründe der Dubliner Gesellschaft offenbar. Wie auch in den Dubliners werden die Figuren des Ulysses häufig als bigott und heuchlerisch dargestellt, selten nur als ehrliche oder rechtschaffene Menschen. Vielen mangelt es an Feingefühl, Toleranz oder aufrichtigem Glauben. Die meisten Figuren verfolgen ihre eigenen Interessen, selbst wenn sie dabei den besten Freund ans Messer liefern müssten. Leopold Bloom, die vielleicht einzig wahrhaft humane Gestalt des Romans, erfährt jedenfalls viele Demütigungen und Missbilligungen, sei es wegen seiner Herkunft, wegen seines jüdischen Blutes, wegen seines einfachen Berufes oder wegen der Hörner, die seine Frau Molly ihm durch den Ehebruch mit Blazes Boylan aufsetzt. Die Verknüpfung von Stadt und Sexualität findet sich vor allem in „Circe“. Dass die Sündhaftigkeit des Ortes mit dem Teufel bzw. der Hölle in Verbindung steht, legt schon der im Volksmund gängige Name „Hells Gates“ nahe, welchen die Dubliner für den Eingang in das Rotlichtmilieu ersonnen haben. Gleich zu Beginn des Kapitels laufen Bloom zwielichtige Gestalten über den Weg und er ist mehr als bemüht, seinen „Schützling“ Stephen heil aus diesen Gefilden zu führen. Auch ihm selber ist daran gelegen, das Viertel schnellstmöglich zu verlassen, da er in die Finger Bella Cohens gerät, welche seine sexuellen Vorlieben erforscht und Bloom regelrecht zum „Tier“ werden lässt. Der sonst so sanftmütige und zurückhaltende Bloom erfährt hier eine sexuelle Befreiung und Steigerung, die ihn selber befremdet. Das Thema der sündhaften Stadt findet sich auch im Werk Thomas Manns, insbesondere im Tod in Venedig. München, der Wohnsitz des alternden Schriftstellers, zeichnet sich durch Gediegenheit und Kleinbürgerlichkeit aus. Aufgrund ihrer Enge und einer Art Langeweile, die sie ihm eingibt, Vgl. Richard D. Lehan. „Cities of the Living/Cities of the Dead. Joyce, Eliot, and the Origins of Myth in Modernism“ S.63. 500 Vgl. Elisabeth Frenzel. Motive der Weltliteratur. S.678. 499

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verspürt Aschenbach einen Drang zum Reisen, zu exotischen Ländern und ferner Fremde. Venedig fungiert somit als Gegenpol Münchens, als ein schwüler Ort der Sünde und des Lasters. Erst hier, fern seiner gutbürgerlichen Heimat, drängen die sublimierten Leidenschaften Gustav Aschenbachs an die Oberfläche, wovon insbesondere seine Träume und Visionen reges Zeugnis ablegen. Die Liebe zu dem jungen Tadzio, welche er zunächst zu einer platonischen (Vater-)liebe verklärt, wird zur alles beherrschenden Maxime seines Handelns. Neben dieser sexuellen, erotisierten Komponente Venedigs, findet sich aber auch die Falschheit und Heuchelei der Venezianer als Motiv, welche sich vor allem darin äußert, dass sie zwar um die Cholera wissen, welche in den Kanälen der Stadt lauert, diese jedoch geheim zu halten suchen, um die Touristen nicht zu verschrecken. Aus Profitsucht und Eigennutz nehmen sie in Kauf, dass die Besucher ihrer Stadt an der tödlichen Seuche erkranken. Einen weiteren Aspekt des Großstadt-Motivs bildet der „Fortschritt“, die Entwicklung des Menschen, was Mann, zumindest in der Beschreibung Venedigs, jedoch gänzlich vernachlässigt. Behandlung hingegen erfährt jener technische und wirtschaftliche Fortschritt der Städte durch den französischen Naturalisten Zola, aber auch im Werke Joyces ist die Verbindung von Stadt und Fortschritt durchaus nachvollziehbar. Der Fortschrittsgedanke findet sich besonders in der Figur Leopold Blooms im Ulysses wieder, da dieser im Laufe des Tages immer wieder über mögliche Innovationen nachdenkt, welche das Leben in der Stadt erleichtern könnten, etwa über eine Tramlinie, welche den Transport von Gütern (oder Leichnamen) ermögliche. Sein Interesse für den Fortschritt äußert sich unter anderem in Blooms Begeisterung für die Wissenschaften und seine dahingehende Bildung, welche durch die am Ende des Romans beschriebene „Lektüre“ Blooms nahegelegt wird. Auch die nüchtern gezeichneten Passagen im Ulysses, welche ein recht neutrales Bild Dublins ergeben, legen nahe, dass der Fortschritt Einzug gehalten hat, etwa wenn die Druckerpresse beschrieben wird, welche die stadtweite Verbreitung des Freeman Journals ermöglicht. Als Vertreter der Freimaurer verbindet Bloom den Fortschritt zudem mit einem ethischen, moralischen Moment, welches die übrigen Dubliner von ihm unterscheidet. Zwar kennen sich die Bewohner Dublins gegenseitig und wahren nach außen hin die Umgangsformen, wenn sie einander grüßen und ihren religiösen „Pflichten“ nachkommen, dennoch scheint die der Großstadt häufig zugeschriebene Isolation um sich zu greifen. Frenzel bezeichnet die Großstadteinsamkeit des Protagonisten Bloom gar als die „völlige Vereinzelung des seinem inneren Film Hingegebenen“. 501 Zwar stimmt es, dass Leopold Bloom im Prinzip ein Außenseiter und Einzelgänger ist, welcher vom Rest der Dubliner gesondert zu betrachten ist, jedoch lässt sich diese „Vereinzelung“ nur schwerlich Elisabeth Frenzel. Motive der Weltliteratur. S.678.

501

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auf das Leben in der Großstadt zurückführen. Viel eher schildert Joyce Dublin als eine recht provinzielle, intime Stadt, in der jeder jeden kennt, womit er ihr einen beinahe dörfischen Charakter verleiht. Die „Vereinzelung“ Blooms hat folglich nichts mit der häufig bemängelten Anonymität von Großstädten zu tun, sondern lediglich mit seiner Andersartigkeit, seiner Gutmütigkeit und Aufrichtigkeit, welche in Joyces Dublin eine absolute Seltenheit darstellen.

4.14 Humanität als Quintessenz moderner Höllen Diese Gutmütigkeit Blooms und seine Bereitschaft, den jungen Stephen Dedalus in seinem Leben anzuleiten, machen die Humanität aus, welche Joyce in seinem Ulysses - allen egomanischen und kleinbürgerlichen Dubliner zum Trotz - propagiert. Gosset bezeichnet den Roman gar als ein „épopée humaine.“ 502 Der Ulysses kann daher nicht nihilistisch gedeutet werden, sondern als Aufruf zu und Hoffnung auf eine Humanität, welche die Grenzen Europas wie auch die zwischenmenschlichen Divergenzen überbrückt: To accuse the novel of being uncomprisingly nihilistic is to fail to sense the presence of the buried hopes of humanity that lie concealed in its pages. Bloom is ridiculous, but only because man's hope have been vulgarized by a competitive society into matters of suburban homes (...), insurance policies, and get-rich-quick schemes. It is not so much the idea of good will that is ludicrous as it is its incompatability with the values of the modern world.503

Diese von Joyce propagierte Humanität sowie die Idee der Bildung eines jungen Menschen, zählen laut Arno Schirokauer zu den Merkmalen des Genres: „Die Geschichte des Romans ist die Geschichte von der Freiheit seiner Christenmenschen. Sein Problem ist das humane und humanistische Problem der Erziehung.“ 504 Auch Broch betont, dass die Bildung einer Persönlichkeit im Rahmen der Romanhandlung ein geradezu goetheisches Ideal ist, welches bei Robert Musil, André Gide, Heinrich Mann und Thomas Mann von großer Bedeutung sei, dass Joyce diesem Ideal jedoch am nächsten komme: „Goetheisch: denken Sie an den, der die neue dichterische Aufgabe am umfassendsten und am tiefsten begriffen hat, - ich meine James Joyce.“505 Die Idee der Bildung und der Entwicklung einer neuen Humanität nimmt auch im Werke Manns, Olivier Gosset. Le mythe d'Ulisse dans le roman moderne. Etude comparée de Ulysses de James Joyce, de Naissance de l'Odyssee de Giono et de Strändernas Svall de Johnson. Thèse. Paris. 2002. 503 Richard Kain. Fabulous Voyager. S.210f. 504 Arno Schirokauer. „Bedeutungswandel des Romans“ In: Maß und Wert Vol. 3. 1939/40. S.578. 505 Hermann Broch. „Das Weltbild des Romans“ In: Ebd. Gesammelte Werke 6. Dichten und Erkennen. Essays Band 1. Rhein-Verlag. Zürich. 1955. S.237. 502

286

insbesondere im Zauberberg, eine prominente Stellung ein. Ebenso wie Leopold Bloom, bemüht sich Lodovico Settembrini seinen Schützling Hans Castorp auf den richtigen Weg zu führen. Wenn der Italiener sich auch in vielerlei Hinsicht von den ihm nachfolgenden „Mentoren“ unterscheidet, so gibt es doch auch ein verbindendes Element. Denn immer geht es den „Erziehern“ um den Menschen und darum, wie dieser das Leben meistern könne. Hermann Broch entdeckt im Werke des Autors daher jene Hoffnung auf Humanität, die vielleicht Liebe genannt werden kann: So unerreichbar ferne diese Wirklichkeitssphäre nun auch am Ende der Fiktionsreihe zu sein scheint (als abstrakter Ort der platonischen Idee), so unerreichbar nahe ist sie im Realen, nämlich als Sphäre jener einfachen Humanität, die vielleicht Liebe geheißen werden darf, vielleicht Güte, vielleicht Gottesschau (…), damit er (…) das Ziel erreiche, das hinter jedem Ziele liegt, die Sphäre der Humanität und der fiktionsfreien Wirklichkeit. Allein sie ist auch die Sphäre der dichterischen Erkenntnis. 506

Broch bezieht sich hier insbesondere auf das Ende des Zauberbergs, aber auch der zunächst sehr düster und pessimistisch erscheinende Roman Doktor Faustus trägt Elemente der Hoffnung auf Humanität. Hiervon zeugt das kompositorische Werk Adrians, welches anfangs kühl und parodistisch erscheint, sich jedoch entwickelt zu einem Ausdruck des Leidens, welches wiederum Mitleid und Mitgefühl bei den Hörern erweckt. Ausdruck dieses Leidens ist auch eines der Hauptwerke Adrians, Doktor Fausti Weheklag, dessen Schluss einen Schimmer Hoffnung anhand einer einzigen Note versinnbildlicht: die Hoffnung jenseits der Hoffnungslosigkeit, die Transzendenz der Verzweiflung, - nicht der Verrat an ihr, sondern das Wunder, das über den Glauben geht. Hört nur den Schluß, hört ihn mit mir: Eine Instrumentengruppe nach der anderen tritt zurück, und was übrigbleibt, womit das Werk verklingt, ist das hohe g eines Cellos, das letzte Wort, der letzte verschwebende Laut, in Pianissimo-Fermate langsam vergehend. Dann ist nichts mehr, - Schweigen und Nacht. Aber der nachschwingend im Schweigen hängende Ton, der nicht mehr ist, dem nur die Seele noch nachlauscht, und der Ausklang der Trauer war, ist es nicht mehr, wandelt den Sinn, steht als ein Licht in der Nacht. (DF, S.711).

Thomas Mann selber betonte in seiner Rede „Freud und die Zukunft“, dass die neu aufkommende Humanität ihm ein Herzensanliegen ist. Den Weg zu ihr beschreitet er insbesondere mit der Verbindung von Mythos und Psychologie: „In dem Spiel der Psychologie auf dem Mythos (…) liegen Keime frei und Elemente eines neuen Menschheitsgefühls und einer kommenden Humanität.“507 Als Thomas Mann diese Rede hält, im Jahre 1936, anlässlich Freuds 80. Geburtstag, ahnt er vielleicht schon, dass die Humanität eine Weile auf sich warten lassen wird, dass Deutschland das Hermann Broch. „Mythos und Dichtung bei Thomas Mann“ In: Ebd. Schriften zur Literatur 1. Kritik. Suhrkamp Verlag. Frankfurt a.M. 1976. S.30. 507 Thomas Mann. „Freud und die Zukunft“ S.40. 506

287

Schlimmste noch bevorsteht. Aber trotz der Gräuel des Ersten Weltkrieges und der sich abzeichnenden

Kriegsvorhaben

und Verbrechen

gegen

die

Menschlichkeit seitens

der

Nationalsozialisten, besteht Mann auf dem Festhalten an der Hoffnung. Er geht sogar einen Schritt weiter, da er selber jene Humanität in seinem Werke zu vermitteln sucht. Im Doktor Faustus etwa geht es primär um eine einzige Figur - der Roman trägt den Untertitel Das Leben des deutschen Tonsetzers Adrian Leverkühn erzählt von einem Freunde - diese Figur jedoch spiegelt das Schicksal eines ganzen Volkes und einer gesamten Generation wider. Folglich wechselt Mann von teils sehr persönlichen und intimen Passagen des Protagonisten zu allgemein gehaltenen, welche das Schicksal Deutschlands nachzeichnen. Adrian Leverkühn, der moderne Faust, welcher den Mythos verkörpert, spiegelt zugleich das Leben vieler Deutschen und wird somit zu einer typischen und repräsentativen Figur für Deutschland. Ähnlich Hans Castorp ist sein Schicksal nicht lediglich ein persönliches, sondern ein allgemeinmenschliches.

4.15 Lebensfreundschaft Ein weiterer Leitgedanke in den Werken Thomas Manns und James Joyces ist die Vormachtstellung des Lebens vor dem Tod. Zwar ist der Tod omnipräsent, etwa in den Gedanken Leopold Blooms auf dem Weg zur Beerdigung Paddy Dignams oder in der frühesten Kindheit des jungen Hans Castorp, dennoch wird dem Leben letztlich die Suprematie über ihn eingeräumt. Im „Schnee“-Kapitel, in dem einzig kursiv gedruckten Satz des Zauberbergs, tritt jene Vormachtstellung am deutlichsten zu Tage: „Der Mensch soll um der Güte und Liebe willen dem Tode keine Herrschaft einräumen über seine Gedanken.“ Zudem erkennt Hans Castorp, dass der Mensch im Zentrum dieses Lebens steht und dass er selber Herr über die Gegensätze ist: Tod oder Leben – Krankheit, Gesundheit – Geist und Natur. Sind das wohl Widersprüche? Ich frage: Sind das Fragen? Nein, es sind keine Fragen, und auch die Frage nach ihrer Vornehmheit ist keine. Die Durchgängerei des Todes ist im Leben, es wäre nicht Leben ohne sie, und in der Mitte ist des hom*o Dei Stand – inmitten zwischen Durchgängerei und Vernunft – wie auch sein Staat ist zwischen mystischer Gemeinschaft und windigem Einzeltum. (ZB, S.747).

Auch in Die Betrogene ist die Polarität zwischen Leben und Tod ein zentraler Gegenstand. Rosalie ist ein lebensfroher Mensch, der die Natur und die Jugend verehrt. Im Gegensatz zu Hans Castorp scheut sie alles, was sie an den Tod erinnert, und vermag es kaum zu akzeptieren, dass sie selber nicht mehr fruchtbar ist und kein neues Leben mehr zu „schaffen“ vermag. Am Ende des Romans erkennt sie zwar, dass der Tod ein „großes Mittel des Lebens“ (DB, S.978) und ein Teil desselben 288

darstellt, sie akzeptiert den eigenen Tod, dennoch wird die Erzählung hauptsächlich vom Leben und seinen Launen bestimmt. Beide Protagonisten stellen zunächst extreme Haltungen zum Tod vor, Hans Castorp der Romantiker mit einem Hang zu Abgrund und Tod, Rosalie hingegen eine lebensfrohe Mittfünzigerin, die stark am Leben und der Natur hängt. Beide jedoch erfahren im Laufe ihrer Geschichte eine Steigerung, wenn sie erkennen, dass der Tod ein Teil des Lebens ist, dass man des Todes eingedenk sein sollte, ohne jedoch das Leben minder wert zu schätzen. Auch Joyce greift die vermeintlichen Dualismen Leben und Tod im Ulysses wieder auf, insbesondere in „Hades“, wo Leopold Bloom ausgiebig über den Tod sowie die mit ihm verbundenen Riten sinniert. Das Thema ist ein besonders schwieriges für ihn, da sein Vater sich das Leben genommen hat und sein Sohn Rudy wenige Tage nach seiner Geburt verstorben ist. Der Tod zweier lieber Verwandter hat eine Lücke in Blooms Leben hinterlassen und noch immer versucht Bloom, die Verluste, welche ihm widerfahren sind, zu ersetzen, etwa durch die Fürsorge und das Interesse für Stephen Dedalus. Zum Ende des Kapitels wird daher deutlich, dass Leopold Bloom dem Tod und seinen Gefilden zu entfliehen versucht, da er stark am Leben und seinen Freuden hängt: The gates glimmered in front: still open. Back to the world again. Enough of this place. (…) There is another world after death named hell. I do not like that other world she wrote. No more do I. Plenty to see and hear and feel yet. Feel live warm beings near you. Let them sleep in their maggoty beds. They are not going to get me this innings. Warm beds: warm fullblodded life.” (U, S.110).

Ähnlich Rosalie Tümmler verbindet Bloom das Leben vor allem mit der Geschlechtlichkeit, welche wiederum neues Leben schafft und das Leben somit fortführt. Die Erwähnung des Bettes, Ort des sexuellen Ehevollzuges, legt nahe, dass das Geschlechtsleben, welches auch in „Circe“ eingehende Beschreibung findet, für Bloom von großer Bedeutung ist. Sicherlich hängt dies auch damit zusammen, dass Bloom der Welt im Gedächtnis bleiben, dass er nicht der Vergessenheit anheimfallen möchte, ohne einen Eindruck auf die Welt gemacht zu haben, ohne etwas „bewegt“ zu haben. Darüber hinaus geht es ihm aber auch darum, dass Leben in vollen Zügen auszukosten und den Tag zu nutzen, da das jenseitige Leben ein Mysterium bleibt. Die Textstelle verweist zudem auf ein Leben in der Hölle nach dem Tode. Wenn man diesen Gedankengang Bloom zuschreibt, dann stellt die diesseitige Welt, das Hier und Jetzt, für Bloom einen angenehmen, beinahe paradiesischen Zustand dar, während „that other world“ im Jenseits ein Ort der Höllenqualen ist. Der im Grunde seines Wesens aufgeklärte und säkularisierte Bloom scheint sich hier dem Bewusstsein Stephens anzunähern, der sich aufgrund seiner Erziehung nicht 289

gänzlich von Glauben an die Hölle losmachen kann. Dennoch geht Motylowas Deutung, dass der Ulysses ein pessimistisches und nihilistisches Bild der Welt zeichnet,508 fehl, da Blooms positive Weltsicht und seine Lebensfreundschaft den Gedanken an den Tod bei weitem überwiegen und daher auch dem Roman als solchem eine dem Leben wohlgesonnene Grundhaltung verleihen.

4.16 Montage, Ironie und Parodie als Strukturmerkmale Die Stilmittel, welche Thomas Mann und James Joyce zur Beschreibung ihrer literarischen Höllenabstiege verwenden, sind vielfältig. In dreierlei Hinsicht ähneln sie sich besonders stark, in der Verwendung der Ironie, der Montage und der Parodie. Im Tod in Venedig etwa bedient sich Thomas Mann vermehrt der Ironie, etwa bei der Beschreibung von

Aschenbachs

erster

Vision,

der

„Urwaldwildnis“,

deren

Duktus

der

biblischen

Offenbarungsgeschichte gleicht: Er sah, sah eine Landschaft, ein tropisches Sumpfgebiet unter dickdunstigem Himmel, feucht, üppig und ungeheuer, eine Art Urweltwildnis aus Inseln, Morästen und Schlamm führenden Wasserarmen, - sah aus geilem Farrengewucher, aus Gründen von fettem, gequollenem und abenteuerlich blühendem Pflanzenwerk haarige Palmenschäfte nah und ferne emporstreben, sah wunderlich ungestalte Bäume ihre Wurzeln durch die Luft in den Boden, in stockende, grünschattig spiegelnde Fluten versenken, wo zwischen schwimmenden Blumen, die milchweiß und groß wie Schüsseln waren, Vögel von fremder Art, hochschultrig, mit unförmigen Schnäbeln, im Seichten standen und unbeweglich zur Seite blickten, sah zwischen den knotigen Rohrstämmen des Bambusdickichts die Lichter eines kauernden Tigers funkeln – und fühlte sein Herz pochen vor Entsetzen und rätselhaftem Verlangen. (TiV, 504).

Frizen betont, dass insbesondere die Eröffnung dieser Vision an die Offenbarung des Johannes erinnert, in welcher der Protagonist ebenfalls zu „sehen“ beginnt, ihm die Augen geöffnet werden und er erkennt, was der göttliche Heilsplan umfasst. „Im Verein mit der übertreibenden Erotisierung („haarige Palmenschäfte“) entsteht eine beklemmende erotisch-mystische Topographie, in der das Giganteske („ungeheuer“) und das formlose („wunderlich ungestalte Bäume“) den Bildeindruck dominieren.“509 Wie Frizen ausführt, findet somit auch Aschenbachs Seelenlandschaft ihren Ausdruck. Darüber hinaus zeigt die Verbindung von biblischem Stil und mystischer Erotik aber auch die bissige Ironie, mit welcher Thomas Mann seine Quellen behandelt. Andererseits ist die Verbindung durchaus legitim, da Satan, der „Verführer“, in der Offenbarung seinen angestammten Platz hat, als Drache, oder auch als Schlange, welcher die Menschen auf seine Seite zu ziehen versucht und ihnen einflüstert, sich gegen Gottes Allmacht zu erheben. Vgl. Tamara Motylowa. „Thomas Mann und die Erneuerung des Realismus“ In: Sinn und Form. Sonderheft 1965. S.128ff. 509 Werner Frizen. Thomas Mann. Der Tod in Venedig. S.31. 508

290

Im vierten Kapitel des Tod in Venedig handhabt Mann dies ähnlich, wenn er einen antiken, geradezu homerischen Stil verwendet, den kanonischen Stil einer Blütezeit, um Gustav Aschenbachs sich bereits abzeichnenden Niedergang zu beschreiben: Nun lenkte Tag für Tag der Gott mit den hitzigen Wangen nackend sein gluthauchendes Viergespann durch die Räume des Himmels, und sein gelbes Gelock flatterte im zugleich ausstürmenden Ostwind. Weißlich seidiger Glanz lag auf den Weiten des träge wallenden Pontos. Der Sand glühte. Unter der silbrig flirrenden Bläue des Äthers waren rostfarbene Segeltücher vor den Strandhütten ausgespannt, und auf dem scharf umgrenzten Schattenfleck, den sie boten, verbrachte man die Vormittagsstunden. Aber köstlich war auch der Abend, wenn die Pflanzen des Parks balsamisch dufteten, die Gestirne droben ihren Reigen schritten und das Murmeln des umnachteten Meeres, leise heraufdringend, die Seele besprach. Solch ein Abend trug in sich die Freudige Gewähr eines neuen Sonnentages von leicht geordneter Muße und geschmückt mit zahllosen, dicht beieinander liegenden Möglichkeiten lieblichen Zufalls. (TiV, 549).

Dass Gustav Aschenbachs Tod naht, wird schon dadurch nahegelegt, dass er sich in Venedig fühlt, „als sei er entrückt ins elysische Land, an die Grenzen der Erde, wo leichtestes Leben den Menschen beschert, wo nicht Schnee ist und Winter, noch Sturm und strömender Regen, sondern immer sanft kühlenden Anhauch Okeanos aufsteigen läßt und in seliger Muße die Tage verrinnen, mühelos, kampflos und ganz nur der Sonne und ihren Festen geweiht.“ (TiV, S.550). Das „elysische Land“ jedoch befindet sich im Jenseits und der Okeanos ist im Werke Homers der Grenzfluss zum Reich der Schatten. Aufgrund dieser Entrückung, welche auch der Anblick des schönen Tadzio bewirkt, schwingt Aschenbach sich ein letztes Mal zu dichterischen Höhen auf, da seine Leidenschaft ihm neue Inspiration schenkt. Ohne dessen gewahr zu werden, nähert er sich aber auch dem Abgrund, welcher sein Tod bedeutet, und der ihn am Ende der Erzählung verschlingt. Besonders deutlich wird der ironische Stil Thomas Manns auch in Die Betrogene, wenn der Autor die Zweideutigkeit der Natur anhand mehrerer Beispiele darstellt. Er beschreibt etwa die Ähnlichkeit zwischen dem Krokus, in der Regel der erste Vorbote des Frühlings und seiner Blütenpracht, und der Herbstzeitlosen, ein Spätblüter, dessen Blütezeit erst im September bzw. Oktober liegt. Darüber hinaus ist die Herbstzeitlose trotz ihrer Ähnlichkeit zum „harmlosen“ Krokus für Menschen giftig, ihr Verzehr kann sogar zum Tod durch Atemlähmung führen. Diese Zweideutigkeit der Natur spiegelt sich zudem in der Figur Rosalie Tümmlers wider. Seit einiger Zeit in den Wechseljahren, ist Rosalie sehr betrübt, dass sie keine „echte“ Frau mehr ist, dass sie von der Natur regelrecht „ausgemustert“ wurde. Der Umstand aber, dass sie sich aufs neue verliebt und einen - freilich mit ihrer Krebserkrankung zusammenhängenden - Blutsturz erfährt, lässt zunächst Hoffnung in ihr keimen, ihr Zyklus sei wiedergekehrt und sie somit wieder eine „vollwertige“, fruchtbare Frau. Beide Beispiele belegen, dass Tod und Leben zwei Seiten ein- und derselben Medaille sind, dass beide Pflanzen der Vielfalt der Natur entsprungen sind, ebenso wie 291

Gesundheit, Fruchtbarkeit und Krankheit. Wie Hof betont, ist die Ironie Thomas Manns dabei keineswegs nihilistisch zu lesen, sondern vielmehr liebevoll zu verstehen, als „Größe, die voller Zärtlichkeit für das Kleine“ ist. Vordergründig scheint sie zwar die „klassische Humanität“ zu zersetzen, in Wahrheit jedoch rettet sie einen Teil derselben und versöhnt somit die „zerrissene dialektische Welt.“ 510 Neben dieser Ironisierung der blinden Naturliebe und dem Glauben an ihre „Güte“ findet sich in Die Betrogene aber auch jene über die Religion spöttelnde Ironie, welche im Tod in Venedig nachweisbar ist und auch im Werke Joyces immer wieder durchscheint. Während ihres Ausfluges nach Schloss Holterhof isst Rosalie von dem warmen, aber alten Brot, welches Ken in seiner Hosentasche mitgeführt hatte. Wie auch im Zauberberg ist das Wort „Brot“ symbolisch aufgeladen. Mit dem Verzehr des Brotes erhofft sich Rosalie, ihrem „Heilsbringer“ und Götzen näher zu sein, ihn sich einzuverleiben. Das Motiv trägt folglich eine körperliche, beinahe sexuelle Konnotation. Darüber hinaus versinnbildlicht es aber auch die Auferstehung Jesu Christi und damit die Nähe von Tod und Leben sowie die Überwindung des Todes und der Hölle durch den Sohn Gottes. Eine regelrechte Parodie auf das letzte Abendmahl Jesu findet sich im Zauberberg, wo Mynheer Peeperkorn eines Abends 12 Jünger um sich versammelt, um mit ihnen „Brot“ und Wein reichlich zuzusprechen. Dabei bleibt es nicht einzig bei dem von Peeperkorn flüssig bevorzugten Brot – dem Kornschnaps - sondern er lässt der ausgewählten Gesellschaft vieles mehr auftischen „und bestellte Stärkung für die Runde, eine Kollation, Fleisch, Aufschnitt, Zunge, Gänsebrust, Braten, Wurst und Schinken, - Platten voll fetter Leckerbissen, die, mit Butterkugeln, Radieschen und Petersilie garniert, prangenden Blumenbeeten glichen.“ (ZB, S.850f). Peeperkorn selber sitzt der Gesellschaft vor. „Er legte beide Hände auf die Unterarme seiner Nachbarn, hob den lanzenspitzen Zeigefinger und forderte mit umfassendem Erfolge die höchste Aufmerksamkeit für die herrliche Goldfarbe des Weins in den Römern.“ (ZB, S.848). Die Geste Peeperkorns erinnert an Leonardo da Vincis letztes Abendmahl, wo Jesus ebenfalls in der Mitte seiner Jünger sitzt und die Arme gegen sie ausbreitet. Als „Persönlichkeit“ bildet auch er das Zentrum und den Ruhepol der teils ausgelassenen und überspannten Gruppe. Und wie Jesus fühlt auch Peeperkorn sich verraten, wenn er erfahren muss, dass Clawdia neben ihm auch andere Liebhaber hat. Als die Gesellschaft des Spieles, des Weines und des Essens müde wird, fordert Peeperkorn seine „Jünger“ in einer der Bibel entlehnten Ansprache auf, ihn nicht zu verlassen: „Bleibet hie und wachet mit mir (…) Und kam zu ihnen und fand sie schlafend und sprach zu Petro: Könnet ihr denn Walter Hof. „Ironie und Humanität bei Thomas Mann“ In: Wirkendes Wort 13. 1963. S.147ff.

510

292

nicht eine Stunde mit mir wachen? (…) Und kam und fand sie aber schlafend, und ihre Augen waren voll Schlafs. Und sprach zu ihnen: Ach, wollt ihr nun schlafen und ruhen? Siehe, die Stunde ist hie.“ (ZB, S.860f). Peeperkorn, der schon in seinen Gesten und Gebärden Jesus gleicht – man bedenke das zur Seite geneigte, „leidende“ und „weiß umloderte“ Haupt - stilisiert sich in dieser Passage als Prophet, der seine Schäfchen auffordert auszuharren. Während des spätnächtlichen Bachanals gibt sich Peeperkorn als religiöser Anführer, dem ein göttlicher Funke innezuwohnen scheint. In vielerlei Hinsicht pervertiert diese Orgie, der Weinkonsum, die Völlerei als auch das Kartenspiel die Szene des biblischen Abendmahls, da Mann parodistisch von der biblischen Vorlage des bei Markus beschriebenen Abendmahls abweicht. Anhand der Beispiele aus dem Tod in Venedig und dem Zauberberg wird deutlich, dass die Ironie Mann vor allem dazu dient, den Gegensatz zwischen Leben und Geist aufzuzeigen,511 wobei das Leben in beiden Fällen die Oberhand gewinnt. Eine ähnliche Zelebrierung der Kommunion findet sich gleich zu Beginn des Ulysses, wo Buck Mulligan am frühen Morgen eine Art Mock Mass feiert: Stately, plump Buck Mulligan came from the stairhead, bearing a bowl of lather on which a mirror and a razor lay crossed. A yellow dressinggown, ungirdled, was sustained gentyl behind him by the mild morning air. He held the bowl alorft and intoned: - Introibo ad altare Dei. (U, S.3).

Anders jedoch als Peeperkorn, der tatsächlich als eine Art Heilsbringer oder Mentor gedeutet werden kann, bringt Mulligan hier lediglich seinen Spott und seine Verachtung für die Religion zum Ausdruck, welche auf Stephen noch immer so großen Einfluss ausübt. Als Mediziner betrachtet er die Dinge nicht unter einem mystischen oder religiösen Gesichtspunkt, sondern lediglich unter einem vermeintlich objektiven, wissenschaftlichen. Ähnlich wie die übrigen von Joyce beschriebenen Dubliner, kommt er den religiösen Riten nur zum Schein nach, um den Konventionen der Gesellschaft zu entsprechen. Wie Topia dies schildert, trägt die Parodie Joyces folglich höhnische Züge, welche die Tradition zu einem Teil in Frage stellen. Er nennt dies ein „system of distortion and contamination by which the parody subverts the text from within.“ 512 Diese Mock Mass erfährt eine weitere ironische Verkehrung am Ende der „Circe“-Episode, wenn die schwangere Mina Purefoy während der Zelebrierung einer schwarzen Messe auf einem dem Vgl. hierzu auch Beda Allemann. „Ironie als literarisches Prinzip“ In: Ebd. (Hrsg.). Ironie und Dichtung. Sechs Essays. Neske Verlag. Pfullingen. 1969. S.17. 512 André Topia. „The Matrix and the Echo: Intertextuality in Ulysses“ In: Derek Attridge; Daniel Ferrer (Hrsg.). PostStructuralist Joyce. Essays from the French. Cambridge University Press. Cambridge. 1984. S.105. 511

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Satan geweihten Altar prangt. Die Füße und Köpfe der Priester, die der Messe vorstehen, sind nach hinten gekehrt und auch ihre Worte sind teils umgekehrt gesprochen. So beten sie zunächst „Dog“ an, eine ironische Verkehrung des Wortes „God“, die seinen hündischen, animalischen Charakter und damit seine teuflische Seite offenbart. Joyce nähert damit Gott und Teufel einander an und veranschaulicht, dass letzterer nur eine Spielart des ersteren ist. Diese Ironie Joyces, welche häufig nihilistisch gedeutet worden ist, sollte aber nicht als „belittling“, sondern vielmehr als spielerischer Umgang mit der Sprache gedeutet werden.513 Sie agiert nicht destruktiv, sondern zeigt die Pluralität des Realitätsbegriffes und den Synkretismus der Glaubensrichtungen auf. Ebenso wie Joyce verbindet Thomas Mann sich scheinbar ausschließende, dualistische Konzepte in seinem Roman Doktor Faustus, wenn Adrian Leverkühn in der Apocalipsis cum figuris mit den gleichen Noten den Himmel und die Hölle schildert. Die ausgewählten Notenzeichen ergeben zum einen eine Melodie, welche die „Sphärenmusik“ des Universums evoziert, zum anderen aber ein teuflisches Pandämonium des Höllengelächters beschwört. Adrian Leverkühn vereint somit die Extreme, die seinem Charakter und seinem Leben innewohnen, in einer einzigen Komposition, die von der Möglichkeit einer Aufhebung der Dualismen zeugt. Ein durchaus verwandtes Motiv, welches auch in Die Betrogene anklingt, ist die Zweideutigkeit der Natur, die Ambivalenz der Schöpfung. Im Doktor Faustus wird der Leitgedanke der Ambivalenz vor allem von dem Vergleich der organischen und anorganischen Blumen getragen. So wundert sich schon der Vater Adrian Leverkühns über die Eisblumen am Fenster, welche ihre organischen Entsprechungen nachzuahmen scheinen. Diese osmotischen Gewächse sind sowohl Sinnbild des blühenden Lebens als auch des Todes: Ein verwandtes Gefallen fand er an Eisblumen, und halbe Stunden lang konnte er sich an Wintertagen, wenn diese kristallischen Niederschläge die bäuerlich kleinen Fenster des Buchelhauses bedeckten, mit bloßem Auge und durch sein Vergrößerungsglas in ihre Struktur vertiefen. (…) Aber daß sie mit einer gewissen gaukelnden Unverschämtheit Pflanzliches nachahmten, aufs wunderhübscheste Farrenwedel, Gräser, die Becher und Sterne von Blüten vortäuschten, daß sie mit ihren eisigen Mitteln im Organischen dilettierten, das war es, worüber Jonathan nicht hinwegkam, und worüber seines gewissermaßen mißbilligenden, aber auch bewunderungsvollen Kopfschüttelns kein Ende war. (DF, S.32f.)

Obwohl die eine Blume von Leben erfüllt, die andere aber unbelebt zu sein scheint, lehrt ihn dieses Naturphänomen, dass die Grenzen zwischen Leben und Tod fließend verlaufen. Aus Organischem kann Unorganisches entstehen, etwa wenn ein Organismus stirbt, und umgekehrt aus Unorganischem Organisches. Die Natur ist in einem ewigen Fluss, einer flux aeterna, begriffen, der Vgl. Dermot Kelly. „Joycean Parody: Irony and Transcendence“ In: Clive Hart; Fritz Senn (Hrsg.). Images of Joyce Bd.2. 1998. S.539. 513

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die Ganzheit der Schöpfung aufzeigt. Auch in den Erzählungen Joyces ist die Ironie ein bedeutender Bestandteil des stilistischen Apparates, etwa wenn der Autor in „Grace“ die Divina Commedia Dante Alighieris umkehrt und somit den göttlichen Heilsplan der katholischen Kirche in Frage stellt. Bei der Erzählung, die Hedberg als „mock-epic“ bezeichnet,514 handelt es sich nicht um einen Aufstieg oder eine Steigerung des Protagonisten Tom Kernan, sondern um das genaue Gegenteil, seinen Niedergang in wirtschaftlichen, sozialen und moralischen Belangen. Der erste Teil der Erzählung zeigt den Protagonisten in seinem tatsächlichen, desolaten Zustand. Kernan hat sich halb bewusstlos besoffen und liegt auf den Toilettenböden einer irischen Pub. Insbesondere im zweiten Teil wird dann deutlich, wie bigott und heuchlerisch seine vermeintlichen Freunde, seine Familie sowie er selber handeln und dass vor allem das (Schein-)Bekenntnis zur katholischen Kirche integraler Bestandteil des Dubliner Lebens ist: „In this section Joyce comes out from behind a veil of parody and symbolism to report coldly and disgustedly on the state of current religious ecstasy in Dublin.“515 Joyce also empfindet gerade diese vorgespiegelte Zugehörigkeit als anmaßend und abstoßend und schildert dies auch im letzten Teil der Erzählung. Sowohl der Priester, der sich als „man of the world“ gibt, obgleich das Spirituelle seine Sache sein sollte, als auch die sich Bekehrenden werden in einem ironischen und spöttischen Licht dargestellt, als gutgenährte Geschäftsleute, denen es nicht um ihr spirituelles, religiöses Wohl geht, sondern lediglich um den eigenen Vorteil. Bei beiden Autoren grenzen die ironischen Passagen in ihren Werken an Parodie, da sie literarische bzw. biblische Vorlagen verzerren. Wie Kiremidjian, der einen eingehenden Vergleich zwischen den Werken Manns und denen Joyces bemüht, aber ausdrücklich betont, kann die Parodie als Kritik, aber auch als Hommage gelesen werden. Zudem ist die Parodie Ausdruck der Auseinandersetzung beider Autoren mit dem ästhetischen Selbstverständnis: „The aesthetic self-consciousness, the tendency toward self-parody, the preoccupation with self and anti-self and the resultant setting of polarities are especially clear in Joyce and Mann, who employ parodistic techniques not only to expand the scope, alter the angle of perspective or fulfill the almost endless search for variations upon a theme, but also to create the expressive medium itself.“ 516 Wie Kiremidjian weiter ausführt, kommt der Parodie darüber hinaus insofern eine besondere Funktion zu, als sie die in der Natur (auch des Menschen) auftretenden vermeintlich unvereinbaren Johannes Hedberg. „Humour in Dubliners – a passed-over element“ In: Clive Hart; Fritz Senn (Hrsg.). Images of Joyce Bd.1. 1998. S.402f. 515 Marvin Magalaner. Time of Apprenticeship. S.132. 516 David Kiremidjian. A Study of Modern Parody. S.11. 514

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Gegensätze aufzeigt: „It is the purpose of art – and specifically of parody – to reveal the ambiguity of opposites in nature.“517 Dies wird besonders bei Thomas Mann deutlich, wenn er sowohl in Die Betrogene als auch im Doktor Faustus die „Zweideutigkeit der Natur“ schildert, ihren „Hang zur Mystifikation“, den Settembrini als geradezu teuflisches Werk betrachtet. Auch Steen betont, dass die Parodie im Werke Manns nicht nihilistisch zu deuten sei, sondern als Ausdruck der Mehrdeutigkeit und des Perspektivismus.518 Neben parodistisch behandelten Leitgedanken finden sich bei beiden Autoren Parodien auf literarische Texte. Thomas Mann etwa setzt sich vor allem mit der biblischen Überlieferung sowie mit dem Faust-Stoff auseinander. Im Zauberberg rekurriert er zudem auf die homerische Odyssee. Settembrini bemerkt, dass Hans Castorp einem modernen Odysseus gleichkomme, wenn er sich in das Schattenreich des Berghofes begebe, um die Unterwelt mitsamt der sie bevölkernden Schatten zu schauen. Im Gegensatz zu Odysseus, der nur eine kurze Zeit am Rande des Okeanos zubringt, um sich von Teiresias die Zukunft weissagen zu lassen, verbringt Castorp jedoch sieben Jahre auf dem Berghof. Die Funktion der homerischen Hadesfahrt erfährt zudem eine Umkehrung. Während Odysseus über seine Zukunft, seine Heimkehr und seine Herrschaft informiert wird und sein Leben somit eine Sinngebung erfährt, bleibt die Zukunft Hans Castorps am Ende des Romans im Ungewissen. Der Leser verliert ihn im Schlachtengetümmel aus den Augen. Sein ungewisses Schicksal kann als Allegorie auf das Schicksal Europas gelesen werden, von dem nicht gewiss ist, ob es den „Weltbrand“ des Ersten Weltkriegs heil überstehen wird, ob es geschwächt oder gestärkt, barbarisch oder human daraus hervorgehen wird. Doch trotz der Ungewissheit bezüglich der Zukunft des jungen Helden, endet der Roman auf einer hoffnungsvollen Note, da Hans Castorp in „Schnee“ eingegeben wird, was er im Innern, unbewusst, schon immer gewusst hat, dass dem Tode keine Herrschaft über das Leben einzuräumen ist, dass der Mensch im Mittelpunkt allen Strebens steht und Herr über die vermeintlich unvereinbaren Gegensätze ist. Diese Erkenntnis Castorps wird in den letzten Zeilen des Romans wieder aufgegriffen und ihre Wichtigkeit damit noch einmal unterstrichen. Der Sinn der Mannschen Hadesfahrt ist daher nicht die Vorhersehung der Zukunft zur Sinngebung der Gegenwart. Viel eher rückt die Gegenwart, das Diesseits, der Mensch in den Fokus. Die Katabasis dient der Erkenntnis des Lebens, aber auch der Humanität, die dieses Leben von den Menschen einfordert. Wie der Titel des Ulysses schon nahelegt, greift Joyce den Mythos des Odysseus ebenfalls auf und Ebd. S.65. Inken Steen. Parodie und parodistische Schreibweise in Thomas Manns Doktor Faustus. Niemeyer Verlag. Tübingen. 2001. S.9ff. 517 518

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verfährt dabei häufig parodistisch. Der weit gereiste, listenreiche, im Kriege wie in der leidenschaftlichen

Eroberung

erfolgreiche

Odysseus

wandelt

sich

zum

einfachen

Annoncenakquisiteur Leopold Bloom, der weder in seinem Job noch in der Liebe sonderlich erfolgreich ist. Zwar konnte er die Frau seines Herzens, Marion Bloom, für sich gewinnen, seit dem Tode ihres zweiten Kindes allerdings kommt es nicht mehr zum geschlechtlichen Verkehr zwischen den Ehepartnern. Die Andersartigkeit des Joyceschen (Anti-)Helden wird überdies durch der Affäre Mollys mit dem stadtbekannten Casanova Blazes Boylan suggeriert. Die Figuren erfahren eine regelrechte Umkehrung: der listenreiche Odysseus wird zum naiven und gutmütigen Leopold Bloom, die treue Penelope zur heißblütigen Fremdgängerin. Doch trotz dieser Verzerrung der Charaktere und der Umdeutung des Mythos, welche Joyce vornimmt, wird dieser nicht seines Sinnes beraubt. Während seiner „Wanderschaft“ durch Dublin erlangt Bloom mehrere Einsichten. In „Hades“ setzt er sich eingehend mit dem Tode und der Eschatologie auseinander und beschließt am Ende des Kapitels, dass er sich trotz dessen Allgegenwärtigkeit lieber dem Leben - und damit auch der (körperlichen) Liebe - zuwendet. In „Circe“, der Erkundung des Unbewussten und der (Alp-)Traumwelten der Protagonisten, kommt es zu einer Annäherung zwischen Bloom und Stephen. Ersterer übernimmt die Schirmherrschaft über den jungen Studenten, geleitet ihn aus dem Rotlichtmilieu, welches ihm (insbesondere finanziell) zum Verhängnis zu werden droht, und stärkt ihn mit Kaffee und Kakao. Die Gutmütigkeit, Großzügigkeit und Fürsorge Blooms lässt auf Joyces Glauben an eine mögliche, neue Humanität schließen, welche sich nur selten in dem von ihm beschriebenen Dublin finden lässt, aber im Ulysses dennoch ihr Existenzrecht behauptet. Da die Behandlungen ihrer Vorläufer sowohl bei Mann als auch bei Joyce von großem Respekt geprägt sind, könnte man sie ebenso gut als Pastiche bezeichnen. Dennoch entblößen sie die Schwächen der Gesellschaft und zeichnen eine spöttelnde Karikatur des Kleinbürgertums, was ihren Werken wiederum satirischen Charakter verleiht. Sowohl bei Mann als auch bei Joyce werden die spießbürgerliche Gesellschaft und die vermuffte Atmosphäre des frühen 20. Jahrhunderts satirisch beleuchtet. Wie Northrop Frye andeutet, dient die Satire als geeignets Mittel, die ambivalente Welt der Moderne darzustellen: „The dialectic in myth that projects a paradise or heaven above our world and a hell or place of shades below it reappears in literature as the idealized world of pastoral and romance and the absurd, suffering, or frustrated world of irony and satire.“ 519

Northrop Frye. Fables of Identity. Studies in Poetic Mythology. Harcourt. New York. 1963. S.38.

519

297

Neben der Parodie bedienen sich die beiden Autoren der literarischen Montage,520 welche die Vieldeutigkeit der Moderne versinnbildlicht, die Schnelllebigkeit der Zeit und des Fortschritts sowie die unterschiedlichen Bewusstseinsebenen des neuzeitlichen Menschen. Im Gegensatz zu Joyce wendet Mann diese Montage meist sehr subtil an. So spickt er etwa seinen Doktor Faustus mit musikwissenschaftlichen Abhandlungen Adornos oder lässt im Zauberberg deutsches Liedgut einfließen. Bei Joyce hingegen, dessen Ulysses diesbezüglich Döblins Berlin Alexanderplatz nahesteht, wird die Montage wesentlich offenkundiger verwandt und erzielt somit den von der Avantgarde häufig erwünschten Verfremdungseffekt. In dem Kapitel „Oxen of the Sun“ schildert Joyce die Niederkunft Mina Purefoys und die Geburt ihres Kindes, indem er die Entwicklung der englischen Sprache stilistisch nachvollzieht, dadurch dass er die Stile verschiedener britischer Texte aufgreift und aneinander „montiert“. Dies wiederum überträgt er teils auf die Kapitel des Ulysses, etwa wenn er die Proteus-Episode in der Zeitungsredaktion ganz im Stile einer Zeitung, unterteilt in Überschriften und Rubriken, schildert. Zudem lässt Joyce sein Wissen über die irische sowie zahlreiche europäische Sprachen einfließen als auch seine Kenntnisse des Liedgutes. Er belässt es jedoch nicht bei dieser formalen Montage, sondern widmet sich auch der „inhaltlichen“ Montage der verschiedenen Bewusstseinsebenen. Ein Beispiel stellt das Kapitel „Wandering Rocks“ dar, in dem Joyce in 19 kurzen Episoden eine Stunde des Tages der übrigen Bürger Dublins schildert, die ihren Geschäften oder Vergnügungen nachgehen, deren Wege und Gedanken sich kreuzen und deren Einzelexistenzen, trotz vieler Divergenzen, das rege Treiben der Dubliner Gesellschaft als vielseitige Einheit darstellen. Ähnlich handhabt Joyce diese inhaltliche Form der Montage in der „Circe“-Episode, wo der Fokus nicht mehr auf den „Statisten“ des Ulysses ruht, sondern auf den Protagonisten Bloom und Stephen. Joyce führt uns die Seelenlandschaft beider Figuren vor, wobei er teils verstörende Brüche und Verschiebungen erzeugt. Trotz dieser verfremdenden Effekte des Kapitels, belegt die gedankliche Annäherung Blooms und Stephens und ihr gemeinsames Erscheinen im Spiegel des Bordells eine Symbiose der Protagonisten, eine Möglichkeit der Versöhnung und Verschmelzung verschiedener Persönlichkeiten sowie eine Zusammenführung von Vater und Sohn.

Vgl. auch Lilian R. Furst. „Thomas Mann's Interest in James Joyce“ S.612.

520

298

4.17 Der Mythos und die Geschichtsauffassung Wie Schmidt-Schütz ausführt, stellen „mythisierendes Erzählen und erzählter Mythos“ ein bedeutsames Verbindungsglied zwischen Thomas Mann und James Joyce dar.521 Bei beiden Autoren fällt auf, dass sie dabei aus verschiedenen mythologischen Quellen schöpfend eine Synthese dieser Quellen erzeugen, einen literarischen Synkretismus. Bei Thomas Mann etwa finden sich Einflüsse der ägyptischen und der griechischen Mythologie sowie auch aus der Bibel. Die Figurenvielfalt reicht von Thot über Hermes und Dionysos bis hin zu Joseph oder Elizier. Auch bei Joyce ist diese Vielheit der mythologischen Quellen zu beobachten, wenn er Daidalos, Hermes, Thot, Odysseus und Hamlet in seinen Ulysses aufnimmt, um deren Schicksal mit dem der Hauptfiguren zu verbinden.522 Wie Kiremidjian überzeugend ausführt, dient diese Vielfalt der mythologischen Quellen der Schöpfung eines neuen Mythos, des Mono-Mythos: „Mann, as Joyce, creates out of diverse mythical materials the 'monomyth'. That all myths are one myth, all lives one life.“ 523 Es handelt sich folglich nicht etwa um die Auflösung des Mythos, um dessen Überwindung oder gänzliche Aufhebung, sondern im Gegenteil um eine Intensivierung desselben, welche nahelegt, dass alle Mythen letztlich ein einziger Mythos sind, der die Menschheit und den Kosmos in seiner Ganzheit einschließt.524 Diese Ganzheit löst auch den in beiden Werken stetig thematisierten Konflikt der miteinander konkurrierenden Gegensätze auf, den Konflikt zwischen Körper und Geist, Bürgertum und Kunst, Leben und Tod. Er versöhnt die Gegensätze, die inneren wie die äußeren, jene des Mikro- wie auch des Makrokosmos miteinander und zeigt somit die Möglichkeit eines friedlichen und glücklichen Zusammenlebens im Europa des 20. Jahrhunderts auf. Auch Hermann Broch beschreibt die Darstellung der Totalität alles Seienden als zentrales Merkmal eines mythologischen Textes: „Mythos aber (…) umfaßt die Totalität der menschlichen Wesenheit und muß daher zu deren Spiegelung und Bewahrheitung nach Welttotalität verlangen, also nach einem Weltbild, das ebensowohl mythisch wie logisch-kausal eine so total umfassende Ordnung enthält, daß es kosmogonisch die «Schöpfung» darstellt, ja selber Schöpfung ist.“525 Zu dieser Totalität der dargestellten Welt zählt auch die Synthese der verschiedenen Zeitformen, „denn erst in der Vereinigung von Vergangenheit und Zukunft wird der Einheitsraum immerwährender Eva Schmidt-Schütz. Thomas Mann Studien 28. Doktor Faustus zwischen Tradition und Moderne. Klostermann Verlag. Frankfurt a.M. 2003. S.80. 522 Vgl. hierzu auch Dayton Kohler. „Time in the Modern Novel“ In: College English 10. 1948. S.15-24. 523 David Kiremidjian. A Study of Modern Parody. S.198. 524 Vgl. Stephen Heath. „Ambiviolences: Notes for reading Joyce“ In: Derek Attridge; Daniel Ferrer (Hrsg.). PostStructuralist Joyce. Essays from the French. Cambridge University Press. Cambridge. 1984. S.46. 525 Hermann Broch. „Die mythische Erbschaft der Dichtung“ S.240. 521

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Gegenwart geschaffen, nach dem die Seele sich sehnt und in den sie eingehen will, weil in ihm das Zeitlose und daher sie selbst ruht.“526 Dieses Ineinandergreifen der verschiedenen Zeiten, ja die regelrechte Aufhebung der Zeit wird sowohl bei Mann als auch bei Joyce überdeutlich hervorgehoben. Hierbei berücksichtigen sie die Vergangenheit und damit auch die literarische Tradition als Schlüssel des Verständnisses für die Gegenwart.527 Schon im Tod in Venedig scheint Gustav Aschenbach mit der Hinwendung zu Leidenschaft und Rausch jeden Sinn für die „ordnende“ Zeit zu verlieren und lebt in einem ewigen nunc stans. Im Zauberberg erfährt dieses Motiv dann eine nochmalige Vertiefung, wenn Hans Castorp innerhalb kürzester Zeit feststellen muss, dass auf dem Berghof eigentlich gar keine Zeit herrscht, dass die Zeit überhaupt eine äußerst subjektive Einheit ist, die einem kurz oder lang werden kann, je nach den Umständen. Bei Joyce wiederum wird das Thema vor allem in „Circe“ akut, wo die Zeit aufgehoben zu sein scheint und Stephen am Ende der Episode den Kronleuchter des Bordells mit einem Schrei der Befreiung zerschlägt, was sowohl eine Aufhebung des Raumes als auch eine Aufhebung der Zeit zur Folge hat: „Time's livid final flame leaps and, in the following darkness, ruin of all space, shattered glass and toppling masonry.“ (U, 542). Das Aufzeigen der Subjektivität zeitlicher Abläufe resultiert in einer Art Kritik an der Geschichtsvorstellung als einem rein chronologischen Prozess.528 Mit der Verbindung von Mythos und Zeit, von mythologischem Schicksal und Menschheitsgeschichte, erhält die Geschichte selber einen mythischen und einen fatalen Charakter. Besonders deutlich wird dies im Doktor Faustus, wo die tragische Geschichte der Höllenfahrt deutscher Nation am Beispiel eines individuellen Künstlerschicksals erzählt wird und nicht anhand von Episoden oder Geschehnissen, welche unweigerlich zum Holocaust und zum Zweiten Weltkrieg führen mussten. Auch

Richard

Ellmann

erkennt

diese

mythische,

auch

unbewusste Komponente der

Menschheitsgeschichte an: Though history itself has produced the increasingly rational, disinherited mind of modern man, history may also be invoked as a non-rational, mythical memory, a man-made record of men's intuitive conceptions of themselves (…) Myths are public and communicable, but they express subliminal mental patterns that come close to the compulsive drives of the unconscious.529

Im Gegensatz zu Mr Deasy oder dem Engländer Haines glaubt auch Stephan Dedalus nicht an eine lineare und impersonelle Vorstellung der Geschichte. Im Gespräch mit Haines wird deutlich, dass Ebd. S.243. Vgl. T.S. Eliot. „Tradition and the Individual Talent“ In: Ebd. Selected Essays. 2. überarbeitete Auflage. Faber & Faber. London. 1949. S.14. 528 Vgl. hierzu auch Stephen Heath. „Ambiviolences: Notes for reading Joyce“ S.46. 529 Richard Ellmann. The Modern Tradition. Backgrounds of Modern Literature. Oxford University Press. New York. 1965. S.612. 526 527

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Geschichte für ihn, im Gegenteil, persönlich und subjektiv zu verstehen ist. Stephen denkt gewiss auch an seine eigene „history“, seine Vergangenheit, die er zu bewältigen versucht. Dies gilt sowohl in Bezug auf seine ärmliche Herkunft, die ihm eine düstere Zukunft verheißt, als auch auf seine jesuitische Erziehung, welche ihn nicht loszulassen scheint. Zudem leidet er unter Gewissensbissen, da er sich dem Wunsch seiner sterbenden Mutter widersetzt hat, für sie zu beten. Mit der Aussage „History is to blame“ versucht Haines die Ungerechtigkeiten zu entschuldigen, welche England im Laufe der Jahrhunderte gegenüber Irland begangen hat. Er spricht sich von jeglicher Schuld frei. Stephen aber nimmt Geschichte durchaus auch persönlich und sieht Haines nicht nur als Individuum, sondern auch als Vertreter der englischen Übermacht und Vorherrschaft, die Irland häufig als ihren Knecht behandelt hat. Im Gespräch mit dem Schulleiter Mr Deasy vergleicht Stephen die Geschichte darüber hinaus mit einem „nightmare from which I am trying to awake“. Auch hier wird deutlich, dass Stephen die Geschichte sehr persönlich und auf sich bezogen wahrnimmt, da sie sein Leben bestimmt und ihn in seinen Freiheiten beschneidet. Sowohl Staat als auch Kirche haben sein Leben von klein auf geprägt und er vermag es kaum, sich von diesen Einflüssen zu befreien. Zudem legt der Alptraum jedoch nahe, dass die Geschichte eben nicht linear oder logisch sei. Vielmehr erscheint die europäische Geschichte Stephen als sinnloses Blutvergießen, als eine chaotische Aneinanderreihung von Gewalt und Unrecht. Darüber hinaus verweist die Traummetapher auf eine Wiederholbarkeit der Geschichte und damit ihren zyklischen Charakter. Ebenso wie ein Alptraum ereilt sie Stephen stetig aufs Neue, die Vergangenheit hat ihn fest im Griff. Wenn Mann und Joyce der Geschichte ihrer Nationen und damit auch Europas mithilfe des Mythos Gestalt verleihen, dann fungieren sie als „Gedächtnis der Moderne“ und schlagen Brücken zwischen den Völkern.530

dies umso mehr, als nicht die Geschichte, sondern der Mythos als

Identitätsmerkmal der europäischen Nationen verstanden wird. Da die Mythen aller Völker aber letztlich ähnlich agieren, im Sinne des zuvor beschriebenen Monomythos, kann auch Europa als eine Einheit aufgefasst werden, die einem gemeinsamen, mythischen Ursprung entstammt. Diese Kritik beider Autoren an der „objektiven“, logisch fassbaren Wahrnehmung von Zeit und Geschichte geht Hand in Hand mit der häufig in ihren Werken dargestellten zyklischen Geschichtsvorstellung, der Wiederkehr des ewig Gleichen, der Einerleiheit der Zeit, wie sie im Zauberberg beschrieben wird und welches schon durch die Taufschale, die Hans Castorp zu Anfang des Romans so sehr bewundert, verdeutlicht wird. Diese Schale schwebte schon über dem Kopf Vgl. Jan Assmann. „Zitathaftes Leben. Thomas Mann und die Phänomenologie der kulturellen Erinnerung“ In: Thomas Mann Jahrbuch 6. 1993. S.155. 530

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seines Vaters, seines Großvaters, seines Urgroßvaters und so fort, bis hinauf in die siebte Generation. Dem jungen Hans wird bei dieser Vorstellung ganz schwindlig und träumerisch zu Mute und er fühlt, wie er in den Spuren seiner Ahnen wandelt. Diese zyklische Zeitvorstellung der ewigen Wiederkehr findet sich auch in den Romanen Joyces, zum einen in der Person Stephen Dedalus', dem fiktionalen Nachfolger seines mythologischen Vorbilds Daidalos, zudem aber auch in Form der Metempsychose, der Seelenwanderung, über die Bloom mehrfach sinniert. Dass Mythos und Geschichtsschreibung durchaus vereinbar, ja verwandt miteinander sind, stellt auch Broch fest, wenn er den Mythos als Urahn der Geschichtsschreibung sowie des historischen Romans bezeichnet.531 Daher ist es nicht weiter verwunderlich, dass Thomas Mann und James Joyce den Mythos anwenden, um Zeitgeschichte, aber auch persönliches Schicksal darzustellen. Broch bezeichnet das 20. Jahrhundert sogar als mythisches Zeitalter, da die moderne Literatur wie auch die Musik und die Kunst auf den klassischen Mythos rekurrieren, um die Gegenwart zu erklären und ihr Sinn zu verleihen. Sowohl die Figuren Thomas Manns als auch die James Joyces evozieren diese zyklische Geschichtsvorstellung, da sie die Vergangenheit, die „gute alte Zeit“ mythisieren und idealisieren. Stephen Dedalus etwa hegt eine Vorliebe für die griechische Antike und figuriert sich unter anderem als Daidalos und als Thot. Auch die Festgesellschaft in „The Dead“ schwelgt in der Vergangenheit, als Dublin noch eine Kulturhauptstadt war und zahlreiche Tenöre von Weltrang in ihr auftraten. Diese Idealisierung der Vergangenheit lässt sich unter anderem auf die Egozentrik und Eitelkeit der Figuren zurückführen, allerdings auch auf die Bedeutung und Größe, welche vergangenen, vermeintlich besseren Zeiten häufig zugeschrieben wird. Ähnlich steht es um Hans Castorp, der mit seinem Leben nichts Rechtes anzufangen weiß und daher ehrerbietig zu seinem verstorbenen Urgroßvater aufblickt, einem Hamburger Original und Repräsentanten des Großbürgertums. Die Idealisierung der Vergangenheit jedoch verfolgt nicht nur die Figuren Thomas Manns und James Joyces, sondern auch die Autoren selber, wenn sie sich mit der literarischen Tradition eingehend auseinandersetzen und diese in gewisser Hinsicht zu überwinden versuchen. Sie dient somit als Quelle der Inspiration und der Identifikation, aber sie bedeutet auch eine Bürde, die es mit sich zu tragen gilt. Wie Assmann ausführt, erzählt der Mythos in der Regel von Gründungen, jeder Mythos ist im Kern folglich ein Gründungsmythos, lebt aber vor allem in der Wiederholung, welche er geradezu zelebriert.532 Bei Thomas Mann und James Joyce aber dient er auch als Gedächtnis der Moderne, als Hermann Broch. „Die mythische Erbschaft der Dichtung“ S.239. Jan Assmann. „Zitathaftes Leben. Thomas Mann und die Phänomenologie der kulturellen Erinnerung“ S.139.

531 532

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das, was die Moderne erinnert und für wichtig anerkennt, aber auch als Gedächtnis in dem Sinne, dass sie zukünftigen Lesern die Epoche näher bringt und verständlich macht. Darüber hinaus dient der Mythos beiden Autoren der Überwindung von Grenzen, nicht zuletzt durch die Synthese verschiedener Mythologien, aber auch durch die Synthese von vermeintlichen Gegensätzen. Der Mythos im Werke Manns wie auch im Werke Joyces verbindet die Vergangenheit mit der Zukunft, er verbindet aber auch die europäischen Leser und im Idealfall ganze Nationen dadurch miteinander, dass er diese portraitiert und verständlich zu machen sucht. Dabei deuten Thomas Mann und James Joyce den Mythos allerdings in ihrem Sinne um. Sie vermenschlichen ihn, da sie den einfachen, mittelmäßigen Menschen, man denke an Hans Castorp und Leopold Bloom, ins Zentrum ihrer Romane stellen und somit die Alltäglichkeit und Einfachheit des täglichen Lebens zelebrieren: „Mann's method is akin to that of Joyce: placing the heroic and the contemporary in an ambiguous juxtaposition marked more by ironic interplay than by satirical undermining.“533 Auch Abrams betont die Tendenz moderner Autoren, triviale Objekte oder Begebenheiten zu thematisieren und deren „charismatic virtue“ zu betonen. 534 Umberto Eco spricht gar von einer Poetik, welche sich die Darstellung der Alltagsmenschlichkeit zum Ziel gesetzt habe.535 Eine Ausnahme stellen hier sicherlich Adrian Leverkühn und Stephen Dedalus dar, welche als Künstler und Außenseiter zu betrachten sind, die sich eben nicht durch Gewöhnlichkeit auszeichnen, sondern dadurch, dass sie exzeptionell, ja geradezu genial sind. Aber auch in ihrem Fall lässt sich getrost von Anti-Helden sprechen, welche die dem klassischen Mythos zugehörigen Helden ablösen und diesen dadurch entwerten, entmythisieren und humanisieren. Nicht mehr der Gott, der Heroe, der Held steht im Mittelpunkt der Romanwelt, sondern der Anti-Held, der Scheiternde, der Leidende, der eben durch die Erfahrung des Todes das Leben gewinnt. Dies entspricht auch der Deutung, welche Horkheimer und Adorno in Bezug auf die Odyssee vornehmen, denn „Odysseus, wie die Helden aller eigentlichen Romane nach ihm, wirft sich weg gleichsam, um sich zu gewinnen; die Entfremdung von der Natur, die er leistet, vollzieht sich in der Preisgabe an die Natur.“536 Der Mythos sei daher immer schon Aufklärung. Wie uns der Nationalsozialismus allerdings lehre, schlage die Aufklärung ebenfalls in den Mythos zurück 537 und

Robert B. Heilmann. „Variations on the Picaresque“ In: Sewanee Review 66. 1958. S.559. M.H. Abrams. Natural Supernaturalism. Tradition and Revolution in Romantic Literature. Oxford University Press. London. 1971. S.418f. 535 Umberto Eco. Opera aperta. I satelliti bompiani. Mailand. 1962. 536 Theodor W. Adorno; Max Horkheimer. Dialektik der Aufklärung. S.65f. 537 Ebd. S.16. 533 534

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die „Vernunft“, welche die Gesellschaft erlangt habe, in Barbarei.538 Der Pessimismus des Textes ist vor allem der Entstehungszeit geschuldet, da Horkheimer und Adorno ihre Philosophischen Fragmente Anfang der 1940er Jahre im amerikanischen Exil verfassten und aus der Ferne die Barbarei des Nationalsozialismus und den Niedergang Deutschlands mit ansehen mussten. In den Werken Manns und Joyces wird die Barbarei zwar thematisiert, gewinnt aber nicht das Vorrecht über die Hoffnung auf Humanität. Dies erklärt sich im Falle des Zauberberg (1924) und des Ulysses (1922) auch daraus, dass das Ende des Ersten Weltkrieges die Hoffnung auf ein friedliches Zusammenleben der Völker genährt hat. Auch wenn sich diese Hoffnung einige Jahre später wieder zerschlagen hat, so schwindet sie doch nie ganz, wie der Doktor Faustus, der in etwa zeitgleich mit der Dialektik der Aufklärung, im Jahre 1943, verfasst wurde, zeigt. Folgt man der Auffassung Hans Blumenbergs, so übernimmt der Mythos vor allem die Funktion, den „Absolutismus der Wirklichkeit“ durch Distanzierung desselben erträglich zu machen. Noch vor den (nicht mehr erkennbaren) Anfängen des Mythos, spürte der Mensch eine Allmacht oder Übermacht, welche er durch den Mythos zu erklären und zu distanzieren versuchte. Der Mythos ebenso wie die mit ihm verbundene Metapher machen ihm die Wirklichkeit greifbarer und erträglicher, sodass ihnen eine entlastende Funktion zugesprochen werden kann. In dem Standardwerk Arbeit am Mythos geht Blumenberg zudem näher auf Joyces Ulysses ein, von dem er behauptet, dass er dem Bezugswerk, der homerischen Odyssee, regelrecht entgegengesetzt sei: „Das Episodenepos ist ein Monument des Widerspruches gegen alles, was von seinem Namengeber hergekommen war.“539 Blumenberg liest den Ulysses ironisch, ja geradezu nihilistisch, da dieser die „Beliebigkeit des einen Tages“ die „Bedeutsamkeit zum Rätsel“ macht: „Die Odyssee der Trivialität, die Leopold Bloom in dem einen Tage zurücklegt, widerlegt am Ende noch die Kreisschlüssigkeit als Sinnfigur.“ Die Heimkehr Blooms sei belanglos und gleichgültig, und dass Molly Bloom schon über die Möglichkeit des Beischlafs mit Stephen nachdenke, verweigere den Sinn, welchen Bloom mit seiner Sohnsuche dem Werk zu geben sich bemühe. 540 Bei Joyce verliere der Mythos folglich an Bedeutung. Es komme zu einer Umdeutung des Mythos, in dem Sinne, dass Joyce sich selber als Autor mythisiere und schöpferische, gottgleiche Züge annehme. Dieser Theorie hängt nicht nur Blumenberg an. Joyce selber stützt diese Annahme durch seine Aussage, dass sein Werk die Kritiker noch lange umtreiben werde. Magalaner bezeichnet seine Werke als die Mythen unserer Zeit, welche das Verhältnis des Mythos und der Religion zur Geschichte sowie zur Moderne erforschen.541 Vgl. ebd. S.11. Hans Blumenberg. Arbeit am Mythos. S.91. 540 Vgl. ebd. S.92ff. 541 Marvin Magalaner; Richard Kain. Joyce – The Man, The Work, The Reputation. New York University Press. New York. 1956. S.13. 538 539

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Der Mythos im Werke Joyces, so fährt Blumenberg in seinen Überlegungen fort, beziehe sich lediglich auf die Struktur, womit er sich von dem zyklischen Schema löse und sich eines spiralförmigen Schemas bediene, wie dies auch Giambattista Vico schon getan habe. Es ist zuzugeben, dass Joyce häufig Bezug auf die Geschichtsvorstellung Vicos nimmt, jene aber beschreibt eine zyklische Bewegung, einen Kreisschluss und keine ins Leere laufende Spirale. In der Scienza Nuova beschreibt er die Rückkehr der ewig gleichen Zeitalter, dem der Götter, der Heroen und der Menschen, welches letztlich wieder in das Zeitalter der Götter umschlägt. 542 In seiner Arbeit wendet sich Blumenberg auch dem Werk Thomas Manns zu, dessen Joseph für ihn die „Unergründlichkeit der Zeit“ darstellt und damit auch die „Unheimlichkeit und Gleichwertigkeit jedes Augenblickes gegenüber allen anderen.“ Blumenberg deutet dieses Verständnis von Geschichte als „Geschichtslosigkeit“, in welcher gestern und heute, oben und unten, Zeit und Raum eine Aufhebung erfahren. In dieser „Geschichtslosigkeit liegt die Chance aller Remythisierungen. In den leeren Raum lassen sich mythische Wendemarken am leichtesten projezieren. (…) Der Sinn für Geschichte ist zwar noch nicht Entschlossenheit für eine bestimmte Zukunft; aber es gibt überhaupt keine andere Sensibilisierung für eine Zukunft als die Einsicht in die Einzigkeit und Unwiederbringlichkeit des Vergangenen.“ 543 Blumenberg offenbart sich hier als Gegner der zyklischen Geschichtsauffassung, welche sowohl Joyce als auch Mann in ihren Werken darzustellen scheinen. Wie bei näherer Betrachtung jedoch deutlich wird, sind es vornehmlich die Figuren selber, welche jener Vorstellung der zyklischen Wiederkehr anhängen. Insbesondere Hans Castorp glaubt in den Spuren seiner Vorfahren zu wandern und sieht auch Clawdia als Reinkarnation von Pribislav Hippe, seiner Jugendliebe. Der Berghof jedoch stellt das Schattenreich des Zauberberg dar und dementsprechend gilt es diesem Schattenreich und der zyklischen Vorstellung, die mit ihm zusammenhängt, zu entkommen. Nach sieben Jahren, anlässlich des „Donnerschlags“ des Ersten Weltkrieges, „erwacht“ Hans Castorp und bricht auf in die wirkliche, die tatsächliche, die vom Krieg grauenhaft gezeichnete Welt, welche aber Hoffnung auf eine menschlichere Zukunft birgt. In Stephens Falle wird es weniger deutlich, ob er sich von seiner mythischen Vergangenheit zu lösen und somit dem Teufelskreis zu entkommen vermag. Doch Leopold Bloom, auf dessen Person der Fokus des Ulysses liegt, versinnbildlicht den Fortschritt der Menschheit und damit auch die Unwiederbringlichkeit des Vergangenen, die Linearität und Teleologie der Geschichte. Wie T.S. Eliot in seinem wegweisenden Aufsatz „Ulysses, Order, and Myth“ betont, dient der Mythos Joyce auch als strukturierendes Element, welches der Vielfalt an Sinneseindrücken, die die Vgl. Giovanni Battista Vico. La scienza nuova. Laterza. Bari. 1928. Hans Blumenberg. Arbeit am Mythos. S.112f.

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Moderne für uns bereit hält, eine Ordnung und einen Sinn zu geben vermag: „In using the myth, in manipulating a continuous parallel between contemporaneity and antiquity, Mr Joyce is pursuing a method which others must pursue after him (…) a way of controlling, of ordering, of giving shape and a significance to the immense panorama of futility and anarchy which is contemporary history.“544 Eliot betont, dass Joyce in seinem Umgang mit dem Mythos auch die Ethnologie sowie die Psychologie miteinbeziehe und somit der Kunst einen neuen Zugang zur modernen Welt schaffe. Auch Mann scheint den Mythos vor allem als strukturierendes Element zu nutzen, etwa wenn er im Tod in Venedig den Stil der homerischen Epen parodiert. Doch weder Thomas Mann noch James Joyce verwenden den Mythos lediglich als Form gebendes Strukturelement, sondern schreiben ihm durch den Synkretismus verschiedener mythologischer Quellen und die Umdeutung zu einem Mythos des Lebens und der Kunst ein sinnstiftendes Moment zu. Dass die Einbeziehung der Psychologie sowie die Darstellung des Unbewussten dabei auch für Thomas Mann von tragender Bedeutung ist, legt er vor allem in „Freud und die Zukunft“ dar. Dort beschreibt er den Mythos als „Lebensgründung“, als „das zeitlose Schema, die fromme Formel, in die das Leben eingeht, indem es aus dem Unbewussten seine Züge reproduziert.“ 545 Seine Zuversicht für die Wirksamkeit dieser Formel betont er vor allem zu Ende der Festrede: „In dem Spiel der Psychologie auf dem Mythos (…) liegen Keime frei und Elemente eines neuen Menschheitsgefühls und einer kommenden Humanität“, die ihn sogar auf „das Volk einer angst- und haßbefreiten, zum Frieden gereiften Zukunft“ hoffen lässt.546 Zudem ist der Mythos eng mit dem Ritus verknüpft, da dieser ihm als Ausdruck und als Manifestation gilt. Bleibt der Mythos abstrakt und schwer greifbar, so verhilft der Ritus ihm zu diesseitiger Ausdrucksform. Insbesondere Mann ist sich der Bedeutung des Ritus bewusst und integriert diesen in sein Werk. Im Falle des Unterweltbesuchs handelt es sich nicht zuletzt um eine Art Initiationsritus, um eine Steigerung des Helden, eine Reifung und um den Übertritt in einen neuen Lebensabschnitt. Diese bei Mann und Joyce eher in Ansätzen nachvollziehbare Entwicklung der „Helden“ legt die Frage nahe, ob es sich bei dem Zauberberg und bei dem Ulysses um Bildungsromane handelt. Diese Annahme wird durch manchen Umstand gestützt, etwa wenn man bedenkt, dass Hans Castorp sich im Laufe des Romans durchaus selber bildet und sich östlichen wie westlichen Einflüssen ergibt, an deren Beispiel er die philosophischen Strömungen seiner Zeit kennenlernt. Auch Stephen ist ein Musterbeispiel des Humboldtschen Bildungsideals, da er T.S. Eliot. „Ulysses, Order, and Myth“. S.201. Thomas Mann. „Freud und die Zukunft“. S.30. 546 Vgl. ebd. S.40. 544 545

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autonome Studien betreibt, ohne viel auf andere Meinungen zu geben. Er tritt selbstbewusster auf als Hans Castorp, der zunächst die verschiedenen Positionen zu verstehen sucht, ehe er zu einer eigenen, durchaus vermittelnden Position findet. Besonders der Ausgang der Romane jedoch lässt daran zweifeln, ob es sich bei dem Zauberberg und bei dem Ulysses um sogenannte Bildungsromane handelt. Hans Castorp findet zwar zurück in die Welt des Flachlandes und fügt sich in das Schicksal des treuen Soldaten, jedoch pervertiert die kriegerische Laufbahn, die er einzuschlagen gezwungen ist, geradezu die Idee des sich mit der Welt versöhnenden Bildungsreisenden, dessen Zukunft in der Regel glücklich und sozial gesichert ist. Ebenso ungewiss ist das Schicksal des jungen Stephen. Sein schon am Morgen gefasster Entschluss, nicht in den Martello Tower zurückzukehren und sich eine neue Bleibe zu suchen, erscheint löblich. Jedoch wirkt es gerade vor diesem Hintergrund rätselhaft, dass er Blooms Angebot ablehnt, in der Eccles Street zu übernachten. Der kritische Leser vermutet, dass Stephen keine große Entwicklung vollzogen haben kann, da er zu eigenständig und zu stolz ist, die Hilfe anderer anzunehmen oder sich ihre Vorstellung der Welt zu eigen zu machen. Möglicherweise bleibt Stephen der Einzelgänger und Außenseiter, der er schon zu Beginn des Romans, schon im Portrait, war. Es bleibt fraglich, ob er sich in die Gesellschaft einzufügen vermag, das aber würde seiner wahren Berufung, dem Künstlertum, entsprechen. Der Künstler nämlich steht zumeist außerhalb der Gesellschaft, um diese „objektiv“ und unvermittelt portraitieren zu können. Dadurch dass Thomas Mann und James Joyce den Mythos umdeuten und ihm ein neues Gesicht geben, gründen sie einen neuen, der Moderne entsprechenden, Mythos. Mann hegte im Falle des Doktor Faustus sogar Befürchtungen, ob er nicht einen neuen „völkischen“ Mythos kreieren helfe. Genau das Gegenteil nämlich war seine Intention. Insbesondere mit seiner Faust-Adaption wollte er den „völkischen“, deutschen Mythos, welcher von den Nationalsozialisten propagiert wurde, ad absurdum führen, um ihn durch einen menschlichen, humanitären Mythos zu ersetzen. Auch Joyce macht mit seiner Kritik an dem irischen Kleinbürgertum und der ihm eigentümlichen Bigotterie deutlich, dass der Mensch aus dem Bannkreis des Nationalstaates heraustreten muss, dass er europäisch, letztlich auch global, werden muss, um das gemeinsame Ziel einer neuen Humanität zu erreichen. Dem nationalen Mythos, etwa dem Gründungsmythos eines Volkes oder Staates, wie ihn die Aeneis vorstellt, stellen die beiden Autoren einen übernationalen und transnationalen Mythos gegenüber, welcher die Divergenzen zwischen den Völkern überbrücken und die Nationen Europas einen soll.

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Schlußbetrachtung Die Höllenmotivik in den Werken Manns und Joyces entstammt sowohl christlicher als auch heidnischer Provenienz. Die christliche Strafhölle ebenso wie die Idee des antiken Hades sowie des römischen Orkus, unterteilt in Tartaros und Elysium, werden aufgenommen. Der homerische Hades wird häufig als Schattenreich aufgefasst, in welchem die Toten ein freudloses Dasein fristen. Wie in der Einleitung bereits dargelegt, findet sich in den Epen Homers schon eine erste Zweiteilung der Unterwelt. Auch das Moment der Strafe findet sich ansatzweise in den antiken Texten. Die Tugendhaften gehen demnach ins Elysium (auch elysische Felder; Insel der Seligen) ein, wo sie ein seliges Weiterleben erwartet. Einzig die Gottesfrevler und die Mörder müssen den Tartaros fürchten, wo Minos und Radamanth ihnen ewige Qualen aufbürden. Zu den Gemarterten zählen bekannte Figuren der griechischen und römischen Mythologie, etwa Sisyphos und Ixion. 547 Bei den Hadesreisenden Odysseus und Aeneas ist auffällig, dass beide im Jenseits eine Prophezeiung erhalten, die ihr Fortleben und ihre Weiterreise motiviert. Odysseus erfährt von Teiresias, dass er nach langjähriger Irrfahrt heimkehren wird. Aeneas trifft auf seinen Vater Anchises und darf die ihm nachfolgenden Geschlechter schauen, welche überhaupt erst durch seine Gründung der Stadt Rom ermöglicht werden. Beide Abstiege in die Unterwelt sind somit sowohl für das Leben der Helden als auch für den Fortgang der Erzählung sinnstiftend. Auch Dantes Gang durch das Inferno und Aufstieg auf den Läuterungsberg vermag dem Leben des Dichters neuen Sinn zu verleihen. Dieser nämlich befindet sich „in einem dunklen Wald“. Er ist sich des rechten (Lebens-)Weges nicht bewusst und bedarf daher der Führung und der Anleitung durch Vergil, welcher ihm nicht nur die Verfehlungen der im Inferno schmorenden Sünder aufzeigt, und somit instruiert, wie er nicht zu leben habe, sondern ihn darüber hinaus seiner Angebeteten Beatrice übergibt, die ihm die Anschauung Gottes ermöglicht. Alle drei Jenseitsreisenden befinden sich an einem schwierigen Punkt in ihrem Leben und bedürfen der Hilfe, des Rates, der Weissagung, um ihr Leben sinnhaft fortzuführen und dabei die richtigen Entscheidungen zu treffen. Sie benötigen geistige und moralische Mentoren, die sie anleiten und auf den richtigen Weg führen. Ähnlich verhält es sich bei den Jenseitsreisenden in den Werken Thomas Manns und James Joyces. Hans Castorp und Stephen Dedalus sind in gewisser Hinsicht elternlos und ohne Vorbild, weshalb sie sich teils mythische, teils reale Vorbilder wählen, die ihnen auf ihrem noch jungen und unbestimmten Lebensweg beistehen sollen. Sie sind auf der Suche nach geistiger Mentorschaft, im Vgl. Vergil. Aeneis. S.161.

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Gegensatz zu ihren Vorläufern ist die Suche aber nur teilweise von Erfolg gekrönt. Hans Castorp etwa wechselt seine Mentoren auf dem Berghof in regelmäßigen Abständen und bezieht seine sich mehrenden Ansichten und Kenntnisse von Behrens, Settembrini, Naphta, Chauchat und Peeperkorn. Er saugt deren (meist philosophische) Anregungen auf wie ein Schwamm, um letztlich zu seiner eigenen Wahrheit zu finden, welche die gegensätzlichen Positionen miteinander vereint. In „Schnee“ wird deutlich, dass er dieser Koinzidenz der Gegensätze unbewusst schon immer eingedenk war und dass er seine erlangte Erkenntnis auch in Zukunft im Herzen tragen wird. Dadurch dass Hans Castorp zu seiner eigenen Wahrheit findet, emanzipiert er sich von der Tradition und wird zu einem selbständigen und eigenständigen Helden, der sich über die teils radikalen Ansichten seiner ehemaligen Mentoren erhebt und zudem seinen Hang zu Romantik und Todesaffinität überwindet. Hans Castorp wird daher zu einem Freund des Lebens ebenso wie zu einem Humanisten, der sich der zentralen Position des Menschen bewusst ist. In eingeschränkter Weise gilt diese Selbstfindung und Emanzipation auch für Stephen Dedalus, der gegen die Dogmen der Kirche und (vor allem) der Konvention, welche ihm während der „retreat“ eingetrichtert wurden, rebelliert. Auch er bedient sich bei dieser Emanzipation verschiedener (geistiger) Mentoren. Sein Studium der Literatur und der Philosophie sind ihm bei der Entwicklung seines kritischen Geistes dienlich, zudem hegt er aber auch eine Affinität zu seinem mythischen Namensgeber Daidalos, dem Erfinder und Künstler, dessen Schirmherrschaft er sich erhofft. Den nächstliegendsten Mentor allerdings, der sich tatsächlich um seine Bildung und seine Zukunft sorgt, scheint Stephen als solchen nicht zu erkennen. Dabei ist Leopold Bloom geradezu für diese Mentorrolle prädestiniert. So wie Stephen eine leitende Instanz sucht, so sehnt sich Bloom, dessen Sohn Rudy kurz nach der Geburt verstorben ist, nach einem Sohn, den er anleiten kann. Auch ihre Charaktere scheinen sich in gewisser Hinsicht zu entsprechen, da Bloom überaus tolerant und weltoffen ist. Er interessiert sich für verschiedene Kulturen und Religionen, ohne diesen blind anzuhängen. Diese kulturelle und geistige Offenheit Blooms macht ihn zu einem geeigneten Mentor für Stephen. Zudem laufen die Gedankenströme beider Protagonisten im Laufe des Romans mehrere Male parallel. Ihr Geist beschäftigt sich mit ähnlichen Fragen und zeigt somit eine Wesensverwandtschaft. Stephen jedoch scheint sich dieser geistigen Verbindung nicht bewusst zu werden. Zwar lässt er sich von Bloom nach Verlassen des Rotlichtmilieus einen Kaffee ausgeben und trinkt einen Kakao in seinem Hause. Allerdings lehnt er es ab, bei Bloom zu nächtigen, obgleich er sich am Morgen geschworen hatte, nicht zu seinem derzeitigen Wohnsitz, dem Martello Tower, zurückzukehren. Es scheint, als sei Stephen zu stolz, das Angebot Blooms anzunehmen, als wolle er ein Einzelgänger bleiben, um seinen Geist frei zu entfalten. Stephen erfährt daher im Laufe der Romanhandlung eine geistige Steigerung, fraglich bleibt jedoch, ob ihm auch eine menschliche, 309

eine humane Einsicht zuteil wird. Dennoch ist der Ulysses, ebenso wie der Zauberberg oder der Doktor Faustus, ein lebensfreundliches Werk, welches eine gewisse Hoffnung auf Humanität nährt. Leopold Bloom ist der Verkünder dieser Hoffnung. Als toleranter und weltoffener Bürger Dublins verkündet er eine Botschaft, für welche die Stadt, für welche Irland zu Beginn des 20. Jahrhunderts vielleicht noch nicht bereit ist. Ebenso wie Mann hofft Joyce jedoch, dass seine Leser sein Anliegen erkennen und Europa eines Tages für eine neue Humanität einstehen wird. Trotz der zahlreichen Verweise auf die epische Tradition des Unterweltbesuchs, unterscheidet sich die Verwendung des Topos bei Thomas Mann und James Joyce von ihren literarischen und theologischen Vorläufern. So wird die Hölle nicht mehr als tatsächlich existenter und lokalisierbarer Ort gedacht, sondern in das Innere des Menschen, in sein Unbewusstes verlegt. Mit der Aufklärung, der Infragestellung der katholischen Kirche, ihrer Riten und Dogmen sowie mit der Zunahme der Industrialisierung, des Forscherdrangs und der Wissenschaften, wird der Kirche und dem Glauben an eine alles lenkende Gottheit immer weniger Vertrauen geschenkt. Es kommt zu einer „Entgötterung“, welche zwar noch nicht gänzlich im Dublin des frühen 20. Jahrhunderts angekommen sein mag, aber zumindest die intellektuellen Eliten erreicht zu haben scheint. Folglich verliert auch die traditionell gedachte Strafhölle an Bedeutung, was jedoch nicht heisst, dass die Hölle aus den Köpfen und der Literatur des 20. Jahrhunderts verschwindet. Mit der zunehmenden Bedeutung des Menschen und menschlicher Errungenschaften sowie mit der aufkommenden Psychoanalyse verlagert sich die Hölle in das Unbewusste des Menschen. Sie erfährt folglich eine Internalisierung. Wie am Beispiel von Hans Castorp, Adrian Leverkühn, Stephen Dedalus und Leopold Bloom deutlich wird, besteht die moderne Hölle aus den Ängsten des Menschen ebenso wie aus ihren Wünschen und Sehnsüchten. Sie umfasst, vor allem im Falle Blooms, die Angst vor dem Tod, im Falle Stephens gar die von den Jesuiten eingeimpfte Angst vor der traditionellen Hölle. Diese Ängste verselbständigen sich und wachsen sich teils zu regelrechten Visionen und Halluzinationen aus, welche die Sinne der Protagonisten ansprechen. Auch die psychische Hölle verfügt daher über einen durchaus realen Charakter. Der Teufel, welcher Adrian Leverkühn in Palestrina besucht, drückt dies wie folgt aus: „Du siehst mich, also bin ich dir. Lohnt es zu fragen, ob ich wirklich bin. Ist wirklich nicht, was wirkt, und Wahrheit nicht Erlebnis und Gefühl? Was dich erhöht, was dein Gefühl von Kraft und Macht und Herrschaft vermehrt, zum Teufel, das ist die Wahrheit, - und wär es unterm tugendlichen Winkel gesehen zehnmal eine Lüge.“ (DF, S.354). Auch die psychologisierte Hölle bewahrt folglich ihre Realität. 310

Neben der Angst, was nach dem Tod kommen möge, wird die Hölle der literarischen Moderne darüber hinaus über ihre Affinität zu Leidenschaft und Sexualität definiert. Hans Castorp etwa verliebt sich im Zauberberg in Clawdia Chauchat, welche seine Träume und Visionen bestimmt und die als moderne Persephone gelten kann, da sie Hans Castorp sieben Jahre lang auf dem Berghof ausharren lässt. Überhaupt geht es in der Schattenwelt des Kurortes recht „liederlich“ zu, da „geheime“ tête-à-têtes an der Tagesordnung sind. Wie sehr die Hölle der Moderne aber mit den sublimierten sexuellen Wünschen zusammenhängt, wird besonders am Beispiel Leopold Blooms deutlich, da „Circe“ seine geheimen Fetische und Leidenschaften en detail offenbart. Psychoanalytisch gesprochen verdeutlicht „Circe“, ebenso wie etwa die Visionen Gustav Aschenbachs oder Hans Castorps, die Triebe der Libido, das Unbewusste, das „Es“. Dies ist auch einer der Gründe, warum der Abstieg in die moderne Unterwelt häufig im Rahmen eines Traumes oder einer Vision stattfindet. Andererseits knüpft dieser erzählerische Rahmen auch an die Tradition literarischer Jenseitsfahrten, wie etwa Ciceros Somnium Scipionis, an. Das Mittel des Traumes legt somit zum einen das Unbewusste der Protagonisten frei, ihre Ängste und Wünsche, zum anderen evoziert es ein geradezu prophetisches Moment, welches von einer möglichen Zukunft kündet. Auch fällt bei beiden Autoren auf, dass sie die Totalität allen Seins aufzuzeigen suchen. Besonders deutlich wird dies wiederum in dem „Circe“-Kapitel, in welchem Joyce eine Brücke schlägt zwischen Traum und Realität, Mann und Frau, Körper und Geist, Himmel und Hölle. Ähnlich allumfassend ist der „Schnee“-Traum Castorps, welcher sowohl das friedliche Zusammenleben der „Sonnenleute“ als auch das dionysische Blutmahl im Tempel schildert, auf dem diese Hochkultur fusst. Beide Kapitel verdeutlichen, dass die Koinzidenz der Gegensätze nicht nur möglich, sondern für ein friedliches und tolerantes Zusammenleben, für eine wahre europäische Hochkultur, notwendig ist. Um dies zu veranschaulichen bedienen sich beide Autoren des klassischen Mythos, zum einen als Strukturmerkmal, darüber hinaus aber auch als sinnstiftendes Element. Durch die Vermischung verschiedener mythologischer Quellen erreichen sie einen Synkretismus des Mythos überhaupt. In den modernen „Mythen“ Thomas Manns und James Joyce steht nicht mehr die Götter- bzw. die Heroenwelt im Fokus, sondern der Mensch. Im Falle Leopold Blooms und Hans Castorps handelt es sich um „mittelmäßige“ und einfache Naturen, womit die Autoren das Alltägliche und „Normale“ thematisieren. Neben diesen einfachen, aber der Steigerung fähigen Figuren, zeichnen sie aber auch die Außenseiter und Künstler, welche außerhalb der Gesellschaft stehen, in ihren Werken nach. Auch diese, insbesondere Adrian Leverkühn, bemühen sich, die „Puppe zu sprengen“ und zur Welt, zum Leben und damit auch zu ihren Mitmenschen durchzubrechen. Ziel ihrer Bemühungen und 311

ihres Strebens ist folglich der Durchbruch zu einer neuen Humanität, derer Europa zu Zeiten der Weltkriege dringend bedarf.

312

Abkürzungsverzeichnis:

D:

James Joyce. Dubliners.

DB:

Thomas Mann. Die Betrogene.

DF:

Thomas Mann. Doktor Faustus.

MZ:

Thomas Mann. Mario und der Zauberer.

P:

James Joyce. A Portrait of the Artist as a Young Man.

TiV:

Thomas Mann. Der Tod in Venedig.

U:

James Joyce. Ulysses.

WB:

Thomas Mann. Wälsungenblut.

ZB:

Thomas Mann. Der Zauberberg.

.

313

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